"Joey Kelly kennt kein Nein"

Benedikt Treuer
02. Juli 201522:54
Joey Kelly (l.) und Rudi Altig befuhren gemeinsam den Nordseeküstenradweggetty
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Deutscher Meister, Europameister, Weltmeister, Weltrekordler: Rudi Altig ist eine deutsche Radsport-Legende. Vor dem Start der Tour de France (Sa., 15.30 Uhr im LIVE-TICKER) erzählt der 78-Jährige im Interview mit SPOX von Rundfahrten mit Joey Kelly, der Ursache des schlechten Radsport-Images, Makel in der Gesellschaft und Gänsehaut in der DDR. Außerdem verrät Altig, dass er sich gerne mal gehen ließ, und dass er über seinen Spitznamen heute nur noch lachen kann.

SPOX: Herr Altig, sind die Muskeln schon wieder bereit für das nächste Abenteuer oder regenerieren Sie noch vom Nordseeküstenradweg?

Rudi Altig: Das habe ich schon längst vergessen, das ist erledigt. Und so schlimm war es gar nicht. (lacht)

SPOX: Was treibt jemanden in Ihrem Alter dazu an, noch einmal in flottem Tempo von Belgien bis Norwegen zu strampeln - worüber dann ein Film gemacht wurde - inklusive einigen Höhenmetern?

Altig: Wenn man kleine Gänge fährt, sieht es im Fernsehen flotter aus, als es in Wahrheit ist. Man muss dazu sagen, dass wir einen Teil auch mit dem Auto zurückgelegt haben. Wir waren dreieinhalb Wochen unterwegs - in dieser Zeit wäre so eine Strecke gar nicht möglich. Es gab natürlich trotzdem mühevolle Abschnitte, in denen die Beine etwas müder wurden. 150 Kilometer haben wir gelegentlich schon einmal am Tag hingelegt. Im Großen und Ganzen war es aber eine schöne Sache.

SPOX: Immerhin war es auch eine illustre Runde: Sie waren in Begleitung der 13-fachen Radweltmeisterin Jeannie Longo und von Entertainer und Extremsportler Joey Kelly. Wie kam das zustande?

Altig: Ich habe beide angesprochen, nachdem ich von ARTE gefragt wurde, ob ich bei so einer Rundtour mitmachen würde. Ich wollte die Gruppe ein wenig mischen. Da haben eine Französin und ein irischer Extremsportler gut reingepasst.

SPOX: Waren Sie schon immer Fan der Kelly Family oder sind Sie es spätestens jetzt?

Altig: Ich bin Fan der Kelly Family und Fan von Joey, jedoch kenne ich weder Vater noch Mutter der musikalischen Familie. Dafür kenne ich Joey schon einige Jahre und weiß, dass er immer zu allem bereit ist und alles mitmacht. So war es auch diesmal wieder. Joey Kelly kennt kein Nein.

SPOX: Wie sind Sie während der Rundreise so fit geblieben? Haben Sie täglich Stunden mit Kelly in der Eistonne verbracht?

Altig: Nein, dazu kam es nicht, obwohl wir rund um die Uhr zusammen unterwegs waren. Wir mussten uns alle aber erst einmal finden, zumal nicht immer alles so lief, wie es geplant war. Es kam durchaus vor, dass wir abends ins Hotel kamen und das Restaurant schon geschlossen war. Dann gab es eben nichts mehr zu essen. Auch wenn das nicht immer so einfach war, muss man es hinnehmen. Wir waren ja Globetrotter.

SPOX: Dabei gab es schon Phasen in Ihrem Leben, in denen Sie das Radfahren fast komplett abgeschrieben hatten. 1996 sagten Sie beispielsweise aus, kaum noch gefahren zu sein, maximal fünf- oder sechsmal im Jahr. Haben Sie Ihre Liebe zur Anstrengung wiedergefunden?

Altig: Ich muss es ehrlich gesagt nicht mehr haben. Ich fahre, wenn ich muss oder bei schönem Wetter unbedingt mal will. Touristikfahrten im großen Pulk mit 50 Leuten mache ich aber nicht mehr mit. Da wollen alle nur zeigen, wie schnell sie fahren können - ich will aber einfach nicht mehr schnell fahren. Das bin ich früher oft genug.

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SPOX: Ihre Radsportkarriere hatte zahlreiche Highlights - angefangen, als Sie noch gar nicht Profi waren. 1959 gewannen Sie den Amateur-Weltmeistertitel im Verfolgungsfahren in Amsterdam. Vor dem Endlauf hielten Sie einige Zuschauer sicher für verrückt: Sie standen inmitten der Arena eine halbe Stunde lang Kopf...

