SPOX: Im Internet kursieren seit geraumer Zeit Chuck-Norris-Witze. Kennen Sie die?
Jens Voigt: Klar. Warum fragen Sie?
SPOX: Zu Ihnen gibt es eine Internetseite mit ähnlichen Scherzen. Aber keiner macht sich über Sie lustig. Es ist vielmehr eine Hommage an Sie.
Voigt (lacht): Ja, ich kenne diese Seite. Freunde und alte Teamkollegen wie Bobby Julich schicken mir manchmal Links zu. Finde ich sehr amüsant.
SPOX: Mein Favorit: "Jens Voigts großes Blatt hat 56 Zähne. Sein hinterer Zahnkranz: 11-11-11-11-11-11-11-11-11-12." Welche kennen Sie?
Voigt: Einer, den ich gerne mag ist, dass ich keinen Schatten mehr habe.
SPOX: Wie geht der weiter?
Voigt: Nachdem ich meinen Schatten drei Mal abgehängt habe, hat er vorgegeben, dass er Magenprobleme habe und sich im Teamwagen verzogen (lacht).
SPOX: Im Ernst: Wie gehen Sie mit Ihrer großen Popularität um?
Voigt: Es stimmt, dass ich wohl nicht ganz unbeliebt bin. Selbst in Amerika tragen die Fans bei den Rennen Shirts mit der Aufschrift "Jens for President". Aber ich will ganz klar zum Ausdruck bringen, dass ich keiner bin, der sich selbst googelt. Das finde ich armselig. Sich selbst zu beweihräuchern, das ist kein gutes Zeichen für eine gesunde Persönlichkeit.
SPOX: Welche Art von Begeisterung, die Fans Ihnen entgegenbringen, mögen Sie am liebsten?
Voigt: Im Prinzip können die Fans machen, was sie wollen. Wenn sie allerdings vor meinem Haus eine Kerze anzünden, dann wird es kritisch. Die besten Fans sind die, die bei 45 Grad im Schatten im Anstieg nach Alpe d'Huez stehen, mich kurz anschieben und mir eine kühle Cola reichen.
SPOX: Die legendäre Ankunft in Alpe d'Huez steht in diesem Jahr bei der Tour wieder auf dem Programm. Was erwarten Sie sich persönlich von der Frankreich-Rundfahrt?
Voigt: Den Gesamtsieg von Andy Schleck. Und dass ich ein kleines Rädchen in der gut geölten Leopard-Maschine sein werde, die diesen Sieg ermöglicht.
SPOX: Als i-Tüpfelchen für Sie selbst vielleicht noch einen Etappensieg?
Voigt: Wenn sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten, dann ja. Aber ich habe mich ausgetobt, bin realistischer geworden und kein Captain mehr. Meine Aufgabe wird es sein, die Arbeit zu machen. Wenn Andy das Gelbe nach Paris trägt und die Jungs mir dann auf die Schulter schlagen und sagen "Danke Voigte, ohne dich hätten wir das nicht geschafft!", dann bin ich der glücklichste Mensch auf Erden.
SPOX: Andy ist bei der Tour de Suisse nur Gesamt-19. geworden. Ist er dennoch bereit für den Toursieg?
Voigt: Absolut, und ich sage das aus voller Überzeugung. Andy wird nicht dafür bezahlt, die Auftaktetappe zu gewinnen. Die Tour wird in der letzten Woche entschieden. Erst dann muss er topfit und auf seinem Leistungszenit angekommen sein.
SPOX: Alle sprechen von Schleck oder Alberto Contador als Toursieger 2011. Wer sind Ihre Geheimfavoriten?
Voigt: Mein Tipp für's Podium: Andy Schleck gewinnt. Zweiter wird Robert Gesink, Dritter Cadel Evans. Vielleicht stehe ich damit später als Prophet da, vielleicht aber auch als Anti-Fachmann.
SPOX: Und was ist mit Tony Martin?
Voigt: Das is schwer zu sagen. Ich glaube, die Leute stecken zu viele Hoffnungen in ihn und machen es ihm dadurch nicht leichter. Viele wollen den Toursieger in ihm sehen, aber ich denke, eine dreiwöchige Rundfahrt ist nichts für Tony. Er ist ein großer Mensch mit kräftigen Muskeln, da sind die zahlreichen aufeinanderfolgenden Bergetappen zu viel für ihn. Aus dem gleichen Grund wird auch Fabian Cancellara nie die Tour gewinnen - zu groß, zu schwer.
SPOX: Martin selbst sieht sich aber in den Top Ten.
Voigt: Verstehen Sie mich nicht falsch. Tony ist ein großartiger Fahrer und ich würde mich gerne irren. Ich liebe Tony wie meinen eigenen Bruder. Aber drei Wochen Tour de France - ich glaube, das wird nicht sein Ding. Ein Platz unter den besten zehn wäre schon ein super Ergebnis für ihn.
SPOX: Im Fall Contador hat Martin auch eine deutliche Meinung. Er sagt, seine Teilnahme ist ein schwaches Zeichen für den Radsport. Wie bewerten Sie den Start von Contador und in diesem Zusammenhang das verspätete Urteil des CAS?
Voigt: Ich bin zutiefst enttäuscht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich enttäuscht bin. Vor elf Monaten wurde das Verfahren gegen ihn eingeleitet. Es ist für mich völlig unverständlich, wie es so lange dauern kann, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Weder für die Zuschauer noch für die Tour-Organisatoren oder für uns Fahrer selbst ist das nachvollziehbar. Wir Profis wollen eine klare Lösung. Egal ob unschuldig und freie Fahrt in allen Rennen oder schuldig und zwei Jahre Zwangsurlaub - Hauptsache ein verbindliches Urteil, damit man die Sache abschließen kann.
