Vorbereitung
Am 28. November 2015 bestritt Wladimir Klitschko seinen letzten Kampf. Wenn sich der ehemalige Weltmeister im Schwergewicht am 29. April im Londoner Wembley Stadium seinen Weg zum Ring bahnen wird, dann liegen 519 Tage ohne Wettbewerb hinter dem inzwischen 41-Jährigen. Eine Zeit, die an keinem Boxer spurlos vorbei geht. Umso wichtiger war für den Ukrainer deshalb die übliche Vorbereitung. Diese verlief äußerst ruhig.
Während Anthony Joshua via Social Media täglich die unterschiedlichsten Wasserstandsmeldungen und Videos an die Öffentlichkeit beförderte und zudem in der britischen Presse omnipräsent war, ließ es Klitschko weniger dramatisch angehen und setzte auf Altbewährtes. Nach einem langen Aufenthalt in Kiew ging es in der Folge wie gewohnt in das Bio- und Wellnesshotel Stanglwirt in Österreich. Dass Klitschko dort erneut beste Bedingungen vorfand, ist hinlänglich bekannt.
Zusammen mit seinem Trainer Johnathon Banks bereitete sich der Ukrainer auf den vielleicht letzten Kampf seiner großen Karriere vor - und das mit nur einem Ziel vor Augen: "Ich bin besessen davon, wieder Champion zu werden", erklärte Klitschko, dem sich gegen Joshua aber vor allem die Chance bietet, die Schmach der desaströsen Niederlage gegen Tyson Fury zumindest etwas verblassen zu lassen. Er sei offiziell der Underdog, schilderte Klitschko, schob allerdings direkt nach: "Ich bin lange nicht mehr in dieser Situation gewesen. Ich fühle mich jung und herausgefordert. Ich liebe es."
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Auf der Gegenseite schickte Trainer Robert McCracken, der Joshua bereits im Jahr 2012 zu Gold bei den Olympischen Spielen in London geführt hatte, seinen Schützling im 98 Tage andauernden Trainingscamp unter anderem mit Frazer Clarke und Joe Joyce zum Sparring in den Ring. Beide sind Teil des Kaders von Großbritannien. Insgesamt absolvierte der Youngster 660 Runden. Hinzu kamen Ausdauereinheiten unter Aufsicht von Fitness-Coach Jamie Reynolds sowie ein Fokus auf die Beinarbeit mit Sunny Edwards im English Institute of Sport in Sheffield. Dem größten Multisport-Komplex der Insel, der von der Ausstattung einem Sportler alles bietet. Viereinhalb Stunden schuftete Joshua pro Tag.
Beide Boxer wurden somit in den vergangenen Wochen und Monaten von ihrem jeweiligen Team nahezu perfekt eingestellt. Jede Einheit, jede Mahlzeit und auch der Schlafrhythmus wurden in einen exakt ausgearbeiteten Plan eingebettet, der auf den Leistungshöhepunkt am 29. April ausgelegt ist.
SPOX-Urteil: Unentschieden
Erfahrung
Stolze 68 Kämpfe und insgesamt 358 Runden hat Klitschko als Profi auf dem Buckel. Der Ukrainer steht seit seinem Debüt am 16. November 1996 gegen Fabian Meza als Profi im Ring. Hinzu kommen 28 Titelkämpfe im Rahmen der vier großen Verbände WBA, WBO, WBC und IBF sowie 23 erfolgreiche Titelverteidigungen während zweier Regentschaften.
Während Klitschko mit Meza kurzen Prozess machte, träumte sein Gegenüber noch nicht einmal von einer Karriere als Boxer. Joshua war im November 1996 gerade einmal sieben Jahre alt. Inzwischen bringt es der Youngster immerhin auf 18 Kämpfe und 44 Runden. Zwei Mal stand Joshua über sieben Runden im Ring, ansonsten benötigte der 27-Jährige nie länger als drei Runden, um seine Gegner in die Knie zu zwingen. Er hat zwei Titelverteidigungen seines IBF-Gürtels in seinem Kampfrekord. Der Nachteil könnte kaum größer sein.
Durch die Kulisse kommt der Erfahrung sogar ein noch größerer Faktor zu. Ob die Zuschauer im Wembley Stadium beim Heimspiel Joshuas im Endeffekt überhaupt ein Vorteil sein werden, muss sich trotz der zu erwartenden Atmosphäre zu Gunsten des Lokalmatadors zeigen. Für Klitschko, der bereits auf den größtmöglichen Bühnen der Box-Welt um die bedeutendsten Gürtel des Business gekämpft hat, wird die Location zwar ebenfalls etwas Besonderes sein, ablenken lassen wird er sich allerdings nicht. "Ich werde versuchen, all meine Erfahrung auszuspielen, um zu gewinnen", erklärte Klitschko nicht umsonst.