Altig: ...und die anderen Fahrer eben nicht. Deshalb bin ich wohl aus der Masse herausgestochen. Das war eine Übung aus der Jogalehre. Außerdem hat es den Vorteil, dass dich keiner anspricht, wenn du auf dem Kopf stehst. So hatte ich meine Ruhe.

SPOX: Der anschließende Schritt ins Profilager war logisch, jedoch löste er in der Bundesrepublik Entsetzen aus. Wegen Olympia?

Altig: Das war mir egal. Vielleicht dachten einige, wir hätten dadurch sicheres Gold verloren. Ich habe aber ans Geldverdienen gedacht. Als ich nach der Weltmeisterschaft das Angebot erhielt, Radsport professionell zu betreiben, konnte ich es nicht ausschlagen. So hätte doch jeder gehandelt, wenn er dadurch das doppelte Gehalt bezieht.

SPOX: Bot Ihnen die Teilnahme an den olympischen Spielen aber keinen Anreiz?

Altig: Die fanden damals in Rom statt, weshalb es mich gar nicht interessiert hat. Das war nichts Besonderes für mich. Wenn man den Giro d'Italia fährt, kommt man dreimal nach Rom. Wäre Olympia in Südafrika oder Australien gewesen, hätte ich vielleicht noch ein Jahr gewartet, denn der Profi-Radsport spielte sich hauptsächlich in Europa ab.

SPOX: Es zahlte sich aber aus. 1960 wurden Sie in Leipzig Profi-Weltmeister in der Verfolgung und dann spielte man Ihnen zu Ehren inmitten des Kalten Kriegs erstmals in der DDR das Deutschlandlied. Beschreiben Sie den Moment.

Altig: Als das Lied angespielt wurde, war das Gänsehaut pur. Die Hymne wurde jedoch abgebrochen.

SPOX: Wieso?

Altig: Weil offenbar die Nadel über den Teller des Plattenspielers rutschte.

SPOX: Also war dieser emotionale Moment nur von kurzer Dauer?

Altig: Im Gegenteil. 20.000 Leute haben die Hymne weitergesungen. Das ist mir unter die Haut gegangen.

SPOX: 1962 erlebten Sie auch ein spektakuläres Tour-de-France-Debüt. Sie gewannen drei Etappen und die Sprintwertung. Wie oft denken Sie noch daran zurück, wenn Sie heute die Tour schauen?

Altig: Natürlich denkt man daran zurück, aber das ist über 50 Jahre her. Von daher habe ich auch schon ein bisschen Abstand dazu gewonnen. Es ist auch längst nicht mehr so, dass ich mir den Wecker stelle, um jede Etappe mitverfolgen zu können.

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Seite 2: Altig über das Radsport-Image und den Wunsch, sich mal gehen zu lassen

SPOX: Zwei Ihrer größten Erfolge standen in den 60ern noch aus - der Sieg bei der Straßen-WM 1966 auf dem Nürburgring und der Titel beim Klassiker Mailand-San Remo. Bei ersterem holten Sie sieben Kilometer vor dem Ziel noch unfassbare 50 Sekunden auf. Wie kann man diese Kraft- und Willensleistung erklären?

Altig: Das kann man nicht erklären. Ich war einfach ein guter Zeitfahrer und konnte das. Ich habe den Moment ergriffen, aber was soll man dazu sagen? Wenn es klappt, ist es gut - wenn nicht, hat man Pech gehabt. Ich weiß nicht, wie sich die Konkurrenz gefühlt hat, aber ich habe mich gut gefühlt. Wenn sie das Tempo nicht mithalten konnten, war ich wohl besser.

SPOX: Zu dieser Zeit handelten Sie sich auch den Spitznamen "Radelnde Apotheke" ein - basierend auf einer Aussage, die Sie eigentlich ironisch gemeint hatten. Können Sie heute darüber lachen oder nervt Sie der Spitzname nur noch?

Altig: Ich lache darüber. Es erfreut mich zwar nicht, aber ich weiß, was ich in meiner Karriere gemacht habe. Ein Journalist hat diesen Ausdruck in die Welt gesetzt - weil ich eine Dummheit begangen habe. Bei einer Kontrolle habe ich ein paar Medikamente aufgezählt, die mir in den Kopf kamen. Ich habe diese Medikamente zwar genommen, aber es waren alles Präparate, die nicht verboten waren. Der Kommissar schrieb alles auf und gab diesen Zettel an einen deutschen Journalisten weiter. Der sagte sich: "Wenn der Altig das alles gefressen hat, ist er eine fahrende Apotheke."

SPOX: Sie sagten einst aus, zu Ihrer Zeit habe man höchstens mal geschnupft. Können Sie das erklären?

