Die 31-Jährige ist seit diesem Zeitpunkt komplett querschnittsgelähmt, der Rollstuhl ihr ständiger Begleiter. Es kam jedoch nicht in Frage, aufgrund der Behinderung den Sport aufzugeben.
Sie kämpfte sich vom Krankenhaus, über die Reha bis auf das Treppchen der Paralympics in Peking. Als doppelte Silbermedaillen-Gewinnerin über 500m Zeitfahren und 3000m Einzelverfolgung im Bahnradfahren.
SPOX sprach mit der Augsburgerin über Ihre Biografie, das Attentat, den Hass auf den Täter und über ihre persönliche Auseinandersetzung mit den Teppichkanten.
SPOX: Frau Simanowski, Ihr Leben gleicht einer Achterbahnfahrt: einige Höhen, aber auch viele, viele Rückschläge. Wo steht Ihr Wagon derzeit?
Natalie Simanowski: Mir geht es blendend, zumindest privat. So relaxt und gelassen wie jetzt war ich die letzten sieben oder acht Jahre nicht. Sportlich gesehen steht der Wagon allerdings ganz unten. Ich habe seit einiger Zeit eine Spastik in meinen Beinen, die mich so stark hemmt, dass ich kaum noch gehen kann. Ob ich jemals wieder auf ein Fahrrad steigen kann, kann man aktuell noch gar nicht sagen.
SPOX: Die Paralympics 2012 in London sind für Sie also in weite Ferne gerückt?
Simanowski: An London 2012 verschwende ich noch keinen Gedanken. Ich merke momentan, dass mein derzeitiges Leben auch unglaublich schön ist. Auf einmal habe ich Zeit, mich mit Freunden zum Frühstück zu treffen, ohne es monatelang im Voraus planen zu müssen.
SPOX: Ihre gesundheitlichen Rückschläge ziehen sich wie ein roter Faden durch Ihr Leben.
Simanowski: Das stimmt. Es hat bereits vor acht Jahren angefangen. Nachdem ich 2000 als Mittelstrecken-Läuferin ein sehr gutes Jahr hatte, warfen mich eine Herzmuskelentzündung und eine Knieverletzung weit zurück. Einige Ärzte sagten damals zu mir, dass ich nicht nur meinen Beruf als Krankenschwester, sondern auch den Sport komplett vergessen könne. Das war schon extrem krass, als ich das gesagt bekommen habe.
SPOX: Sie haben sich recht schnell wieder an alte Leistungen herangekämpft, bis sich am 25. Juni 2003 Ihr Leben komplett veränderte. Ein Psychopath hat Ihnen auf offener Straße grundlos ein Messer in den Rücken gesteckt. Beschreiben Sie einmal den Ablauf des Tages.
Simanowski: Ich war an diesem Tag geschäftlich unterwegs. Als ich Feierabend hatte, bin ich zu meinem Auto gelaufen, um Unterlagen in den Kofferraum meines Autos zu legen. Genau in diesem Augenblick rammte mir der Mann ein Messer in den Rücken. Ich hab ihn nicht gesehen und den Stich im ersten Moment eher als eine Art Faustschlag auf den Rücken wahrgenommen. Ich weiß dann nur noch, dass ich mich an der Kante des Autos festhalten wollte. Anschließend war ich zwei, drei Minuten bewusstlos.
SPOX: Was dachten Sie, als Sie wieder zu sich kamen?
Simanowski: Ich wusste sofort, was Sache ist und dass das Rückenmark verletzt ist. Dennoch gehörten meine ersten Gedanken dem Sport: 'Scheiße, die Saison kann ich vergessen. Jetzt war ich gerade wieder fit.' Aber schon auf dem Weg ins Krankenhaus war mir klar, dass ich wieder Sport machen werde - egal wie.
SPOX: Was weiß man über den Täter?
Simanowski: Die Polizei hat ihn innerhalb von drei Tagen geschnappt. Es ist ein psychisch Kranker, der andauernd Stimmen hört, die ihm damals gesagt haben, dass er irgendeine Frau töten müsste. Es war also Zufall, dass es mich getroffen hat. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass er direkt nach dem Attentat in seine Wohnung gegangen ist und sich schlafen gelegt hat.
SPOX: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie trotz dieser Vorfälle nie wirklich Hass für den Täter empfunden haben. Warum nicht?
Simanowski: Ich sehe es weiter so, dass er zwar etwas für seinen Drogenexzess kann, jedoch nichts für seine Krankheit.
SPOX: Im Gerichtssaal sind Sie dem Täter zum ersten Mal gegenübergetreten. Mit welchem Gefühl?
Simanowski: Für mich war es eigentlich eine Genugtuung, ihn wahrzunehmen und zu sehen, dass er zu feige war, mich anzuschauen. Außerdem war es für mich persönlich einfach wichtig, dass ich sagen kann: 'Du warst es jetzt also. Jetzt kenn ich dich.' Für mich war das Kapitel damit beendet.
