David Haye musste bis 2.29 Uhr nachts warten, bis ihm endlich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wurde. Als der siegreiche Wladimir Klitschko noch bei der Dopingprobe saß, vertröstete er die Journalisten mit der Ankündigung, dass er ihnen nach der Pressekonferenz seinen gebrochenen Zeh zeigen wolle, der aus seiner Sicht die größte Schuld trage an der Niederlage.
Als Klitschko in den Raum eintrat, sich mit aufs Podium setzte und Zweifel an der Schwere der Verletzung äußerte, wusste Haye, dass dies der richtige Moment sein würde für einen letzten, großen Auftritt in Hamburg. Er kletterte kurzerhand auf den Konferenztisch und stellte sich aufrecht hin.
"Seht ihr es? Seht ihr es?", sagte er, während er Klitschko und den Medienvertretern seinen kleinen Zeh am rechten Fuß präsentierte. Er hatte nur Flip-Flops an, weil es sonst so schmerzen würde, erklärte er. Und weil sonst keiner hätte kontrollieren können, dass sein Zeh tatsächlich dick ist, hätte er hinzufügen können.
Doch so sehr sich Haye bemühte, es endete wie im Ring: Bei allem Eifer gehörte diese Nacht nur einem, Wladimir Klitschko. Box-Fans in über 150 Ländern und in Deutschland alleine 15,5 Millionen Fernsehzuschauer im Schnitt sahen live dabei zu, wie der 35-Jährige seinen vermeintlich schwersten Kampf einstimmig nach Punkten gewann.
Zwar fiel das Urteil der Punktrichter zu einseitig aus: So überlegen war Klitschko nicht, wie die 118:108 von Michael Pernick und die 117:109 von Adalaide Byrd (beide USA) vermuten lassen. Die 116:110 des Südafrikaners Stanley Christodoulou kamen dem Kampfverlauf am nächsten.
Klitschko im Interview: "Ich war ein gebrochener Mann"
Foreman: "Haye hat versagt"
Außer Frage stand jedoch, dass der Sieger nur Klitschko heißen kann. "Haye hat es versucht, aber er hat versagt. Er wurde seinen eigenen großmundigen Versprechungen nicht gerecht. Klitschko hingegen lieferte eine großartige Leistung ab", sagte Ex-Schwergewichts-Weltmeister George Foreman.
Klitschkos Lohn: Er ist nun Titelträger der WBO, IBF sowie WBA und besitzt gemeinsam mit Bruder Vitali (WBC) die WM-Gürtel der vier wichtigsten Box-Verbände. Einmalig in der Geschichte des Sports. Und: Er dürfte zwischen zehn und 15 Millionen Euro reicher sein, so zumindest lautet die Schätzung der jeweiligen Börse für beide Boxer beim höchst dotierten Kampf in Deutschland aller Zeiten.
Haye hingegen wurde entsprechend seiner Bezahlung und der von ihm selbst geschürten Erwartungen insbesondere in seiner britischen Heimat teils heftig kritisiert.
Englische Medien prügeln auf Haye ein
Am deutlichsten formulierte es Promoter-Legende Frank Warren (Joe Calzaghe, Ricky Hatton, Amir Khan): "Wenn es um den WM-Titel geht, muss du alles geben. Stattdessen aber über irgendwelche Zehen zu sprechen, war peinlich. Haye war wie eine Heulsuse. Man hätte erwarten können, dass er mehr Würde hat."
Ähnlich urteilte auch die heimische Presse. "In der Welt der besten Schwergewichtler wirkte Haye wie ein Zwerg mit unrealistisch großen Ambitionen", schrieb der "Guardian". Bezeichnend das Urteil der "Daily Mail", wonach Haye nur eine der zwölf Runden für sich entschied. Aber: So mies, wie ihn die englische Presse nun darstellt, hat er nicht geboxt.
