Die deutschen Athleten haben bei den Europameisterschaften in Barcelona die Erwartungen übertroffen: Statt zehn gab es 16 Medaillen, und der eine oder andere wurde bereits als der neue Stern am Leichtathletik-Himmel gefeiert. Doch ist die Euphorie gerechtfertigt? Wie stehen unsere Chancen für die Olympischen Spiele in London? SPOX nimmt die Erfolge genauer unter die Lupe.
16 statt der anvisierten zehn Medaillen, Sensations-Gold im 100-Meter-Sprint und im Weitsprung, Überraschungen wie Matthias de Zordos Silber im Speerwurf und Carsten Schlangens zweiter Platz über die 1500 Meter.
Trotz kleiner Wermutstropfen übertrafen die Erfolge des DLV-Teams bei der Europameisterschaft in Barcelona alle Erwartungen - und animieren bereits zum Träumen vom olympischen Medaillenregen 2012 in London.
"Sind schon viel weiter als wir 2008 in Peking waren"
DLV-Präsident Clemens Prokop zumindest sieht Deutschland schon den olympischen Medaillenspiegel in London durcheinanderwirbeln: "Das ist es, was wir so lange vermisst haben. Gemessen am Weltniveau hätten unsere Athleten heute bei Olympia bessere Chancen als Russen, Briten und Franzosen. Wir sind zwei Jahre vor London schon viel weiter, als wir 2008 in Peking waren. Dort und auch bei der WM 2011 im südkoreanischen Daegu wollen wir auf dieser Erfolgsebene von Barcelona weiter machen."
Doch wie realistisch ist diese ambitionierte Zielsetzung? Was sagen die Leistungen bei der EM tatsächlich aus? Und vor allem: Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich? SPOX ordnet die Erfolge ein.
Laufdisziplinen
100 Meter Damen
Verena Sailers Goldmedaille über die 100 Meter - ein Riesenerfolg. Doch mit ihrer Zeit von 11,10 Sekunden wird sie in London keinen Blumentopf gewinnen. Möglicherweise wird sie sogar Schwierigkeiten haben, ins Finale zu kommen.
Schon bei der WM 2009 in Berlin scheiterte sie mit 11,24 Sekunden im Halbfinale - und ist mit ihrer Zeit deutlich von den Top-Sprinterinnen entfernt. Die Jamaikanerin Veronica Campbell-Brown lief dieses Jahr bereits 10,78 und ist mit insgesamt drei Olympischen Goldmedaillen ein ganz heißer Tipp für London.
4x100 Meter Herren und 100 Meter Herren
Für die deutschen Herren gab es in Barcelona Bronze über die 4x100 Meter: Tobias Unger, Marius Broening, Alexander Kosenkow und Martin Keller liefen mit 38,44 Sekunden Frankreich (38,11) und Italien (38,17) hinterher. Mit dieser Zeit wäre bei der WM 2009 nur Platz sechs herausgesprungen. Damals gewann Jamaika in 37,31 Sekunden.
Doch nicht nur die Deutschen müssen in den Laufdisziplinen einen Vergleich mit der Elite scheuen, auch Frankreichs neuester Vorzeigesprinter Christophe Lemaitre wird gegen die Jamaikaner alt aussehen. Sein historisches Triple mit Siegen über die 100 Meter, 200 Meter und mit der 4x100 Meter-Staffel ist gut und schön - doch bei einer WM oder bei Olympia wird es nicht einmal mehr zu einer einzigen Medaille reichen.
Auch aufgrund seiner desolaten Kurventechnik, bei der die Topsprinter aus Übersee die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden. "Christophe Lemaitre - Europas Usain Bolt" titelten die Zeitungen und Lauf-Legende Armin Hary verkündete: "Er ist schon jetzt ein Großer".
Aber: Der Vergleich mit Bolt ist an den Haaren herbeigezogen. Zum Vergleich: Lemaitre lief die 100 Meter in Barcelona in 10,11 Sekunden. Seine persönliche Bestzeit liegt immerhin bei 9,98 Sekunden - damit ist er der erste weiße Sprinter unter der 10-Sekunden-Schallmauer. Aber ein Bolt läuft 9,58 Sekunden. Bei den 200 Metern sieht es ähnlich aus: Lemaitre gewann mit einer Zeit von 20,37 Sekunden, Bolt hält den Weltrekord mit 19,19 Sekunden. Über eine Sekunde läuft der Franzose langsamer - im Sprint sind das Welten.
4x400 Meter Damen
Und was ist mit den Staffel-Damen? Da gab's Silber über die 4x400 Meter. Janin Lindenberg, Esther Cremer, Fabienne Kohlmann und Claudia Hoffmann liefen eine Zeit von 3:24,07 Minuten. EM-Sieger Russland lief eine Weltjahresbestleistung von 3:21,26 Minuten.
Doch auch das wird gegen die USA und Jamaika nicht reichen. 3:17,83 brachten den US-Mädels 2009 WM-Gold ein. Deutschland belegte damals in anderer Besetzung Platz fünf (3:27,61).
