Wenn Canelo Alvarez in der Nacht von Samstag auf Sonntag (ab 3 Uhr im LIVESTREAM FOR FREE) gegen Amir Khan in den Ring steigt, schaut die gesamte Boxwelt gespannt nach Las Vegas. Der Mexikaner gilt nach den Rücktritten von Floyd Mayweather Jr. und Manny Pacquiao als das nächste Gesicht des Boxens und muss im Duell um seinen WBC-Gürtel im Mittelgewicht gegen den Briten deshalb unbedingt liefern. Beim neuen Golden Boy ist allerdings nicht alles Gold, was glänzt.
Insgesamt 326 Runden stand Saul Alvarez, der aufgrund seiner Haarfarbe nur Canelo genannt wird, in den letzten zehn Jahren im Ring. Nach 48 Kämpfen kann der Mexikaner eine Bilanz von 46 Siegen, einer Niederlage sowie einem Remis vorweisen. Er selbst musste dabei nie auf die Bretter, aber 32 seiner Konkurrenten bekamen den letzten Gong nicht zu hören.
Was zunächst nach einer fortgeschrittenen Karriere jenseits der Prime eines Boxers klingen mag, täuscht jedoch gewaltig. Mit gerade einmal 25 Jahren ist der Mann aus Guadalajara noch weit davon entfernt, die Boxhandschuhe an den Nagel zu hängen. Vielmehr steht der WBC-Weltmeister im Mittelgewicht kurz davor, nicht nur ein ganzes Land auf seinen Schultern zu tragen, sondern auch den gesamten Boxsport.
Eine Lehrstunde vom Besten
"Ich mag zwar noch immer sehr jung sein, aber ich habe bereits eine Erfahrung als Profi von mehr als zehn Jahren", sagte Canelo, der schon im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal professionell in den Ring gestiegen war, nachdem ihm im Amateurbereich in seiner Heimat die Gegner ausgegangen waren. Nur um Sekunden später mit einer beängstigenden Bestimmtheit nachzuschieben: "Jetzt ist meine Zeit." Der 25-Jährige klang dabei keineswegs arrogant, sondern selbstsicher. Wenngleich der erste Versuch in einem Desaster endete.
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Vor drei Jahren wollte ein 22-jähriger Canelo der stolzen Box-Geschichte Mexikos ein weiteres großes Kapital hinzufügen und Floyd Mayweather Jr., den schier unbesiegbaren Dominator des Weltergewichts, die erste Niederlage in dessen illustrer Karriere beibringen. Er wurde vom US-Amerikaner jedoch wie ein Schuljunge vorgeführt, gedemütigt - und danach gelobt. Trotz der Demontage ernannte der amtierende Champion seinen Gegner bereits damals zu seinem "zukünftigen Nachfolger".
So mancher vorschnelle Kritiker sah dies jedoch etwas anders und sprach Alvarez in der Folge kurzerhand die Klasse ab. Die meisten bezogen in ihrem Urteil allerdings nicht ein, gegen wen und in welchem Alter Canelo da gerade gekämpft hatte. Der Mexikaner selbst tat das einzig Richtige und ordnete die Niederlage "als wichtige Lehre für die weitere Entwicklung" ein. Eine Einstellung, von der er heute profitiert.
"Ich habe gegen große Kämpfer geboxt. Gab es dabei Fehler? Ja, natürlich. Es sind aber Dinge, an denen ich arbeite. Und diese wird es auf meinem Weg immer geben", erklärte Canelo unlängst. Es handelt sich um einen Weg, der auch drei Jahre und vier Kämpfe später noch lange nicht abgeschlossen ist, der Canelo allerdings dennoch bereits in Position gebracht hat, als Fackelträger eine Generation und die ganz großen Events anzuführen.
Evolution statt Revolution
Erreicht hat der Linksausleger diesen Status zusammen mit seinem Team um das Trainer-Duo Chepo und Eddy Reynoso. Wenngleich nicht wenige behaupten, dass ein Wechsel zu einem renommierteren Coach für den nächsten Schritt unumgänglich sei. Dieser soll jedoch unter den Reynosos erfolgen. Aktuell liegt der Fokus im Training deshalb auf Stabilität, Balance sowie Muskelelastizität. Auch weitere Schwachstellen werden gezielt angegangen.
Die Ausdauer spielt dabei allein deshalb eine übergeordnete Rolle, da eine der größten Stärken des Mexikaners seine Fähigkeit ist, nicht nur einzelne Schläge ins Ziel zu bringen, sondern mit Kombinationen Lücken in der Defensive seines Gegenübers zu schaffen und diese anschließend zu nutzen. Die Hände des 25-Jährigen variieren dabei und sind so für den jeweiligen Gegner trotz intensiven Videostudiums auch ohne die ungewöhnlichsten Winkel schwer zu verhindern.