Haye war taktisch hervorragend auf Klitschko eingestellt. Mit seinen ungemein schnellen Oberkörperbewegungen wich er teilweise mühelos dem gefürchteten Klitschko-Jab aus - und wenn er getroffen wurde, blieb er unbeeindruckt und kämpfte weiter.
Im Angriff jedoch stieß der sonst so schlagstarke Haye an seine Grenzen. Wie erwartet dominierte Klitschko die Ringmitte und hielt ihn so oft es geht auf Distanz. Haye versuchte mit überfallartigen Kombinationen, seinen Gegner zu überrumpeln und mit seiner Rechten den womöglich entscheidenden Punch zu landen - doch all das gestaltete sich arg vorhersehbar.
"Wir wussten um Hayes größte Schwäche: Bei seine Rechten gerät er immer aus der Balance. Deswegen haben wir versucht, ihm den Platz zu nehmen. Wenn er dann kam und zweimal hintereinander schlug, verlor er jedes Mal das Gleichgewicht", sagte Klitschkos Trainer Emanuel Steward.
Dass Haye jedoch derart selten durchkam, lag auch an der extrem guten und wirksamen Verteidigung des Ukrainers. "Wladimirs Fußarbeit ist wesentlich besser, als es viele glauben", sagt Steward. Hayes Coach Adam Booth erklärt: "Wladimir ist ein sehr großer Mann und sehr effektiv darin, seine Größe zu nutzen. Er hat sehr gut Davids Angriffe vorausgesehen. Ich ziehe meinen Hut vor Wladimir: David tat alles, was möglich war, aber der bessere Boxer hat gewonnen."
Haye versuchte, mit einer aktiven Endphase in jeder Runde seine fehlenden Treffer zu kaschieren, am Ende setzte sich jedoch das durchdachte, nicht spektakuläre Klitschko-Jab-Boxen durch. Die Statistiker zählten ein deutliches Übergewicht von 134 zu 72 Treffern.
Klitschko bringt mehr Jabs ins Ziel
134 Treffer sind im Vergleich zu seinen vorherigen Kämpfen unterdurchschnittlich (Peter: 142, Chambers: 161, Tschagajew: 151, Rahman: 178), dafür aber steigerte Klitschko seine Quote an erfolgreichen Jabs. Seit Hasim Rahman (50,3 Prozent) sank diese in drei aufeinanderfolgenden Fights bis auf 19,6 Prozent im Peter-Kampf ab, gegen Haye fand Klitschkos Führhand aber wieder häufiger das Ziel (28 Prozent).
Haye hingegen mangelte es an einem patenten Schlag. Man hatte den Eindruck, dass seine einzige Offensivtaktik darin bestand, so lang wie möglich ohne Deckung zu kämpfen und Klitschko dadurch zu einer unbedachten Attacke einzuladen, um daraufhin selbst zu kontern. Da dieser sich jedoch nicht verführen ließ, musste Haye in ungewohnter Passivität verharren.
"Er hat keine richtige Action gezeigt, er hat gar nichts gemacht, außer sich zu schützen und langweilig zu sein", sagt Klitschko. Booth formuliert es diplomatischer: "Es war ein taktisch sehr schwieriger Fight. Beide boxten vorsichtig, weil jeder um die Power des anderen wusste."
Anspruchsvoll unspektakulär
Der Kampf war aus taktischer Sicht anspruchsvoll - aber eben nicht spektakulär im Sinne eines Rocky-Films. Die Runden ähnelten sich nicht nur wegen Hayes ständigen Hinfallens, und am Ende fehlte ein Höhepunkt in Form eines Wirkungstreffers oder einer furiosen Schlussphase.
Die Niederlage schmerzt Haye. Womöglich schmerzt es aber mehr, dass er in Hamburg im Grunde nicht viel anders auftrat wie sein so verhasstes Gegenüber, "der langweiligste Schwergewichtler aller Zeiten", der "Roboter", der "überschätzte Nichtskönner".
Nur: Haye fehlt der Erfolg.