1500 Meter
Said Aouita, Noureddine Morceli, Hicham El Guerrouj - diese Namen sagen auch einem Laien etwas. Die drei Nordafrikaner dominierten die 1500-Meter-Szene: Seit 1996 gewann kein Läufer außerhalb Afrikas in dieser Disziplin die olympische Goldmedaille.
Carsten Schlangen schwang sich zu seiner eigenen Überraschung in Barcelona zum Silbermedaillengewinner auf - mit einer Zeit von 3:43,52 Minuten. Den Weltrekord über diese Strecke hält immer noch der Marokkaner El Guerrouj, der 1998 in Rom 3:26,00 Minuten lief.
Die Weltjahresbestleistung hält Silas Kiplagat mit 3:29,27 Minuten. Allerdings: In einem taktisch geprägten Rennen kann man auch mit einer langsameren Zeit gewinnen.
Hier geht's weiter zu den Sprungdisziplinen
Sprungdisziplinen
Weitsprung
Und wie sieht es bei den Sprung-Disziplinen für die Deutschen aus? Beruhigenderweise: Wesentlich besser! Weitspringer Christian Reif, der mit einem Riesensatz und persönlicher Bestleistung über 8,47 Meter Gold holte, hat bei einer WM zumindest Medaillenchancen.
Zur Erinnerung: Bei der WM 2009 holte Dwight Phillips (USA) mit 8,54 Metern Gold, Godfrey Khotso Mokoena (RSA) mit Reifs Marke von 8,47 Metern bereits Silber. Mike Powells Weltrekord von 8,95 Metern, gesprungen 1991 in Tokio, wird wohl noch länger unerreicht bleiben.
Hochsprung
Gut sieht es für Deutschland zudem im Hochsprung aus. Das Duell Ariane Friedrich gegen die Kroatin Blanka Vlasic wird auch durch etwaige Athletinnen aus Amerika nicht getrübt werden.
Bei der diesjährigen EM war die Schwedin Emma Green die lachende Dritte, die Friedrich einen Strich durch die Rechnung machte und mit Silber dekoriert wieder nach Hause fuhr. Weitere ernsthafte Konkurrenten? Fehlanzeige. Vor allem nicht aus Übersee.
Bei der WM 2009 versumpfte die US-Amerikanerin Chaunte Howard als einzige Nicht-Europäerin mit einer Höhe von 1,96 Metern auf dem siebten Platz. Von 54 Athletinnen, die jemals die Zwei-Meter-Hürde geknackt haben, stammen nur zwölf nicht aus Europa.
Stabhochsprung
Auch der Stabhochsprung ist größtenteils in europäischer Hand. Aber nicht ganz, denn der australische Olympiasieger Steve Hooker zeigte bei der WM 2009 seinen europäischen Konkurrenten die lange Nase, als er verletzt nur einen Sprung absolvierte (5,90 Meter), der glatt für Gold reichte.
Ansonsten haben die Franzosen ein Abonnement für die Medaillen, allen voran Renaud Lavillenie und Romain Mesnil. Malte Mohr, der von den Deutschen das größte Potential hat, scheiterte überraschend in der Qualifikation. Seine Bestleistung beträgt immerhin 5,80 Meter. Mit dieser Höhe hätte er sich bei der EM mit dem Ukrainer Maksym Mazuryk um die Silbermedaille gestritten.
Bei den Damen hat Deutschland ein starkes Trio am Start: Silke Spiegelburg, Lisa Ryzih und Carolin Hingst. Für ganz vorne reichte es bei der EM diesmal nicht: Die Russin Swetlana Feofanowa holte sich Gold und ließ Spiegelburg und Ryzih das restliche Edelmetall übrig.
Siegeshöhe waren übrigens 4,75 Meter. Süß, denn darüber kann eine Jelena Issinbajewa in Topform nur lächeln - sie hält den Weltrekord von 5,05 Metern, pausiert aber gerade.
Ein Glück für unsere Mädels. Die haben bei der nächsten WM oder auch bei Olympia durchaus Medaillenchancen, aufpassen sollten sie aber auf Chelsea Johnson (USA, WM-Zweite 2009) und die Brasilianerin Fabiana Murer.
Hier geht's weiter zu den Wurfdisziplinen
Wurfdisziplinen
Speer
Das Speerwerfen ist fest in norwegischer Hand - zumindest bei den Männern. Andreas Thorkildsen reist immer wieder lächelnd zu den Wettkämpfen, denn bitte schön, wer soll ihn schon schlagen? Er ist Olympiasieger, Weltmeister und nun erneut Europameister - und keiner in Sicht, der ihm derzeit gefährlich werden könnte.
Aber da wäre ja noch Matthias de Zordo, der den Norweger zur Überraschung beider durchaus ins Schwitzen brachte und am Ende Silber kassierte. Thorkildsen atmete auf, hatte er doch eher mit dem Finnen Tero Pitkämäki als ärgstem Konkurrenten bei der EM gerechnet.
