SPOX: Sie erzählen so nonchalant von diesem Schicksalsschlag. Ich glaube, dass dadurch eine Haupteigenschaft Ihres Charakters deutlich wird: Sie kümmern sich nicht um Hindernisse, Sie kämpfen darum, das Maximum aus dem zu machen, was Ihnen gegeben ist. Nach der Amputation kehrten Sie in den Rennsport zurück. Sie absolvierten die letzten Runden am Lausitzring in einem zeremoniellen Akt im Jahr 2003, Sie fuhren bei BMW ab der Saison 2004 Tourenwagen, gewannen am 24. August 2005 das WM-Rennen in Oschersleben, drei weitere WTCC-Siege folgten. Zusätzlich fuhren Sie nochmals einen Formel-1-Wagen, den BMW-Sauber im November 2006. Nebenbei begannen Sie mit dem Handcycling, was bei den Paralympischen Spielen 2012 in London in einem Triumph endete: Sie holten gleich zwei Goldmedaillen. Das Bild, wie Sie auf der Zielgeraden von Brands Hatch sitzen und Ihr Bike in die Luft halten, ging um die Welt. Sie wurden zu einem Vorbild für Millionen.
Zanardi: Ich kann es nicht verhindern, dass mich Menschen als Vorbild sehen. Ich bin stolz darauf, wenn jemand sagt, dass ihn meine Geschichte zu seinen Leistungen inspiriert hat. Ich habe aber kein Recht, irgendwem zu sagen, er solle sich mein Leben angucken und daraus Lehren ziehen. Es ist auch nicht meine Pflicht. Ich schreibe meine Geschichte einfach weiter, täglich. Wenn dann jemand zu mir kommt und sich für die Inspiration bedankt, kann ich nur "Dankeschön" sagen und zusehen, dass ich diesen Weg weitergehe.
SPOX: Es klingt, als seien Sie mit der öffentlichen Sichtweise nicht ganz einverstanden.
Zanardi: Ich habe damit kein Problem. Ich kann nachvollziehen, warum es so ist. Ich habe es selbst während meiner Rehabilitation erlebt. Ich hatte glücklicherweise keine psychischen Probleme. Warum? Ich habe während der schwierigsten Phasen mit Menschen geredet, die auch zwei Beine verloren hatten. Dass die Doktoren mir sagten, alles würde gut werden, war in Ordnung. Aber mit Menschen zu reden, die diesen Weg bereits gegangen waren und auf ihren Prothesen vor mir standen - das war inspirierend für mich.
SPOX: Wieso?
Zanardi: Ich habe die Parallelen zwischen uns gesehen und mir gesagt: "Wenn sie es geschafft haben, dann kann ich es auch. Ich bin ein Mensch im besten Alter, ich habe genug Geld auf der Bank, um mir nicht jeden Tag Sorgen machen zu müssen, wie ich meine Familie ernähre. Es gibt keinen Grund, warum ich es nicht schaffen sollte." Diese positive Einstellung hat mir ermöglicht, mein heutiges Leben aufzubauen, mit dem ich sehr, sehr zufrieden bin. Ich kann allen nur raten: Guckt euch nicht nur Alex Zanardi an! Nutzt die Flexibilität eurer Nackenmuskulatur und schaut euch um! Es gibt so viele Vorbilder im Alltag: eine Mutter, die aufwacht, sich schlecht fühlt, ihren Kindern trotzdem Frühstück macht und dann zur Arbeit geht. Sie ist ein viel größeres Vorbild als ich. Man muss es nur erkennen.
SPOX: Sie probieren sich in den letzten Jahren an vielem aus, suchen immer wieder neue Herausforderungen. In der Saison 2014 starteten Sie für BMW in der Blancpain Endurance Series in einem GT3, bei den 24 Stunden von Spa 2015 gingen Sie zusammen mit Timo Glock und Bruno Spengler in einem Z4 an den Start. "Nebenbei" haben Sie 2016 Ihren zweiten Ironman absolviert. Für sämtliche Athleten ist dieser Wettbewerb eine Tortur, 200 km in weniger als zehn Stunden - kam Ihnen dabei jemals der Gedanke: 'Was mache ich hier überhaupt?'
