"Eines Tages werde ich Schwergewichtsweltmeister sein. Ich sage nicht, dass ich sein werde wie Muhammad Ali - das werde ich niemals. Aber wenn es soweit ist, erinnert euch daran, dass ich es prophezeit habe." Was Deontay Wilder in der Vergangenheit bereits ankündigte, scheint nun Realität zu werden. Zwischen dem 29-Jährigen und der Erfüllung seiner Prophezeiung steht nur noch ein Mann: Bermane Stiverne.
Der Showdown im legendären MGM Grand in Las Vegas ist allerdings weitaus mehr als die Chance eines aufstrebenden Boxers, er soll den Wendepunkt für eine ganze Nation markieren. In den Vereinigten Staaten gilt Wilder als der Mann, der das Schwergewichtsboxen zurück zum Glanz längst vergangener Tage führen kann.
Die Sehnsucht ist riesig, der Druck ebenfalls. "Das wird ein Must-See-Fight", unterstrich Don King im Vorfeld die Bedeutung. Dass die Box-Welt jedoch überhaupt etwas von Wilder sieht, ist keine Selbstverständlichkeit. Erst eine bittere Nachricht ließ ihn zu dem Menschen werden, der er heute ist. Denn eigentlich hatte er gänzlich andere Pläne.
Ein Moment verändert alles
Der hochgewachsene Junge aus Tuscaloosa peilte nach dem High-School-Abschluss eine Karriere als Football- oder Basketballprofi an. Seine athletische Figur, ein Gardemaß von 2,01 Metern und sein unbedingter Wille öffneten ihm die Türen. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem das Schicksal beschloss, selbige mit einem lauten Knall zuzuschlagen.
Zusammen mit seiner Freundin Helen erwartete Wilder eine Tochter. Eine Nachricht der Ärzte nach einer Routineuntersuchung, riss dem damals 19-Jährigen den Boden unter den Füßen weg: Sein ungeborenes Mädchen war schwer krank, litt unter Spina bifida. Eine Fehlbildung der Wirbelsäule, die je nach Ausprägung zu einer erheblichen Beeinträchtigung führen kann und betroffene Personen nicht selten an den Rollstuhl fesselt.
"Sie sagten uns, dass wir diesen Weg nicht gehen müssen", erinnerte sich Wilder Jahre später an die Worte der Mediziner. Die Ärzte waren sich nicht einmal sicher, ob das Kind überhaupt selbstständig atmen könnte. Eine Abtreibung kam trotzdem nicht in Frage.
"Ich bin ein sehr gläubiger Mensch, glaube von ganzem Herzen an Gott", so der US-Amerikaner: "Jeder Mensch, der auf diese Welt kommt, hat das Recht auf Leben. Niemand kann in die Zukunft blicken, jedes Kind verdient eine Chance." Es sollte eine Entscheidung mit Folgen sein.
Verschobene Prioritäten
Statt seine Karriere als Sportler voranzutreiben, änderte Wilder sein gesamtes Leben. Das College war Geschichte, zuweilen arbeitete er in mehreren Jobs zugleich, um die hohen Kosten für die medizinische Betreuung seiner Tochter Naieya zu decken. Eine Ausbildung hatte er nicht.
Es waren Opfer, die er gerne brachte. Entgegen aller Erwartungen trotzte Naieya sämtlichen Widrigkeiten. Stets begleitet von Operationen, Schmerzen und Rückschlägen lernte sie zu krabbeln und später zu gehen. Der Kampf um ein normales Leben, den sie von ihrer Geburt an führte, sorgte für Inspiration. "Sie ist eine Kämpferin", sagt der stolze Vater: "Das hat sie definitiv von mir."
Die Zeit der Veränderung führte bei Wilder zu einem neuen Traum - als Boxer. Die Möglichkeit, nach harten Arbeitstagen trainieren zu können, diente als Grundlage, seine Physis als Bonus und sein Wille als Trumpf.
Einen harten Treffer kassierte er allerdings schon bevor er das erste Mal seine Boxhandschuhe überstreifte. Nachdem er das nahe gelegene Gym "Skyy Boxing" von Jay Deas betrat und seinen Willen geäußert hatte, Boxer zu werden, empfahl dieser ihm den Basketballcourt am Ende der Straße. Vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit ein bitterer Moment.
Ein großer Schritt
Wilder schluckte die Worte herunter, die Gedanken bei seiner Tochter. Er arbeitete beharrlich an seiner Physis und seinen Fähigkeiten. Es dauerte, bis Deas das Potential und den Willen bemerkte und ihn unter seine Fittiche nahm. Zwar lernte sein Schützling im Anschluss mit riesigen Schritten, doch wurden ihm während seiner Zeit als Amateur auch immer wieder Grenzen aufgezeigt.