Dennoch, die WM wird für De Zordo der nächste Härtetest, denn da lauern auch der Kubaner Guillermo Martinez und der Japaner Yukifumi Mirakami, die 2009 Edelmetall holten - mit seiner Weite von 87,81 Metern hätte de Zordo damals allerdings ebenfalls Silber geholt.
Auch bei den Damen kommen die Favoriten aus Deutschland: Neben Christina Obergföll spricht aber auch die Tschechin Barbora Spotakova bei der Medaillenvergabe ein Wörtchen mit. Und vergessen wir nicht Überraschungssiegerin Linda Stahl.
Die schraubte ihre Bestleistung um 75 Zentimeter nach oben auf 66,81 Meter. Das hätte ihr in Peking eine Bronzemedaille beschert. Insgesamt kamen mit Obergföll und Katharina Molitor gleich drei Deutsche unter die ersten vier - das lässt hoffen.
Diskus
68,47 Meter reichten Diskuswerfer Robert Harting zur Silbermedaille. Aber nicht, um zufrieden zu sein. "Mir ist heute kein Ausreißer nach oben gelungen. Ich wollte eigentlich die 70 Meter knacken", sagte der 25-Jährige anschließend.
Die warf der polnische Sieger Piotr Malachowski ebenfalls nicht (68,87 Meter). Dennoch - die Medaillen werden auch bei der WM unter den beiden und vielleicht noch dem Esten Gerd Kanter und Virgilijus Alekna aus Litauen verteilt. Die Sportler aus Übersee sind hier nur Dekoration.
Kugel
Beim Kugelstoßen fehlte bei den Europameisterschaften die Stärkste: Olympiasiegerin und Weltmeisterin Valerie Vili aus Neuseeland. Und auch die Chinesinnen sind immer für eine Medaille gut: Gong Lijiao holte 2009 WM-Bronze. Und schließlich gibt es noch Michelle Carter aus den USA.
Nadine Kleinert, die bei der WM mit 20,20 Metern Silber gewann, belegte in Barcelona nur einen enttäuschenden siebten Platz - will aber in London noch einmal angreifen. Und drauf hat sie die Weiten, die dort für eine Medaille notwendig sein werden.
Eine enge Kiste war es dieses Jahr bei den Herren: Ralf Bartels stieß die Kugel 20,93 Meter weit und belegte damit Platz drei - nur neun Zentimeter hinter dem Sieger Andrej Michnewitsch.
Für ganz nach vorne reicht es damit aber nicht: Der Weltmeister und Olympia-Zweite Christian Cantwell aus den USA wird in London wieder angreifen - und er hat dieses Jahr schon die Bestweite mit 22,41 Metern aufgestellt. Auch gefährlich: Der EM-Zweite Tomasz Majewski. Ihm reichten in Peking 21,51 Meter zum Sieg.
Hier geht's weiter zu den Mehrkampf-Disziplinen und dem Fazit
Mehrkampf-Disziplinen
Zehnkampf
Zehnkämpfer Pascal Behrenbruch war diesmal nicht dabei, befindet sich aber dennoch bei internationalen Wettkämpfen durchaus im erweiterten Favoritenkreis. Bei der WM belegte er mit 8439 Punkten immerhin den sechsten Platz.
Beachtlich: Behrenbruch hatte nur lächerliche 14 Punkte weniger als Romain Barras, der frischgebackene Europameister in Barcelona. Michael Schrader war verletzt nicht dabei, er aber gewann im vergangenen Jahr das Meeting in Götzis - mit 8522 Punkten. In Barcelona wäre das die Goldmedaille gewesen. Also: Alles drin für die Zukunft!
Siebenkampf
Und bei den Damen? Jennifer Oeser legte in Barcelona eine bärenstarke Leistung hin, verbuchte vier persönliche Bestleistungen und steigerte ihre Punktezahl beim WM-Silber 2009 in Berlin noch einmal um 190 Zähler auf 6683 Punkte.
Gegen die Britin Jessica Ennis kam sie trotzdem nicht an, die sammelte 6823 Punkte - deutlich mehr als die Deutsche. Vor Konkurrenz aus Übersee muss sich Oeser bei der nächsten WM oder den Olympischen Spielen aber nicht fürchten - die Top-Siebenkämpferinnen kommen aus Europa. Immer auf der Liste sollte man die Polin Kamila Chudzik und die starken Ukrainerinnen um Natalja Dobrynska haben.
Fazit
Auf Medaillen bei den Lauf-Disziplinen sollten wir in London nicht hoffen - zu stark sind die US-Amerikaner und Jamaikaner. Eine Final-Teilnahme der Deutschen ist hier schon das Höchste aller Gefühle.
Hingegen sieht es bei den meisten Sprung-, Wurf-, aber auch Mehrkampf-Disziplinen gut für uns aus. Hier stammen die Favoriten aus Europa - und dass die Deutschen gut mithalten können, haben die 16 Medaillen in Barcelona bewiesen.