SPOX: Was ärgert Sie am Fall Contador am meisten?
Voigt: Dass sich die Urteilsverkündung so lange hinzieht. Es steht uns das schönste, längste und spektakulärste Radrennen der Welt bevor und über was reden wir? Über einen undurchsichtigen und nicht abgeschlossenen Fall, den wir seit elf Monaten mit uns herumschleppen. Egal ob Andy die Tour gewinnt oder nicht: er wird in den Nachrichten immer an zweiter Stelle hinter der Contador-Diskussion stehen. Und das finde ich ungerecht.
SPOX: Die Schleck-Brüder schätzen Sie sowohl menschlich als auch sportlich und Sie gehen in Ihre 14. Tour: Hatten Sie Ihren Platz im Tourkader von Leopard ohnehin schon so gut wie sicher?
Voigt: Die Tour ist kein Puppenspieltheater. Qualität ist das einzige ausschlaggebende Kriterium. Klar will jeder im Team in den Tourkader. Aber ich hätte auch gerne einen roten Ferrari vor der Haustür stehen. Hab' ich den? Nein, habe ich nicht.
SPOX: Lassen Sie uns etwas tiefer in Ihre Psyche gehen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie vorne im Wind alleine Tempo bolzen und die Schmerzen in den Beinen mit jedem Tritt größer werden?
Voigt: Meistens versuche ich, mich positiv zu motivieren. Mein Motto: "Wenn ich leide, dann müssen die anderen mindestens doppelt so viel leiden. Die sind auch nur Menschen. Sie können nicht schneller fahren als du." Und diese Taktik hat ja auch schon einige Male zum Erfolg geführt.
SPOX: Wohl wahr. Ihr Spruch: "Shut up legs!" ist ja inzwischen legendär. Hören Ihre Beine manchmal tatsächlich auf zu brennen, wenn Sie es ihnen befehlen?
Voigt: Ja, es funktioniert bisweilen tatsächlich. Aber nicht immer, man muss sich diese Momente aufsparen für wichtige Situationen. Man kann mit der Kraft seines Willens tatsächlich aus seinem Körper mehr Leistung herausholen als man denkt. Allerdings ist das Fass auch nicht unendlich voll. Wenn ich mich an einem Tag über die Maßen verausgabe, bezahle ich dafür an den beiden nächsten Tagen, an denen ich völlig ausgelaugt bin.
SPOX: An diesen Tagen hätten Sie eigentlich Zeit für die Pflege eines Twitter-Accounts, so wie viele ihrer Kollegen. Vor allem die junge Generation ist in den neuen Medien sehr aktiv.
Voigt: Das stimmt. Aber wenn ich einmal damit anfange, würde ich nicht mehr aufhören zu twittern, weil ich ein sehr kommunikativer Mensch bin. Zudem habe ich auch ein Privatleben und meine sechs Kinder wollen gerne Zeit mit mir verbringen.
SPOX: Ihre Familie muss derzeit oft auf Sie verzichten, weil Sie als Radprofi auf Reisen sind. Wie sieht Ihr Leben nach Ihrer aktiven Karriere aus?
Voigt: Es wäre die logische Konsequenz, mein über Jahrzehnte erworbenes Wissen im Radsport an andere weiterzugeben. Sei es als Sportlicher Leiter, in der Sponsorenbetreuung oder Pressearbeit. Allerdings habe ich seit ich 20 bin einen großen Traum: Meinen eigenen Buchladen eröffnen mit einem angelagerten Coffee-Shop.
SPOX: Das hat ja nicht direkt etwas mit Radsport zu tun.
Voigt: Die Idee hatte ich schon lange bevor es Ketten wie Hugendubel gab. Allerdings wäre ich angesichts meines Cappuccino-Konsums und meiner Lese-Leidenschaft wohl selbst mein bester Kunde. Ob das reichen würde, meine Familie zu ernähren? Ich bin nicht sicher.
SPOX: Wenigstens hätten Sie dann viel Zeit für Ihre Kinder. Sind Sie in der Erziehung ebenso streng wie zu sich selbst im täglichen Training?
Voigt: Nein, ich würde mich eher als pädagogische Niete bezeichnen. Als Radprofi sind Eigenschaften wie Kampfesgeist und Disziplin gefragt. Bildlich gesprochen trage ich den ganzen Tag eine Rüstung mit Schwert und Schild in der Hand. Wenn ich nach Hause komme, will ich auf keinen Fall das Schwert noch einmal hochreißen müssen, um mit meiner Familie zu kämpfen. Ich bestehe also nicht immer pädagogisch korrekt darauf, dass meine Kinder um 18 Uhr Zähne putzen und ins Bett gehen, sondern ich sage dann "Wisst ihr was, das machen wir später, wir essen erst noch ein Marmeladenbrot".
SPOX: Denkt man - gerade als Familienvater - nach dem tragischen Tod von Wouter Weylandt jetzt auf Abfahrten besonders an das Sturzrisiko?
Voigt: Bei meinen schweren Stürzen in den beiden vergangenen Jahren habe ich ja selbst vor Augen geführt bekommen, dass ich verwundbar und nicht unsterblich bin. Hätte ich da das Kapitel Radsport beendet, hätte ich mir Vorwürfe gemacht.
SPOX: Welche?
Voigt: Dass ich weggelaufen wäre und das Schicksal hätte für mich entscheiden lassen. Ich bin ein großer Freund der Theorie, dass jeder das Schicksal in seinen eigenen Händen hält. Ich möchte nicht, dass ein Sturz mich zur Aufgabe meiner Karriere zwingt. Ich will die Entscheidung aufzuhören selbst treffen. Doch dieser Moment ist für mich noch nicht gekommen.