Zanardi: Diesen Punkt erreicht man immer. Wenn man süchtig nach Sport ist, vergisst man dieses schlechte Gefühl aber direkt wieder. Am nächsten Tag macht man weiter. Das ist wie bei einer Frau, die ein Kind gebärt: Sie haben höllische Schmerzen, aber die Natur lässt sie das vergessen. Sonst würde keine Frau ein zweites Baby bekommen. Natürlich ist der Ironman die Extremsituation schlechthin. Aus technischer Sicht habe ich es aber leichter als jeder Athlet ohne Einschränkung. Das Schwimmen und das Fahren mit dem Handbike durchzustehen, ist für einen Menschen mit meinem Grad der Behinderung schwerer. Aber danach wechsle ich auf den olympischen Rollstuhl und das Rennen wird einfacher.
SPOX: Das müssen Sie erklären.
Zanardi: Ich bin nach dem zweiten Abschnitt mit dem Handbike erschöpfter als am Ende des gesamten Ironman. Bei einem Menschen ohne Behinderung ist das genau andersherum. Einen Marathon zu laufen widerspricht an sich schon der Natur. Das aber am Ende des Ironman zu machen, ist einfach verrückt. Klar gibt es leichtere Dinge als einen Marathon mit dem olympischen Rollstuhl - zu Hause Pizza für meine Freunde zu backen, ist einfacher. Aber mit dem Rollstuhl ist das Ende einfacher zu absolvieren wie für einen Läufer. Also ist es für mich verglichen mit einem Menschen ohne Einschränkung leichter, die gesamte Distanz zu absolvieren.
SPOX: Beim Berlin-Marathon 2015 gingen Sie im Vorfeld erstmals mit speziellem Handbike an den Start, das für diese Veranstaltung vorgeschrieben ist. Ist das eine Art Sucht nach Neuem?
Zanardi: Als ich mich beim Berlin-Marathon angemeldet habe, war in meinem Hinterkopf der Gedanke, dass die dort verwendete Art des Handbikes besser für den Ironman sein könnte. Man überträgt zwar weniger Kraft, ist durch die liegende Position aber viel aerodynamischer. Ich wollte ausprobieren, ob es wirklich besser ist. Ich wusste, dass ich den Marathon kaum gewinnen kann, weil ich in der Disziplin ein Anfänger war. Trotzdem wollte ich wissen, wo ich mit ein bisschen Training im Vergleich zu den Besten stehe.
SPOX: Sie haben das Fahrrad aber nicht in Hawaii eingesetzt.
Zanardi: Schon nach den ersten Trainingseinheiten wusste ich, dass dieses Rad für 180 Kilometer in Hawaii nicht geeignet ist. Ich habe gedacht: 'Einmal in meinem Leben kann ich etwas aus Spaß machen.' Mein Rennen war gut. Ich bin in der Spitzengruppe gefahren, bis die Kette absprang und ich sie wieder drauffummeln musste. Das hat mich mit Stolz erfüllt. Ich hätte dieses Rennen aber unter Garantie nicht gewonnen. Für einen Sprint war ich nicht trainiert. Neun Kilometer vor dem Ziel ist die Kette komplett gerissen, wahrscheinlich weil ich vorher zu stark daran gezogen habe. Dann habe ich halt mit den Händen geschoben. Viele Leute haben darin eine heroische Leistung gesehen, das war es aber überhaupt nicht. Es war Sonntagnachmittag und ich wollte es einfach unbedingt ins Ziel schaffen - irgendwie.
SPOX: Was treibt Sie dazu, sich dauerhaft diesen Herausforderungen zu stellen, Neues auszuprobieren, sich mit 49 Jahren täglich beim Training zu quälen? Aktuell befinden Sie sich mitten in den Vorbereitungen für die Paralympics in Rio.
Zanardi: Ich würde sagen: Ich bin von Leidenschaft getrieben. Die Leute projizieren verschiedene Qualitäten auf mich, von denen ich sicher bin, dass ich sie nicht habe. Aber eine, die ich wirklich habe, ist Entscheidungen zu treffen, in welche Richtung ich gehen will. Ich bin sehr neugierig. Diese Neugier öffnet einem die Augen und zeigt viele verschiedene Möglichkeiten. Wenn man genau weiß, in welche Richtung man gehen will, ist es sehr einfach, jeden Tag als neue Möglichkeit zu begreifen, um mit dem Projekt voranzukommen. Es ist einfach, weil ich es leidenschaftlich mache und daran Spaß habe. Für mich sind die Paralympischen Spiele 2016 eine sehr gute Entschuldigung, um etwas täglich zu tun, das ich liebe: das Training mit meinem Handbike. Ich trainiere nicht, um nach Rio zu fahren. Ich fahre nach Rio, weil ich trainieren will.