Ein Hauch von Wahnsinn

Jan Höfling
29. November 201520:20
Wladimir Klitschko (l.) will Tyson Fury in Düsseldorf ausknockengetty
Werbung

Am Samstag (ab 22.45 Uhr im LIVETICKER) kommt es in der Düsseldorfer ESPRIT Arena zum Duell zwischen Wladimir Klitschko (64-3-0) und seinem britischen Herausforderer Tyson Fury (24-0-0), der sogar mit einer Kampfabsage drohte. SPOX hat beide Kämpfer auf Herz und Nieren geprüft. Das Head-to-Head.

Vorbereitung

Wie vor dem Duell mit Bryant Jennings musste Wladimir Klitschko aufgrund einer Verletzung auch das Aufeinandertreffen mit Tyson Fury verschieben. War es Anfang des Jahres ein gerissener Bizeps, der den Ukrainer stoppte, so handelte es sich diesmal um einen Sehnenriss in der linken Wade. Das Trainingslager musste er unterbrechen und sich einer Behandlung beim ehemaligen Bayern-Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt unterziehen.

"Er ist der beste Mann für solche Behandlungen", zeigte sich Manager Bernd Bönte schnell zuversichtlich. Die Verschiebung hielt sich entsprechend im Rahmen, bereits kurze Zeit später stand der neue Termin im November fest. Auch die depressiven Phasen seiner Verlobten Hayden Panettiere nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes werden ihn nicht kalt gelassen haben. Dennoch: Klitschko hat die Vorbereitung wie gewohnt absolviert und sich in optimale körperliche Verfassung gebracht.

"Wladimir ist nicht nur der beste Boxer, sondern auch der, der am härtesten an sich arbeitet", betonte Trainer Johnathon Banks nicht umsonst. Zudem gab es Hilfe von außen. Unter anderem Mariusz Wach, der 2013 gegen Klitschko seine einzige Niederlage kassierte, absolvierte einige Einheiten mit dem Weltmeister und sollte vor allem die Größe Furys simulieren. Auf der Gegenseite zog das Lager des Briten alle Register.

"Ich habe den glorreichen Kickbox-Weltmeister Rico Verhoeven einfliegen lassen", sagte Peter Fury, Trainer und Onkel des Herausforderers, dem Mirror: "Wir konnten daraus eine Menge lernen." Doch damit nicht genug, auch weitere Kickboxer wurden herangezogen. "Sie spielen nicht herum, sie meckern nicht. Auch wenn sie getroffen werden, sie gehen immer nach vorne", so Peter weiter. Generell verlief das Camp ohne Ablenkungen oder Verletzungen.

SPOX-Urteil: Unentschieden

Erfahrung

Klitschko? Erfahrung pur! In seiner langen und erfolgreichen Karriere stand der Champion insgesamt 346 Runde im Ring, seit mehr als einer Dekade hat der Ukrainer keinen Kampf mehr verloren und seine Gürtel gegen sämtliche Herausforderer, die sich ihm in den Weg stellten, verteidigt - und das auf den größtmöglichen Bühnen rund um den Globus.

Da zudem aus der Zeit vor seinem Wechsel ins Profi-Lager über 140 Kämpfe, Silber bei den Europameisterschaften 1996 und eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen im gleichen Jahr zu Buche stehen, gibt es nichts, was ihn noch aus der Ruhe bringen kann.

Sein Gegenüber ist der Sohn des ehemaligen irischen Schwergewichtlers John Fury und trägt seinen Namen aufgrund der Faszination seines Vaters für Mike Tyson. Das Boxen liegt ihm im Blut. Mit einer überschaubaren Amateur-Bilanz von 35 Kämpfen, von denen er aber immerhin 31 für sich entschied, wechselte er 2008 zu den Profis. Er verbuchte 18 Knockouts in 24 siegreichen Kämpfen und stand dabei 134 Runden im Ring. Trotz einer weißen Weste handelt es sich um Zahlen, über die Klitschko wohl nur müde lächeln wird.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Tyson Fury im SPOX-Porträt: Superheld mit Therapiebedarf

Schlagkraft

Die Schlagkraft des Titelverteidigers sucht ihresgleichen, Klitschkos Spitzname "Dr. Steelhammer" kommt nicht von ungefähr. Eine Knockout-Quote von 79 Prozent unterstreicht dies eindrucksvoll, wenngleich wirklich imposante Niederschläge in den letzten Duellen, auch durch den fehlenden Druck ein Risiko eingehen zu müssen, selten waren. Der Kampf gegen Kubrat Pulev zeigte jedoch, dass seine Power nicht umsonst schon über 50 Fights vorzeitig beendet hat - und jedem Gegner zum Verhängnis werden kann.

