New York, 1. Dezember 2013. Im Madison Square Garden, der Halle im Herzen Manhattans, in der er schon so manche Schlacht geschlagen hat, steht Miguel Cotto inmitten des Seilgevierts. Sein Gesicht ist gezeichnet, die Augen geschwollen. Die Haut des Puerto Ricaners ist durch schwere Treffer blutunterlaufen. Sein Kopf ist gesenkt, der Blick wirkt leer.
Der Ring um ihn herum hat sich bereits mit Betreuern und Promotern gefüllt, als aus den Lautsprechern die Stimme von Jimmy Lennon jr. ertönt. Es ist Zeit für das Urteil, das rechte Handgelenk von Referee Charlie Fitch fest umklammert. Aus Sekunden wird eine Ewigkeit. Fragen gibt es keine, die Wertung ist einstimmig. Cottos Arm bleibt unten.
Ein wankendes Lebenswerk
Knapp ein halbes Jahr nach der Niederlage gegen Floyd Mayweather jr., bei der er sich zwar teuer verkauft hatte, am Ende jedoch den unvergleichlichen Defensivkünsten nicht gewachsen war, wurde das Vermächtnis Cottos in seinen Grundfesten erschüttert. All die Schlachten, das Herzblut und die unerbittlichen Vorbereitungen schienen ihre Bedeutung verloren zu haben.
Zwar hatte Cotto den Ring schon zuvor zweimal als unterlegener Mann verlassen, die Begleitumstände waren aber stets andere. Im Jahr 2009 verlor er gegen Manny Pacquiao in der zwölften Runde durch technischen Knockout. Der unaufhaltsam wirkende Mann von den Philippinen war damals allerdings auf dem Höhepunkt. Über der Niederlage gegen Antonio Margarito, die Cotto ein Jahr davor kassierte, liegt zudem bis heute ein Schatten.
Sechs Monate nach dem Sieg über Cotto wurde Margarito aufgrund manipulierter Handschuhe, die vor dem Duell mit Shane Mosley entdeckt worden waren, für ein Jahr gesperrt. Obwohl Trainer Javier Capetillo die Verantwortung übernahm und von "einem schweren Fehler seinerseits" sprach, wird von vielen noch immer bezweifelt, dass es das einzige Mal war. Cotto wollte es jedenfalls nicht dabei belassen und nahm drei Jahre später selbst Rache.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
An diesem Abend im Big Apple war es jedoch anders. Ihm gegenüber stand kein Mann vom Format eines Mayweathers oder Pacquiaos, auch eine Manipulation gab es nicht. Gegen Rechtsausleger Austin Trout aus den Vereinigten Staaten konnte Cotto schlichtweg nicht an seine eigenen Ansprüche anknüpfen, wenngleich einige Runden eng waren.
Der ehemalige Titelträger im Halbweltergewicht, Weltergewicht sowie Halbmittelgewicht und einer der besten Boxer der so traditionsreichen puerto-ricanischen Geschichte stand am Scheideweg. Gar Spekulationen um ein mögliches Karriereende wurden laut. "Ich werde nun nach Hause zurückkehren und mir Gedanken machen", sagte Cotto - und nahm sich Zeit.
Statt die Handschuhe an den Nagel zu hängen und sich als zukünftiger Hall of Famer mit einer Niederlage zu verabschieden, entschied er sich jedoch für die einzige Alternative: einen Neuanfang. "Boxen ist mein Leben", unterstrich Cotto: "Durch den Sport habe ich meiner Familie ein gutes Leben ermöglicht. Ich arbeite, um ihr die bestmögliche Zukunft zu bieten. Deshalb liebe ich das Boxen."
Wie einst Jordan
Dass es ohne tiefgreifende Veränderung keine Renaissance seiner Karriere geben würde, war Cotto allerdings bewusst. Er handelte und die mit unzähligen Auszeichnungen dekorierte Trainerlegende Freddie Roach, inzwischen von der Boxing Writers Association of America zum siebten Mal als Trainer des Jahres ausgezeichnet, übernahm das Ruder. Sein bisheriger Coach Pedro Diaz musste gehen.
"Miguel hat mich kontaktiert und mir gesagt, dass er wohl noch drei Kämpfe in sich habe", erinnerte sich Roach gegenüber ESPN: "Er wollte, dass ich ihm helfe. Also haben wir uns zusammengesetzt und geredet." Bereits vor dem ersten Training habe er sich "auf die Herausforderung, mit Cotto zu arbeiten, gefreut", so Roach.
"Viele Leute haben immer gesagt, dass Michael Jordan ohne Scottie Pippen nicht Michael Jordan wäre", bemühte dieser einen Vergleich mit der NBA-Legende: "Ich denke, dass ich meinen Pippen in Freddie Roach gefunden habe." Es war eine Aussage, die er eindrucksvoll untermauern sollte. Cotto schien endlich wieder bereit, seinen Platz unter den Box-Legenden Puerto Ricos untermauern zu können.
