Ausgangslage: Mit 37 Punkten Vorsprung in der Fahrerwertung geht Pascal Wehrlein ins letzte Rennwochenende der DTM-Saison 2015. "Es gibt noch 50 Punkte, und es kann in Hockenheim noch viel passieren. Aber wenn es nicht ganz schlimm läuft, dann sieht es gut aus", sagte der Mercedes-Pilot, der am Sonntag seinen 21. Geburtstag feiert. Es müsste sehr, sehr viel schief gehen, damit es wirklich so kommt.
Edoardo Mortara oder Mattias Ekström müssten im Audi ein Rennen auf dem Hockenheim gewinnen und beim anderen mindestens Dritter werden, während Wehrlein bei beiden Rennen ausfallen müsste, damit der Schwabe nicht mit weitem Abstand Gary Paffett (24 Jahre, 7 Monate) als jüngsten DTM-Champion aller Zeiten ablöst. Unmöglich? Zumindest unwahrscheinlich.
Wehrlein beeindruckt mit erstaunlicher Reife. Er fuhr bei den bisher absolvierten 16 Rennen 14-mal in die Punkte. So viele Top-10-Resultate holte kein anderer Pilot in dieser Saison. Während Ekström und Mortara in den letzten vier Rennen nur je einmal punkteten, wurde Wehrlein dreimal Fünfter und einmal Vierter. Die Eichhörnchen-Taktik funktioniert: Wird das Mercedes-Talent am Samstag Dritter, kann er schon vor dem letzten Rennen seinen Titelgewinnen feiern.
Zusammen mit Christian Vietoris führt der Mercedes-Junior in Mercedes' HWA-Team zudem die Teamwertung mit 40 Punkten Vorsprung an. Der erste Verfolger: Audi Sport Team Abt Sportsline mit Ekström und Miguel Molina. Die beiden BMW-Teams MTEK und RMG lauern mit weiteren sechs Punkten Rückstand.
Das spannendste Duell steht in der Hersteller-Meisterschaft an. Weil Audi nach der "Schieb ihn raus"-Affäre die Punkte für das zweite Spielberg-Rennen aberkannt wurden, kämpft Mercedes gegen den aktuellen Primus BMW. Die Münchener führen mit 51 Punkten. Hier ist theoretisch noch alles offen. BMW holte in Oschersleben etwa 138 Punkte mehr als die Stuttgarter, bei den letzten beiden Läufen auf dem Nürburgring verkleinerte Mercedes den Rückstand allerdings nur um 20 Zähler.
Gefahrenpotenzial: Die DTM ist ein Showcase der deutschen Autohersteller. Drei Premium-Marken kämpfen um das größtmögliche Prestige. Sollte es hart auf hart kommen, würde wohl an jedem Kommandostand darüber nachgedacht werden, wie die eigenen Fahrer das Ergebnis positiv beeinflussen können.
Mercedes schaffte in der Eifel freie Bahn für Wehrlein. Maximilian Götz bremste freiwillig, um dem Markenkollegen mehr Punkte zu bescheren. Audi regte sich darüber maßlos auf. "Ich glaube, die DTM steht in der Kritik, weil wir keine gute Show bieten. Weil wir Hersteller-Spielchen spielen, weil wir Strategie-Spielchen spielen. Das wollten wir abstellen", polterte Audis DTM-Oberhaupt Dieter Gass.
Nachdem in der Eifel von den Herstellern noch am Samstag beschlossen wurde, einen fairen Titelkampf auszutragen, entschloss sich Mercedes schon einen Tag später, die Absprache zu ignorieren. "Ich bin sehr froh, dass ich so super Teamkollegen habe, die mich so unterstützen", freute sich Wehrlein: "Wenn sie in unserer Situation gewesen wären, hätten sie das auch gemacht. Das ist mir deswegen egal, sollen sie sich doch beschweren."
Der Mercedes-Einsatzleiter sprang ihm zur Seite. "Ja, wir haben uns auf schönen Motorsport geeinigt. Die Frage ist, wo da die Grenze ist am Schluss. Ich denke, dass wir heute nicht unfair agiert haben", sagte Ulrich Fritz. "Das, was ich heute da gesehen habe, würde ich nicht unbedingt als schönen Motorsport bezeichnen", entgegnete selbst der unbeteiligte BMW-Motorsportchef Jens Marquardt.
Audi drohte Konsequenzen an. Ein neuerlicher Abschussbefehl wie in Spielberg ist dabei hoffentlich nicht vorgesehen. Allein die Vorstellung, dass sich ein Audi-Verantwortlicher ein weiteres Mal einklinkt und "Schieb ihn raus" kommandiert, verbietet sich. Schon der erste Funkspruch hat dem sportlichen Ansehen genug geschadet. "Ich werde hier nicht sagen, dass Audi aus der DTM aussteigt. Das werden die gegebenen Personen zum gegebenen Zeitpunkt entscheiden, ob das möglich ist, oder nicht", erklärte Gass auf Nachfrage.
Zunächst steht aber der Angriff mit fairen Waffen an. "Zwei Nuller sind in der DTM schnell kassiert. Das weiß ich aus eigener Erfahrung und das kann schnell auch anderen passieren", machte Altmeister Ekström Hoffnung.
Ausblick: Ausgerechnet der erfreuliche Triumph eines deutschen Nachwuchstalents würde der DTM Probleme bereiten. Mercedes stellte Wehrlein eine Aufgabe: den Titel gewinnen. Danach sei der Aufstieg in die Formel 1 diskutabel, erklärte Motorsportchef Toto Wolff schon beim Grand Prix in Singapur.
Mit Manor beliefern die Stuttgarter das bestgeeignetste Team für einen Formel-1-Einstieg ihres hoffnungsvollsten Talents ab der Saison 2016. Dort kann Wehrlein vergleichsweise ruhig und ohne riesiges Interesse den Schritt vom Test- zum Einsatzfahrer bewältigen.
Und die DTM? Verliert nach Paul di Resta wohl mal wieder ihren regierenden Champion an die Formel 1. Wie die ohnehin kritisierte Rennserie das positiv verkaufen soll? Für die DTM wäre der Abschied ihres Aushängeschilds, der Lichtgestalt der Saison 2015, ein schwerer Schlag.
Für Wehrlein allerdings wäre der Zeitpunkt perfekt. Marco Wittmann zeigte in dieser Saison, dass der Kampf um eine erfolgreiche Titelverteidigung schnell zum Desaster wird: Der BMW-Pilot enttäuschte nach totaler Dominanz als Sechster der Gesamtwertung mit nur einem Sieg in Zandvoort - dank Bevorteilung durch die umstrittenen Performance-Gewichte.
Die Zusatzgewichte werden den Meisterschaftskampf der Fahrer übrigens glücklicherweise kaum entscheiden: Wehrlein fährt mit "nur" 2,5 Kilogramm mehr im Auto durch die Gegend.