Neben der knallharten Rechten profitiert Klitschko am meisten von seinem Jab, der gerne unterschätzt wird. Der Vorzeigeschlag des Champions dient nicht nur dazu, die richtige Distanz zum jeweiligen Gegner zu finden und auf den Scorecards der Punktrichter wertvolle Zähler zu sammeln, sondern verfügt auch über eine Härte und Präzision, die es im Schwergewicht selten gibt. Ergänzt mit dem linken Haken, ergibt sich ein potentes Arsenal, das bereits einige Opfer gefordert hat - und noch fordern wird.

"Ich glaube, niemand denkt, dass es über zwölf Runden gehen wird", prognostizierte Coach Banks entsprechend: "Oder zehn. Sie sind wie zwei Berge, die aufeinander krachen." Ein Selbstläufer dürfte es aber nicht werden. Fury verfügt über die Größe, um Klitschko auf Augenhöhe zu begegnen. Auch seine Knockout-Quote von 75 Prozent klingt gut.

In der Realität ist diese zu großen Teilen den Gegnern geschuldet, die vom Niveau her nicht ansatzweise an die seines Konkurrenten heranreichten. Fury verlässt sich immerhin nicht auf seine Power, sein Jab kann sich sehen lassen. Auch Aufwärtshaken gehören zum Repertoire des Außenseiters von der Insel, mit dem er Klitschko einheizen möchte.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Kinn

Die vermeintliche Schwachstelle, die Fury suchen muss, gibt es dabei in der Tat. Denn auch der Weltmeister hat eine Achillesferse, selbst wenn davon schon eine Ewigkeit nichts mehr zu sehen war. Dass Klitschkos Kinn nie das härteste war, ist kein Geheimnis. Es handelt sich seit Jahren um den einzigen Hoffnungsschimmer am Horizont, erreichen konnte ihn nach Lamon Brewster aber niemand mehr.

Der Grund hierfür ist simpel. Klitschko hat aus dem Brewster-Debakel die nötigen Lehren gezogen und seine Defensivarbeit deutlich verbessert. Eine Entwicklung, die er vor allem unter Trainer-Legende Emanuel Steward durchlief und die er immer weiter perfektionierte. Auch der Jab als Kontrollinstrument sowie teils eklatante Vorteile in Sachen Größe, Technik und Schlagkraft ließen ihn scheinbar unverwundbar werden.

Klitschkos Defensive fußt ferner auf seiner Offensive. Er war dabei vor allem eines: unheimlich effektiv. Wurde es doch mal eng, ging es in den Clinch. Etwas, dass diesmal jedoch nicht so einfach werden dürfte. Eine Niederlage musste Fury bislang nicht verkraften, am Boden war er aber bereits zweimal im Laufe seiner Karriere. Hauptgrund dafür war jeweils, dass der Herausforderer auf die Gürtel Klitschkos die notwendige Ernsthaftigkeit im Ring vermissen ließ und so in offene Schläge lief.

Allerdings steckte Fury die Niederschläge gut weg und kam, nachdem er wieder auf den Beinen war, nie ernsthaft in Bedrängnis eines Knockouts. Will er gegen den Champion punkten, dürfte sich diese Nehmerfähigkeit als elementar erweisen. "Der Knockout wird schnell, einfach und hart", kündigte er im Vorfeld jedenfalls vollmundig an.

SPOX-Urteil: Vorteil Fury

Seite 1: Vorbereitung bis Kinn

Seite 2: Ausdauer bis Fazit

Ausdauer

Mit dem Alter kommt die Weisheit. Besser kann man den Wandel Klitschkos kaum beschreiben. Während sich der Ukrainer früher im Ring verausgabte und so in konditionelle Probleme geriet, hat er mit den Jahren gelernt, sich seine Kraft richtig einzuteilen.

Bei inzwischen 39 Lenzen auf dem Buckel hat er deshalb kaum Schwierigkeiten mit einem Duell über die volle Distanz. Die Tatsache, dass er zumeist das Geschehen diktierte und seinen Kontrahenten durch die körperliche Überlegenheit im Klammergriff Kraft kosten konnte, kam hinzu.

Die Ausdauer bei seinem Gegenüber könnte hingegen zum X-Faktor werden. Wie genau es um die Form des Briten bestellt ist, liegt im Dunkeln. So trug er zuletzt das eine oder andere Kilo zu viel mit sich herum, gänzlich austrainierte wirkte er nie. Über die volle Distanz musste Fury zudem nur zweimal gehen. Gegner wie Steve Cunningham und Derek Chisora sind jedoch nicht mit Klitschko vergleichbar.