Seien es Schlagserien mit der gleichen Hand, die je nach sich bietender Möglichkeit auf Körper oder Kopf abzielen, Kombinationen beider Fäuste oder einfach das Ausnutzen von Fehlern: Canelos Arsenal kann sich sehen lassen. Ist der Gegner im Ring deshalb auch nur eine Sekunde nicht bei der Sache, könnte es seine letzte gewesen sein.
Besonders häufig sticht jedoch die Kombination aus einem schnellen linken Haken gefolgt von einer harten Rechten hervor. Im Gegenzug läuft Alvarez jedoch Gefahr, sich noch zu schnell zu verausgaben, was an seiner deutlich abnehmenden Workrate in den späten Runden ersichtlich wird. Ein Risiko, dass er zwar eingehen will und auch muss, das er mit zunehmender Erfahrung gegen starke Gegner allerdings immer besser kontrollieren kann. Der größte Duracell-Hase im Boxsport wird er aber definitiv nie sein.
Knockout? Kontrolle!
Aufgrund seiner Kombinationen sowie des Drucks, den sein Offensivpotential mit sich bringt, ist die Kontrolle über das Geschehen im Ring ebenfalls ein wichtiger Vorzug des gereiften Mexikaners. Hier kommt vor allem der langezogene linke Haken ins Spiel, der den Gegner dazu zwingt, sich zur eigenen linken Seite zu bewegen. Eine Bewegung, die Canelo mit einem linken Aufwärtshaken oder einer Rechten, in die sich sein Gegenüber hinein bewegt, ausnutzt.
Zieht Canelo den Haken nicht bis zum Kinn durch, landet dieser im mittleren Körperbereich seines Kontrahenten. Generell entspricht die gute Arbeit zum Körper, den Erwartungen, die an einen Boxer aus der mexikanischen Schule nahezu vorausgesetzt werden. Durch seine Variabilität kann er Haken in sämtlichen Varianten einstreuen. Gegen Shane Mosley zeigte er etwa einen rechten Aufwärtshaken Richtung Kopf als Finte, nur um den US-Amerikaner mit dem linken Haken schwer in dessen Körpermitte zu treffen.
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Raum für Verbesserungen
Auch der Jab Canelos kann sich durchaus sehen lassen, wenngleich er mit seiner Führhand noch deutlich mehr im petto hat. Im Vergleich zum regulären Jab, der in der Regel aus der Grundposition mit der linken Schulter deutlich vor der rechten geschlagen wird, zieht der Mexikaner seine linke Schulter zurück, legt so sein Körpergewicht auf den linken Teil der Hüfte und nachfolgend in den Schlag, der für den Gegenüber überraschend schnell und hart kommt. Ein Ausweichen ist kaum möglich. Doch auch beim Mexikaner ist nicht alles Gold, was glänzt.
Die schnellsten Hände im Boxsport hat Canelo nicht. Ein Umstand, der vor allem gegen bewegliche Boxer wie Erislandy Lara zu Problemen führen kann - und auf den auch sein nächster Gegner, Amir Khan, große Hoffnungen setzen wird. Gegen den Kubaner brachte Canelo, der nicht zu den mobilsten Kämpfern gehört, bei seinem Sieg via Split Decision nur 22 Prozent seiner Schläge ins Ziel. Ähnliche Probleme hatte er gegen Mayweather. Auch seine Beinarbeit und die Fähigkeit den Ring abzuschneiden haben noch Luft nach oben.
Treffen und getroffen werden
Aufgrund der offensiven Grundhaltung und der Power wird die Defensive Canelos hingegen oftmals falsch eingeschätzt. Zumal er inzwischen auch aus der selbiger heraus in Form von Kontern erheblich mehr Schläge anbringen kann, als es noch vor Jahren der Fall war. Weshalb ihm auch Trainer-Legende Freddie Roach unlängst "eine große Entwicklung, die noch lange nicht zu Ende ist", attestierte.
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In der Regel ist es aber Canelo, der Druck aufbaut und im Vorwärtsgang agiert, ohne dabei die Geduld zu verlieren, seine defensiven Bewegungen des Kopfs sind zudem inzwischen ein probates Mittel. Seine Auffassungsgabe und die Fähigkeit, den Gegner zu timen, stechen heraus und werden gegen Khan von Bedeutung sein.
Dennoch muss Canelo durch seine Art vor allem mit dem Kopf Schlägen auszuweichen und nicht wie Mayweather mit einer kompletten Bewegung, hin und wieder auch Treffer einstecken. Da er zuletzt mit körperlich unterlegenen Gegnern - zu denen trotz seiner Leistungen auch ein Miguel Cotto zu zählen ist - im Ring stand, konnte er diesen Umstand gut verschleiern.
Auch Khan dürfte nicht die höchste Knockout-Gefahr für den Mexikaner darstellen. Deshalb dürfte nur eine überzeugende Vorstellung und ein vorzeitiges Ende aus eigener Sicht den Ansprüchen in der Nacht auf den 8. Mai genügen. Danach muss sich der neue Golden Boy des Boxsports zeitnah Herausforderungen stellen, die keinen Raum für Zweifel lassen.