SPOX: Sie selbst sind ebenfalls nach Ihrer Zeit in der Formel 1 wieder in die USA zurückgekehrt. Mo Nunn Racing gab Ihnen für die Saison 2001 ein Auto, Sie hatten ein schwieriges Jahr, fuhren nur bei drei von 14 Rennen in die Top 10. Dann kam der 11. September, die CART-Serie nannte die vier Tage später stattfindende Premiere auf dem Eurospeedway Lausitz kurzerhand in American Memorial 500 um und Sie fuhren plötzlich ganz vorne mit. Zwölf Runden vor dem Ende kamen Sie als Führender zum letzten Boxenstopp. Dann der GAU: Bei der Ausfahrt verloren Sie die Kontrolle über das Auto, drehten sich auf der Strecke vor Turn 1 und wurden seitlich von Alex Tagliani getroffen. Sie wurden schwer verletzt, wurden per Helikopter in die Berliner Charite geflogen, drei Stunden lang notoperiert, die Ärzte amputierten beide Beine. Welche Erinnerungen haben Sie noch an den Tag?
Zanardi: Leider nicht viele. Bei so einem Trauma ist es normal, dass man nicht nur die Ereignisse des Tages vergisst, sondern auch die der Tage davor. Deshalb erinnere ich mich an kaum etwas. Ich habe vage Bilder von unserem Hotel im Kopf. Was ich festhalten muss: Der Unfall war kein dunkler Moment meiner Karriere. Es war einer der leuchtendsten Augenblicke.
SPOX: Weil Sie überlebt haben?
Zanardi: Ich habe etwas überstanden, das nicht nur entgegen jeder Wahrscheinlichkeit ist. Laut Wissenschaft hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Alle Wissenschaftler haben ausschließlich meinen Tod vorhergesagt. In den Büchern stand, dass niemand solche Verletzungen überleben kann. Dass ich es geschafft habe und noch dazu nicht nur zurück-, sondern dahingekommen bin, wo ich heute stehe - man kann das nicht selbstverständlich voraussetzen. Es ist fantastisch.
SPOX: Fantastisch in allen Facetten der Wortbedeutung: bizarr, phänomenal, unvorstellbar.
Zanardi: Als ich einige Tage nach dem Unfall im Berliner Krankenhaus aufgewacht bin, wusste ich nicht, was ich durchgemacht hatte. Irgendwie habe ich es trotzdem gefühlt. Ich hatte Schmerzen, aber ich war vom ersten Moment an glücklich, am Leben zu sein. Das ganze Wochenende war im Nachhinein betrachtet ein großartiges. Zusätzlich war es meine Rache an dem Jahr. Ich habe geführt, ich bin großartig gefahren - und ich hätte mit größter Wahrscheinlichkeit gewonnen. Ich habe mir damit selbst bewiesen, dass ich noch immer ein guter Fahrer war, mit dem Lenkrad umgehen und das Beste aus dem Auto herausholen konnte. Und es hat mich verändert.
SPOX: Wie?
Zanardi: Es klingt absurd, aber ich schwöre, dass es wahr ist. Ich habe Bier nie gemocht. Ich stamme aus Bologna. Wer da volljährig wird, macht einmal im Leben im späten September ein Auto voll, fährt nach München und vergnügt sich auf dem Oktoberfest. Meine Freunde haben mich immer eingeladen, aber ich bin nie mitgefahren. Ich mochte ja kein Bier. Nach meinem Unfall habe ich so viel deutsches Blut bekommen, dass ich plötzlich Bier liebe. (lacht) Ich bin mir sicher: Das liegt an meinem deutschen Blut. Ich liebe Bier!
SPOX: Sie betonen immer wieder, wie dankbar Sie den Ärzten für deren Arbeit sind. Sie besuchen bis heute die Charite, wenn Sie in Berlin sind. Die Erstretter dürften Sie erstmals getroffen haben, als Sie beim Rennen in Toronto 2003 die Zielflagge geschwenkt haben. Wie lief das Wiedersehen ab?
Zanardi: Ich musste das ganze Gespräch allein führen. (lacht) Terry Trammell ist am Lausitzring als Erster am Unfallort gewesen, er ist vom Safety-Truck gesprungen und ausgerutscht. Er dachte, es wäre Öl. Es war mein Blut. Als ich ihn ein Jahr später getroffen habe, war er sprachlos. Er hat kaum ein Wort herausgebracht. Ich habe ihm gesagt: "Terry, alles ist in Ordnung. Schau mich an! Mir geht es gut. Ich verdanke dir mein Leben. Alles ist cool. Willst du dir meine Wunden ansehen?" Er wollte. Also habe ich mich hingesetzt, meine Prothesen abgenommen und er ist wortwörtlich kollabiert.
SPOX: Wie genau?
Zanardi: Er ist auf einen Stuhl gefallen und hat angefangen zu weinen. Ich fragte ihn, warum. Er antwortete: "Alex, heute Nacht werde ich erstmals seit einem Jahr gut schlafen." Erst in dieser Sekunde habe ich realisiert, was er selbst nach dem Unfall durchstehen musste. Es war nicht einfach sein Job. Er hat versucht, einem Freund das Leben zu retten und er wusste, dass es aussichtslos ist. Er wusste, sein Freund würde sterben. Sein im Studium erworbenes Wissen und seine Erfahrung als Arzt hatten ihm beigebracht, dass es keine Möglichkeit gab, mich zu retten. Er hat es trotzdem versucht. Hartnäckig. Und er hat einen Mordsjob gemacht. Für ihn war es wahrscheinlich das größte Geschenk seines Lebens, als er in Toronto realisiert hat, was er mir mit seiner Arbeit gegeben hatte.