Allein aufgrund der Größe und Fitness des Champions kommt auf Fury eine völlig neue Dimension zu, die Kraft kosten dürfte. Vor allem, wenn der Herausforderer sein Heil in der Offensive sucht, wird die Kondition zu Problemen führen, auch wenn ein Altersunterschied von 13 Jahren für Fury spricht. Zudem kommt dem Clinch eine große Bedeutung zu, da Fury hier Klitschko Kraft entziehen könnte.

SPOX-Urteil: Unentschieden

Körperliche Verfassung

Die Statur spielt dabei eine immense Rolle, nicht umsonst gibt es so viele Gewichtsklassen. In der Vergangenheit war Klitschko seinen Kontrahenten auf der physischen Ebene überlegen, gegen Fury sieht dies anders aus. Auch diesmal präsentierte sich der Ukrainer im Vorfeld des Kampfes in gewohnter Verfassung, ein Gramm Fett suchte man vergebens, Muskeln bestimmten das Bild. Die Zahlen implizieren aber erstmals einen Nachteil.

Im Vergleich mit Fury ist Klitschko in Sachen Größe (198 cm zu 206 cm) und Reichweite (206 cm zu 216 cm) unterlegen. Eine Konstellation, die ihn aus dem Konzept bringen könnte. "Ich habe bewiesen, dass ich auch bei den großen Jungs mit meinem Jab durchkomme. Man kann im Vorfeld einiges durchspielen, Furys Größe, seine Reichweite, seinen Stil", gab sich Klitschko im SPOX-Interview zuversichtlich: "Aber am besten kläre ich das im Ring."

Dennoch ist er mit der Situation des körperlichen Nachteils nicht sonderlich vertraut und könnte sich mit bisher nahezu unbekannten Problemen konfrontiert sehen. "Ich denke, dass Furys Größe zum Problem werden kann", analysierte unter anderem Boxer Eric Molina: "Auch wenn Klitschko sehr stark ist, gegen einen größeren Gegner überwiegen einfach die Nachteile. Alles wird darauf ankommen, wie er sich anpassen kann."

Zumindest dann, wenn der Brite die Vorteile auch nutzen kann. Auf der Waage brachte es Fury auf 112 Kilogramm, Klitschko auf ein halbes Kilo weniger. Sollte Fury nicht komplett austrainiert sein und früh in konditionelle Probleme geraten, die durch Treffer nicht besser werden würden, hilft ihm aber auch der körperliche Vorteil wenig. Da er in einer gebeugten Körperhaltung boxt, gleicht er diesen selbst etwas aus.

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Fähigkeiten

Im Hinblick auf die technischen Fähigkeiten ist Klitschko auf einem eigenen Level. Sein Jab hat über die Jahre nicht nur an Dominanz, sondern auch an Power gewonnen und lässt sich variabel in einen eng geschlagenen Haken umwandeln. Seine Power sucht ihresgleichen und auch seine koordinativen Fähigkeiten sind beachtlich. Die größte Entwicklung hat der Weltmeister jedoch in der Defensive durchlebt. Die Niederlagen der Vergangenheit sind heute undenkbar, Klitschko verfügt über das wohl beste und kompletteste Paket aller Schwergewichtsboxer.

Die größte Stärke des Herausforderers ist derweil seine Flexibilität in puncto Auslage. Fury kann zwischen Rechts- und Linksauslage wechseln und agiert dabei fließend und intuitiv. Eine beeindruckende Fähigkeit, die ihm in der Vergangenheit des Öfteren half und gegen Klitschko ein wichtiges Mittel werden soll. Auch seine Beinarbeit ist überdurchschnittlich.

Abgesehen davon präsentierte er sich eher solide, zur Weltklasse fehlte in den meisten Belangen etwas und seine Abhängigkeit vom eigenen Rhythmus stach heraus. "Fury ist nicht gut genug, um Klitschko zu schlagen", stellte David Haye gegenüber der Sun fest: "Er hat noch nie gegen jemand mit der entsprechenden Größe und Schlagkraft gekämpft."

Auch Henry Maske glaubt an einen klaren Kampf: "Ich rechne mit einem klaren Sieg von Klitschko. Er ist mittlerweile so erfahren und weiß genau, was an einem Kampfabend auf ihn zukommt", sagte der 51-Jährige: "Die Entwicklung von Wladimir im letzten Jahr war noch einmal enorm und hat mich sehr beeindruckt." Axel Schulz stimmte ein: "Ich erwarte nicht den spannendsten Kampf. Wladimir ist viel zu stark für Fury, das wird einen schönen K.o. geben."

SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko

Mentale Stärke

"Du bist langweilig, du bist alt, du bist nichts", machte Fury eine Ansage in Richtung des Weltmeisters: "Ganz Europa will dich verlieren sehen, und du wirst verlieren. Die Geschichte lügt nicht, alte Champions verlieren gegen die jungen." Generell scheint Fury trotz seiner Rolle keine Probleme mit dem Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu haben.

So habe Klitschko "noch nie einen Herausforderer" wie ihn gehabt. Er sei einzigartig, ein "Kämpfer, der in 1000 Jahren nicht noch einmal zu sehen sei". Seine Linie ist klar: "Wenn ich es nicht schaffe, ihn auszuknocken, dann bin ich nutzlos. Wenn ich einen 40-Jährigen nicht besiegen kann, gehöre ich vom Boxen verbannt", schloss Fury seine Ansprache. Als sich beide Kontrahenten direkt gegenüberstanden, verhöhnte der Herausforderer Klitschko weiter, ging dabei aber gleichzeitig dem eigentlichen Staredown aus dem Weg. Ein klares Zeichen für Unsicherheit.

Klitschko starrte seinen Kontrahenten in Grund und Boden. Selbst die Medienvertreter dürften einen Meter kleiner geworden sein. Gegenüber BoxSport stieg er dann auch auf den Trash-Talk ein: "Er stellt viele Prognosen auf, kennt aber die Realität noch nicht so ganz und braucht einmal eine ärztliche Behandlung. Die werde ich ihm anbieten. Dieser Kampf wird seine Therapie. Danach ist er von mir geheilt."

Beide Boxer sind also jeweils von ihren Chancen überzeugt, Klitschko wirkte abgeklärt wie immer, sein Gegenüber angriffslustig und selbstsicher. Wieviel vor allem die nach außen hin verkörperte Selbstsicherheit des Herausforderers letztendlich wert sein wird, muss sich im Ring und nach den ersten Treffern Klitschkos zeigen. Am nötigen Herz wird es bei Fury zwar nicht scheitern - selbst wenn es ihn auf den Weg in sein Verderben führen sollte.

SPOX-Urteil: Unentschieden

Fazit

"Ich vermute, er wird vier Runden brauchen, um sich auf die ungewohnte Größe und Masse einzustellen. In der fünften Runde wird er Fury dann ausknocken", sagte Lennox Lewis der Welt. Ob es tatsächlich so schnell gehen wird, ist offen. Die Vorzeichen sind allerdings klar. Klitschko, der mit RTL einen neuen Vertrag über fünf weitere Kämpfe bekanntgab, ist der Favorit. Seinem Gegenüber bleibt wie üblich nur die Rolle des Außenseiters.

Aussichtslosigkeit ist damit aber nicht gleichzusetzen, im Schwergewicht kann ein Schlag alles ändern. Reichweite und Kontrolle werden zu den entscheidenden Aspekten. "Im Boxen weiß man nie, was passiert", unterstrich auch Haye. WBC-Champion Deontay Wilder sprach hingegen das aus, was wohl viele denken: "Viel Glück Fury, du wirst es brauchen."

Deshalb wäre alles andere als eine weitere Titelverteidigung mit einer riesigen Sensation gleichzusetzen. Größe und Reichweite allein werden Fury nicht retten. Eine solide Technik ist gegen einen Boxer wie Klitschko einfach zu wenig. Er muss punkten, kann dies nicht allein über seinen Jab, der dem Klitschkos unterlegen ist. Er muss deshalb gegen den Weltmeister offensiv agieren, befindet sich dann allerdings in einer Distanz, in der sein Gegner die kleinsten Fehler eiskalt bestraft.

Klitschko hingegen wird auch gegen den deutlich jüngeren Herausforderer seiner Linie treu bleiben, das Risiko im Ring bestmöglich minimieren und notfalls auf bewehrte Mittel zurückgreifen. Zum X-Faktor wird - neben der Unberechenbarkeit in den Handlungen Furys, den ein Hauch von Wahnsinn umgibt - dabei der Kraftverlust beider Protagonisten im Clinch. Spätestens ab der Mitte des Kampfes wird sich die Klasse des Champions dann endgültig durchsetzen - und Fury die erste Niederlage seiner Karriere bescheren.

SPOX-Urteil: K.o.-Sieg Klitschko

Seite 1: Vorbereitung bis Kinn

Seite 2: Ausdauer bis Fazit

Alle Weltmeister der großen Verbände im Überblick