Vergangenheit als Bürde
Durch Namen wie etwa Felix Trinidad, Wilfred Benitez oder Hector Camacho sind die Fußstapfen riesig, die Kämpfer wie Cotto aufgrund der glorreichen Vergangenheit ihrer Heimat ausfüllen müssen. Dennoch sollte ihm unter Roach in seinem zweiten Kampf etwas gelingen, das zuvor kein Puerto Ricaner vollbracht hatte. Schauplatz war erneut New York.
Im Garden dominierte Cotto seinen Kontrahenten Sergio Martinez. Nach zehn Runden hatte dessen Trainer Pablo Sarmiento genug und warf das Handtuch. Cotto bestimmte nicht nur Tempo und Härte, sondern arbeitete auch mit einer Präzision, die von ihm lange nicht in diesem Maß zu sehen war. Er durchlief unter Roach eine Entwicklung zurück zu seinen Wurzeln, vor allem sein gefürchteter linker Haken verbreitete wieder Angst und Schrecken.
"Ich hatte noch nie in meinem Leben solch eine exzellente Vorbereitung", wusste Cotto, wem es zu danken galt. Durch den Gewinn des WBC-Gürtels im Mittelgewicht gelang es ihm als erstem Puerto Ricaner Gürtel in vier Gewichtsklassen zu erkämpfen. Die Demontage von Daniel Geale, welche im Sommer folgte, war eine weitere Demonstration. Cottos nächste Prüfung ist jedoch von einem anderen Kaliber.
Ein weiteres glorreiches Kapitel?
"Ich will den Fans das geben, was sie unbedingt sehen wollen", sagte Cotto nach der Verkündung seines Kampfes gegen Saul Alvarez, den alle nur Canelo nennen: "Ich habe immer gesagt, dass ich gegen die größtmöglichen Namen antreten will. Es wird ein weiteres Kapitel meiner Geschichte und ein Klassiker zwischen Puerto Rico und Mexiko."
Dass die Bedeutung für ihn größer ist als jeder Titel, unterstrich Cotto bereits im Vorfeld. Eigentlich sollte er als Champion in das Duell gehen, allerdings war er nicht bereit, eine Gebühr der WBC in Höhe von 300.000 US-Dollar auf den Tisch zu legen. Der Gürtel wurde ihm deshalb aberkannt. Alvarez zahlte. Siegt der Mexikaner, ist er Weltmeister. Siegt Cotto, wandert der Titel wohl in die Hände des Kasachen Gennady Golovkin.
Auch mit dieser fragwürdigen Situation im Hinterkopf erwartet die Boxwelt ein großer Fight. Beide sind Boxer, die stets die Entscheidung suchen, gehören zu den Kämpfern mit der größten Schlagkraft in ihrer Gewichtsklasse. Ihr Stil ist deshalb wie geschaffen, eine epische Schlacht heraufzubeschwören. Ein Faktor sorgt dabei besonders für Spannung: das Alter.
Trügerische Vorteile
Cotto ist 35 Jahre alt, bei seinem Debüt war Alvarez elf. Zehn Jahre Trennen beide Männer. Wer nun den klassischen Kampf zwischen dem alten Hasen und dem aufstrebenden Herausforderer erwartet, der könnte jedoch in vielerlei Hinsicht falsch liegen. Ende Oktober diesen Jahres feierte Alvarez bereits sein 10-jähriges Jubiläum als Profi. Überzeugende 45 Siege, ein Remis und eine Niederlage - eine Lehrstunde durch Mayweather - stehen zu Buche.
Alvarez stand 314 Runden im Ring - fünf mehr als Cotto. Der Puerto Ricaner kommt bisher auf 40 Siege bei vier Niederlagen, hat also zudem weniger Einsätze vorzuweisen. Dennoch hat er einen Vorteil. Er stand bereits mehrfach auf der größtmöglichen Bühne, hat alles erlebt. Alvarez kann außer dem Mayweather-Duell wenig entgegensetzen. Allerdings hat der Mexikaner seine besten Jahre erst noch vor sich.
Auch bei der Fitness könnte das vom Alter projizierte Bild trügen. Roach sieht seinen Schützling, auf dessen Konditionseinheiten er viel Wert legt, sogar im Vorteil. "Ich habe Canelos Trainingsroutine gesehen, als er in meinem Gym trainiert hat", offenbarte Roach: "Ich weiß, dass er nicht größte Arbeiter auf diesem Planeten ist. Ich hingegen habe einen Schützling, der alles tun würde, um zu gewinnen."
Dennoch ist Cotto in Sachen Größe, Reichweite, Power und Ausdauer unterlegen. Aspekte, die er mit Vielseitigkeit, Defensive, Technik sowie Handgeschwindigkeit ausgleichen muss. Dass Roach seinem Gegenüber Jose Reynoso und dessen Sohn Eddy taktisch klar überlegen ist und immer einen Plan B hat, kommt hinzu. Das Duell mit Alvarez ist somit für Cotto die ideale Gelegenheit, sein Vermächtnis zu festigen und den Verpflichtungen, die ihm die Vergangenheit mit auf den Weg gegeben hat, einmal mehr gerecht zu werden.