Statt aufzugeben, wuchs Wilder an ihnen. Der Gewinn der National Golden Gloves und der US-Meisterschaften im Jahr 2007 sowie eine Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking sprechen für sich. Das alles mit nur knapp 30 Kämpfen auf dem Konto zu schaffen, verdient Respekt.
Nicht nur mit seiner Schlagkraft wusste er zu überzeugen, auch die Geschwindigkeit seiner Hände gehört zu den Stärken des mittlerweile 29-Jährigen und das bei einer beachtlichen Reichweite von 2,11 Meter. Nach Klitschkos Hammer dürfte Wilders Rechte im Schwergewicht wohl auf Rang zwei in Sachen Schlaghärte rangieren.
Wenn nicht Wilder - wer sonst?
Vorzüge, die auch Shelly Finkel, der unter anderem Größen des Boxsports wie Evander Holyfield oder Mike Tyson vertrat, und Legende Oscar de la Hoya, Chef von Golden Boy Promotions, auffielen. Wilders erster Profivertrag im Alter von 23 Jahren war deshalb Formsache.
Auch wenn die ganz großen Namen nicht auf der Liste des Linksauslegers zu finden sind, mit 32 Siegen in ebenso vielen Kämpfen weist Wilder nicht nur eine makellose Bilanz auf. Er beeindruckt auch mit der Art und Weise seiner Triumphe. Die Hoffnungen der US-Amerikaner kommen nicht von ungefähr.
Sein Ruf als K.o.-Maschine eilt ihm voraus. Keiner seiner Kontrahenten schaffte es über die volle Distanz. Nur drei erlebten überhaupt die vierte Runde.
Auch in puncto Trash-Talk geizte der "Bronze Bomber" nie mit markanten Worten. "In der Zukunft wird man Großes von mir sehen", sagte Wilder einst: "Es handelt sich um eine Garantie!" Und schob mit einem Grinsen nach: "Manchmal habe ich Angst vor meiner eigenen Schlagkraft." Steigt Wilder in das Seilgeviert, stimmt die Show. Stagnation ist ein Fremdwort.
Vorausschauende und effektive K.o.-Maschine
Über die Jahre hat Coach Deas, der ihn bis heute betreut, nicht nur seinen Jab zu einer durchaus akzeptablen Waffe gemacht. Er verstand es zudem, ihm eine vorausschauende und effektive Art des Boxens beizubringen.
"Das ist alles der Verdienst meines Mädchens", sagt der Schwergewichtler, der inzwischen mit mit Tochter Ava und Sohn Dereon zwei weitere Kinder hat und seit dem Jahr 2009 mit seiner Frau Jessica verheiratet ist: "Ohne sie wäre ich jetzt nicht der, der ich bin."
Seine größten Ziele sind deshalb weder Titel noch Geld. "Ich denke nicht, dass Geld einen zu einem glücklichen Menschen macht", so Wilder: "Viele der wohlhabendsten Leute der Welt sind schlechte Menschen." Er möchte schlicht seine Tochter stolz machen.
Alles Glück der Welt
Die nächste Chance dazu bietet sich am Sonntag. Abgesehen von seiner Schlagkraft, die vor allem bei seinem linken Haken deutlich wird, kann Gegner Stiverne als erster Weltmeister im Schwergewicht mit haitianischen Wurzeln nur bedingt überzeugen.
"Er wird Nummer 33 auf meiner Liste", gibt sich Wilder deshalb siegessicher. Der 36-Jährige soll nur ein Zwischenschritt sein, im Visier ist ein ganz anderer Boxer: Wladimir Klitschko. Schließlich bietet er die Möglichkeit, sich für immer in den Geschichtsbüchern zu verewigen.
Während der jüngere Klitschko-Bruder und Legenden wie Mike Tyson, Evander Holyfield und Lennox Lewis in ihrer Karriere jeweils "nur" drei Titel auf sich vereinigen konnten, würde ein Folgeduell mit dem Ukrainer den ersten Schwergewichtsweltmeister der Geschichte mit allen vier großen Titel der WBA, WBO, WBC und IBF nach sich ziehen.
Stiverne: "Ich werde ihm weh tun"
Eine Möglichkeit, die auch Stiverne für sich beansprucht. "Ich werde ihn schlagen", äußerte sich der Champion über seinen Kontrahenten: "Ich werde ihn nicht einfach ausknocken, ich werde ihm weh tun." Mit 21 Knockouts bei 24 Siegen in 26 Kämpfen weiß auch der Weltmeister, wovon er spricht.
Ob es sich bei Wilder um den ersehnten Erlöser einer ganzen Nation handelt oder nur um einen weiteren Hoffnungsschimmer, der an den hohen Ansprüchen scheitert, wird sich zeigen müssen. Doch egal, wie der Kampf gegen Stiverne endet, in den Augen eines Menschen ist und bleibt der 29-Jährige ein Held.
"Er macht mich Stolz", antwortete Naieya auf die Frage nach ihrem Vater. Vier Worte, die ihm mehr bedeuten, als jeder Titel.