Altig: Jeder hat mal einen Schnupfen gehabt. Und wenn man Schnupfen hat, muss man schnupfen (lacht).

SPOX: Möchten Sie das ein wenig konkretisieren?

Altig: Man muss doch nicht immer leben wie ein Asket. Das Schöne am Leben ist, dass nicht jeder Tag gleich aussieht - wie ein Programm, das man immer wieder abspult. Sich einreden zu lassen, kein Bier trinken zu dürfen oder andere Dinge nicht zu tun, ist doch Quatsch. Wenn ich mich aber auf eine Sache vorbereite, dann mache ich das auch hundertprozentig und diszipliniert. Wenn die Sache abgeschlossen ist, kann man sich doch mal gehen lassen. Jeden Tag trainieren und dabei aufzupassen, dies oder jenes nicht zu tun - da macht das Leben doch keinen Spaß. Ich bin Rad gefahren, um zu leben und habe nicht gelebt, um Rad zu fahren.

SPOX: Sie haben bei der Tour de France 1966 in Gradignan gegen die ersten Doping-Kontrollen aber sogar gestreikt - warum?

Altig: Weil alle gestreikt haben, dann macht man mit.

SPOX: 1969 wurden Sie überraschend einmal positiv auf Amphetamine getestet. Es gab einige Stimmen, die sagten, Sie seien damals das Bauernopfer der Tour-Chefs gewesen, man wollte an Ihnen ein Exempel statuieren. Trifft es das auf den Punkt?

Altig: Das ist mir egal. Seitdem sind so viele Jahre vergangen, darüber mache ich mir keine Gedanken mehr. Natürlich habe ich heute noch eine Meinung dazu. Wenn ich das in der jetzigen Gesellschaft aber jemandem erzähle, wird er mir sagen: "Ja, du hast Recht, aber sag es bloß nicht laut." Deswegen möchte ich nicht mehr darüber reden.

SPOX: Den nächsten Rudi Altig vermissen wir aus deutscher Sicht aber trotzdem noch. Seit Ihnen 1966 hat es keinen deutschen Weltmeister mehr im Straßenrennen gegeben.

Altig: Es ist wirklich schade, wenngleich wir ein paar Mal nah dran waren. Golz und Zabel hatten beispielsweise gute Chancen. Ich hoffe aber nach wie vor, dass ich irgendwann noch einmal erleben darf, dass nach mir ein anderer Deutscher in das Trikot schlüpft. Es wäre absolut schön, mit ihm fotografiert zu werden.

SPOX: Führen Sie den fehlenden Erfolg teilweise auch darauf zurück, dass der Radsport in Deutschland durch sein Image generell einen schwereren Stand hat als in anderen Ländern?

Altig: Das ist ein deutsches Phänomen, an dem vor allem die Medien schuld sind. Auf den Radsport wird immer eingeprügelt. Wenn ich nach Frankreich, Italien oder Spanien komme, werde ich immer gefragt: "Was habt ihr in Deutschland für ein Problem?" Es gibt doch auch andere Sportarten, in denen nicht immer sauber gearbeitet wurde. Sport ist ein Teil der Gesellschaft. Und einem Teil der Gesellschaft kann man die Medizin doch nicht wegnehmen und eine weiße Weste anziehen, die es gar nicht gibt. Die gibt es nicht in der Politik, nicht im Business und eben auch nicht im Sport. Würden die Medien nicht immer wieder darin herumwühlen, hätten es die Zuschauer schon längst wieder vergessen. Weil der Radsport so anspruchsvoll und schwierig ist, meinen Außenstehende wohl, es geht nicht ohne Betrug.

SPOX: Dass es in den letzten Jahren immer wieder Zwischenfälle gab, ist aber nicht zu leugnen.

Altig: Natürlich nicht. Das ist aber nur, weil mehr kontrolliert wird als in anderen Sportarten. Gäbe es dort mehr und intensivere Kontrollen, würde auch in anderen Sportbereichen mehr ans Licht kommen. Es bringt aber nichts, sich darüber aufzuregen. Ich beschäftige mich heute lieber mit anderen Dingen.

SPOX: Zum Beispiel mit Radtouren mit Joey Kelly. Wann sehen wir denn die nächste Rundreise?

Altig: Noch ist nichts geplant (lacht). Vielleicht machen wir aber eine Ostseeküstenrundfahrt oder eine Tour entlang der Loire. Oder stellen Sie sich mal vor, wir umfahren einmal Italien! Es gibt genügend Möglichkeiten und solange ich mir dadurch nicht das Weiß aus den Augen fahre, würde ich so etwas sofort noch einmal mitmachen.

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