Zwar versicherte Joshua, dass er "gelernt hat, die Energie der Fans zu nutzen", dennoch dürfte der Druck beim Betreten der Arena Ausmaße annehmen, die der Brite nicht abschätzen kann. Trotzdem herrscht beim IBF-Weltmeister Optimismus: "Ich habe noch nie vor 90.000 geboxt, habe aber gelernt, die Energie des Publikums für mich zu nutzen und sie ins Positive umzuwandeln. Ich werde die Welle reiten."
SPOX-Urteil: Vorteil Klitschko
Schlagkraft
Klitschko hat sich über die Jahre den Spitznamen "Dr. Steelhammer" erarbeitet. Und dieser kommt nicht von ungefähr. Eine Knockout-Quote von 78 Prozent (54 Knockouts) unterstreicht die Power des Ukrainers eindrucksvoll, wenngleich imposante Niederschläge in den letzten Duellen eine Seltenheit waren. Vor allem das Duell mit Tyson Fury dürfte bei vielen große Zweifel geweckt haben. Dennoch: Die Schlagkraft Klitschkos, die etwas niedriger ist als in seiner Prime, gehört zu den größten im Schwergewicht und kann jedem Gegner zum Verhängnis werden.
Neben den Power-Punches profitiert Klitschko zudem am meisten von seinem Jab, der von so manchem Boxer bereits unterschätzt wurde. Der Vorzeigeschlag dient bei ihm nicht nur dazu, die richtige Distanz zum Gegner zu finden und auf den Scorecards der Punktrichter wertvolle Zähler zu sammeln, sondern verfügt auch über eine Härte und Präzision, die es im Schwergewicht selten gibt. Klitschko bringt ihn laut CompuBox-Statistiken im Schnitt 8,7 Mal pro Runde ins Ziel und trifft zu 30,1 Prozent. Ergänzt mit dem linken Haken, ergibt sich ein potentes Arsenal, das einige Opfer gefordert hat.
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Dass es Joshua nicht an der nötigen Power mangelt, zeigt ein kurzer Blick auf seine bisherigen Kämpfe. Der Brite hat eine perfekte Bilanz, die Knockout-Quote beträgt 100 Prozent. Schaut man sich die bisherigen Gegner genauer an, wird schnell deutlich, dass sich die Aussagekraft in Grenzen hält. Wirklich starke Kontrahenten hat der Brite bisher nicht vor die Fäuste bekommen. Mit einem Altersvorteil von 14 Jahren und einer Rechten, die das Schwergewicht in den kommenden Jahren verändern kann, hat der Brite mit der beeindruckenden Muskelmasse gegenüber Klitschko trotz allem einen leichten Vorteil, obwohl dieser nicht ganz so enorm ausfällt, wie es im Vorfeld einige zu prognostizieren versuchten.
SPOX-Urteil: Vorteil Joshua
Kinn
Wenn man bei Klitschko abgesehen von der indiskutablen Leistung gegen Fury in den vergangenen Jahren eine Schwachstelle gesucht hat, dann dürfte man maximal beim Kinn hängengeblieben sein.
Dass Klitschkos Kinn nie das härteste und so für viele Gegner der einzige Hoffnungsschimmer am Horizont war, ist keine Neuigkeit. Wirklich ausnutzen konnte dies seit Lamon Brewster aber niemand mehr - selbst nicht Fury.
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Der Grund hierfür ist simpel. Klitschko hat zusammen mit seinem inzwischen verstorbenen Trainer Emanuel Steward aus dem Brewster-Debakel die nötigen Lehren gezogen und seine Defensivarbeit deutlich verbessert. Besonders der Jab als Kontrollinstrument sowie teils eklatante Vorteile in Sachen Größe, Technik und Schlagkraft ließen ihn unverwundbar werden. Wurde es doch eng, ging es in den Clinch, um die körperlichen Vorteile noch weiter auszureizen. Das Problem daran? Der Plan wird gegen Joshua nicht funktionieren.
Aber wie sieht es überhaupt beim Briten aus? Über das Kinn seines Gegenübers kann eigentlich nur gerätselt werden. Kein Gegner hatte auch nur ansatzweise das Niveau, um Joshua ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Sollte Klitschko klare Treffer landen, könnte es für den Youngster schneller vorbei sein als gedacht. Schafft er es, seine Rechte ins Ziel zu bringen, dann winkt im Gegenzug der vorzeitige Sieg. Im Vorfeld einen Vorteil auszusprechen, macht keinen Sinn.
SPOX-Urteil: Unentschieden