Alberto Contador startet bei der Tour de France. Zu Recht. Denn wie schon IOC-Chef Jacques Rogge, der höchste Sportfunktionär der Welt, sagte: "Auch für ihn muss zunächst die Unschuldsvermutung gelten."
So steht es im Gesetzbuch. Und bis dato hat den dreimaligen Toursieger keine Instanz schuldig gesprochen und mit einem zweijährigen Zwangsurlaub belegt.
Soweit zu den Fakten. Dass es allerdings soweit gekommen ist, dass Contador am Samstag in der Vendee als einer von 198 Fahrern in die Pedale treten darf, ist eine Frechheit.
Fall Contador steckt beim CAS fest
Ein kurzer chronologischer Abriss: Contador war 2010 - in gleich vier Kontrollen - positiv auf das verbotene Anabolikum Clenbuterol getestet worden. Seine Begründung: Er habe kontaminiertes Fleisch verzehrt.
Weil der spanische Radsport-Verband (RFEC) ihn aber von jeglichem Fehlverhalten freigesprochen hatte, gingen die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und der Radsport-Weltverband (UCI) in Berufung: Sie brachten den Fall vor die oberste Sportgerichtsbarkeit, den Internationalen Sportgerichtshof (CAS).
Und genau dort steckt der Fall Contador nun fest. Eine ursprünglich für den Zeitraum vom 6. bis 8. Juni anberaumte Anhörung wurde auf den 1. bis 3. August verlegt. Der CAS will damit den Parteien mehr Zeit zur Vorbereitung geben.
Bürokratismus im Sport
Wie bitte? Mehr Zeit zur Vorbereitung? Es ist schon äußerst schwer nachzuvollziehen, dass Contador bereits beim Giro d'Italia im Mai auf Bewährung fuhr.
Doch die Verlegung der Anhörung mit der zu kurzen Vorbereitungszeit zu begründen, ist schlichtweg inakzeptabel.
Mit ihrem Bürokratismus stellen die Entscheidungsträger die Vorschriften über den Menschen und schaden somit den Fans, den Fahrern und dem Radsport gleichermaßen.
Das Problem: Zwischen Aufdecken des Dopingmissbrauchs und Rechtsprechung im Sport gibt es einen deutlich zu großen Zeitunterschied.
Holczer attackiert Contador
Ex-Gerolsteiner-Teamchef Hans-Michael Holczer ist nicht nur die zeitliche Verzögerung der Entscheidung, sondern auch Contadors Verhalten ein Dorn im Auge.
"Dass er seinen Start mit juristischen Mittel durchdrückt, zeigt nur, wie wenig er an die Sportart denkt, von der er lebt, und wie wenig an seine Kollegen, die von ihr leben", so der 57-Jährige.
Es passe zu 100 Prozent zu der Parallelwelt, in der solche Leuten leben, meint Holczer: "Contador zeigt blanken, grenzenlosen Egoismus, und dann diskreditiert er mit der Erklärung, er habe ein verseuchtes Steak gegessen, auch noch die ganze spanische Fleischindustrie."
Richard Gasquet: Freispruch nach Kokainmissbrauch
So absurd sich die Geschichte vom kontaminierten Fleisch anhören mag: Ein Blick in die Annalen der Dopinggeschichte belegt, dass man mit so manch kurioser Erklärung bisweilen durchkommen kann.
So wurde der französische Tennisspieler Richard Gasquet vom CAS freigesprochen, nachdem die WADA und die Internationale Tennis-Föderation eine zweijährige Sperre des damals 23-Jährigen wegen Kokain-Konsums gefordert hatten.
Das CAS folgte der Argumentation Gasquets, der angegeben hatte, er sei versehentlich mit Kokain in Berührung gekommen, als er in einem Nachtclub von Miami eine Frau geküsst habe.
Clenbuterol-Kontamination in China? Ovtcharov freigesprochen
Viel näher am Fall Contador liegt das Verfahren gegen Tischtennis-Nationalspieler Dimitrij Ovtcharov. Auch er wurde nach positiver A- und B-Probe des Dopingmissbrauchs mit Clenbuterol bezichtigt.
Nach Vorlage von zahlreichen entlastenden Indizien und der Anhörung mehrerer Experten wurde Ovtcharov vom DTTB vom Vorwurf des Dopings freigesprochen.
Der Unterschied zu Contador: Während Ovtcharov eine glaubhafte Indizienkette für seine Unschuld präsentierte, fehlen dem Spanier schlagkräftige Argumente für seine Unschuld.
Allein die Wahrscheinlichkeit, bei einem Tischtennisturnier in China ein mit Clenbuterol verseuchtes Stück Fleisch zu erwischen, ist ungleich höher als in Europa.
Alberto Contador der haushohe Favorit
So wird der Madrilene wohl auch in diesem Jahr die Konkurrenz an den Anstiegen in Grund und Boden fahren, so wie er es schon beim schweren Giro tat. Andy Schleck ist wohl der Einzige, der ihn ernsthaft herausfordern kann, jedoch nur wenn sein Team sich stark präsentiert.
Kommt Contador tatsächlich im Gelben Trikot auf den Champs Elysees, wäre es für den 28-Jährigen der vierte Toursieg, der ihm eine Woche später schon wieder entzogen werden könnte. Genau wie der Triumph im letzten Jahr sowie der Sieg beim Giro.
Es wäre das grauenhafteste aller Szenarien, und genau das blüht dem Radsport in den kommenden fünf Wochen. Doch Tour-Direktor Christian Prudhomme sind die Hände gebunden. "Es gibt keine Möglichkeit, Contador die Teilnahme zu verweigern", sagt der ehemalige Journalist in einem resignierenden Tonfall.
Die Veranstalter der Tour de France sind machtlos. Ihnen bleibt nichts übrig, als den umstrittenen Titelverteidiger starten zu lassen - und ihn unter Umständen noch einmal zu erwischen. Es wäre der größte Triumph, den man sich im Radsport vorstellen könnte.