SPOX: Sie waren bis zum Tag des Anschlags Leistungssportlerin. Wenige Stunden später haben Sie mit Windeln im Bett gelegen. Wie verzweifelt waren Sie in dieser Situation?
Simanowski: Die ersten zwei Wochen im Krankenhaus waren fürchterlich. Man kann nichts machen und ist ständig auf Hilfe von Außenstehenden angewiesen. Nachdem ich meinen Oberkörper bewegen konnte, ging es mir schnell besser, da ich selbst etwas tun konnte, um wieder fit zu werden. Man erfreut sich an Kleinigkeiten, die auf einmal wieder funktionieren. Außerdem wissen viele Leute, die einen Querschnitt haben, dass sie auch hätten tot sein können. Wenn man das im Hinterkopf behält, weiß man das Leben viel mehr zu schätzen.
SPOX: Sportler stecken sich meistens immer wieder neue Ziele und sind nie zufrieden mit Ihrem aktuellen Leistungsstand. Inwiefern hat Sie diese Einstellung in der Reha weitergebracht?
Simanowski: Das hat mir unglaublich geholfen und hat den ganzen Heilungsprozess stark beschleunigt. Man hat einfach ein gutes Durchhaltevermögen und gibt nicht auf, wenn man in einer Woche mal keine Verbesserung spürt. Jemand, der keinen Sport macht, kennt dieses Gefühl nicht.
SPOX: Nach einer solchen Verletzung erreicht man irgendwann ein körperliches Limit und merkt, dass es nun keine Verbesserungen mehr geben wird.
Simanowski: Eigentlich war ich froh, dass ich überhaupt so weit gekommen bin. Es war einfach ein Stück Freiheit, sich wieder bewegen zu können. Als ich dann zu Hause war, bin ich jedoch in ein Loch gefallen. Denn dort war nichts mehr, wie zuvor. Um nur ein gravierendes Beispiel zu nennen: Ich musste alle Teppiche aus der Wohnung entfernen, da ich mit dem Rollstuhl, auf den ich zunächst angewiesen war, immer über die Kanten gestolpert bin.
SPOX: Nach dem Anschlag haben Sie den Radsport für sich entdeckt. Warum gerade dieser Sport?
Simanowski: Ich wusste, dass ich nicht mehr ohne Probleme joggen kann. Außerdem bin ich nach meiner Knieverletzung schon immer viel Rad gefahren. In einer Zeitschrift habe ich dann eine Radsportlerin mit Carbonschienen gesehen und habe gedacht, dass das bei mir ja auch funktionieren könnte. Anschließend habe ich einen Sichtungslehrgang besucht und bin direkt vom Bundestrainer ins Trainingslager nach Mallorca eingeladen worden.
SPOX: Sie sind dann sehr schnell in die Weltspitze gefahren und haben Weltrekord um Weltrekord aufgestellt. Wie ist das zu erklären?
Simanowski: Klar, so macht das den Anschein, dass ich nach meinem Unfall ein wenig Rad fahre und gleich in die Weltspitze komme. Dass ich vorher schon Leistungssport betrieben habe, mit sechs bis sieben Mal die Woche Training, sieht keiner.
SPOX: Anderen Sportlern ist Ihr Erfolg sauer aufgestoßen. Sie zweifelten, ob Sie überhaupt behindert genug sind beziehungsweise ob Sie die Schienen überhaupt benötigen.
Simanowski: Das Schlimme war, dass es gar keine direkten Gegner von mir waren, sondern Sportler aus anderen Behinderungsklassen. Es ist nun mal, wie es ist: Der paralympische Sport ist nicht mehr so, wie vor zehn Jahren. Es ist inzwischen knallharter Leistungssport, von der manche sogar dank Sponsorengelder leben können. So entstehen solche Diskussionen.
SPOX: Die paralympischen Spiele 2008 in Peking waren Ihr Karrierehighlight. Sie haben zwei Silbermedaillen gewonnen. Was schießt einem durch den Kopf, wenn die deutsche Fahne hochgezogen wird, die Silbermedaille um den Hals baumelt und alle Zuschauer im Stadion auf das Treppchen schauen?
Simanowski: (lacht) Oh je! Ich weiß zwar, dass ich dort war und was ich dort geleistet habe, aber glauben kann ich es trotzdem noch nicht. Eigentlich stand ich nur auf dem Podest und habe gedacht: 'Krass, jetzt hast du es tatsächlich geschafft.'
SPOX: Bleiben die Paralympics 2012 in London trotz der aktuellen Rückschläge im Visier?
Simanowski: Selbst wenn ich wieder Leistungssport betreiben könnte, wüsste ich nicht, ob ich dorthin gehen würde. Vielleicht komme ich zum Entschluss, dass die Paralympics in Athen etwas Einmaliges bleiben sollten.
Das Buch: Wieder Aufstehen - Die bewegende Geschichte einer Sportlerin