Manuel Wilhelm hat elf Jahre für die deutsche Nationalmannschaft gespielt. Seit Anfang des Jahres ist er Sportdirektor beim Deutschen Rugby-Verband. Im Interview mit SPOX spricht er über das Six Nations, die Sicherheitsdebatte im Rugby und darüber, in welchen Bereichen der Sport hierzulande noch hinterherhinkt.
SPOX: Herr Wilhelm, was macht für Sie die Faszination Six Nations aus?
Manuel Wilhelm: Für mich ist das Sechs-Nationen-Turnier das großartigste Rugby-Event auf dem Planeten. Begründet liegt das einerseits in der jahrhundertealten Tradition, andererseits in der Unberechenbarkeit der letzten Jahre. Die Mannschaften liegen so eng zusammen, dass nicht klar vorauszusagen ist, wer den Titel am Ende einfährt.
SPOX: Das Niveau wird immer höher.
Wilhelm: Richtig. Seit der Professionalisierung im Rugby 1995 ist unglaublich viel passiert. Und mit den erfolgreichen World Cups - zuletzt 2015 in England - ist der Sport immer mehr zu einem Weltspiel geworden. Dazu kam dann noch der erfolgreiche Start bei den Olympischen Spielen.
SPOX: Aufmerksamkeit, Geld und immer mehr Fans sind die Folge.
Wilhelm: Es haben viele Nationen bemerkt, was für ein toller Sport Rugby ist. Somit ist auch immer mehr Geld im System. Dadurch haben es viele Verbände geschafft, ihre Programme zu professionalisieren und den Anschluss zur Weltspitze herzustellen. Dafür ist Italien ein gutes Beispiel. Die Italiener sind noch nicht lange beim Six Nations dabei, haben sich aber schon gut etabliert.
Das Six Nations 2017 Live auf DAZN. Hol Dir jetzt Deinen Gratismonat
SPOX: Wen sehen Sie in diesem Jahr vorne?
Wilhelm: Diese Frage stelle ich mir schon seit einigen Tagen. (lacht) Vor zwei Wochen habe ich mal gesagt, dass es jemand macht, den keiner auf dem Zettel hat: die Franzosen. Jetzt ist aber ein Schlüsselspieler ausgefallen (Wesley Fofana, Anm. d. Red). An einen Grand Slam wie im letzten Jahr glaube ich nicht, aber die Engländer werden am Ende knapp die Nase vorne haben.
SPOX: Wie schätzen Sie die anderen Teams ein?
Wilhelm: Die Triple Crown geht wohl auch an England. Aber es wird definitiv nicht so eindeutig werden wie 2016. Die Schotten sind sehr stark aufgekommen, die Waliser hatten zuletzt ein Tief, haben aber mit ihren Provinzen richtig stark gespielt. Irland hat kürzlich die All Blacks geschlagen. Ich glaube, das sagt alles über die Qualität der Mannschaft. Die Franzosen haben eine starke November-Test-Serie gespielt. Ich kann nur sicher sagen, dass die Italiener nicht gewinnen werden, aber bei allen anderen kann ich es mir vorstellen.
SPOX: Vor einem solchen Turnier muss man natürlich auch über die Sicherheitsdebatte sprechen, die im Rugby aktuell die Schlagzeilen beherrscht.
Wilhelm: Es bleibt nicht aus, dass die Spieler immer athletischer, stärker und schneller werden. Dadurch sind die Kontaktsituationen - es ist immerhin eine Kollisionssportart - im Vergleich zu vor 20 Jahren immer heftiger geworden. Noch hat das Rugby kein Problem, der Weltverband hat zur richtigen Zeit reagiert und in Sachen Aufklärung des medizinischen Personals und mit Sicherheitsregeln für die Spieler, die auch sehr konsequent umgesetzt werden, die richtigen Schritte gemacht. Natürlich gibt es da immer wieder kleinere Ausnahmen.
SPOX: Nicht jeder Spieler ist überzeugt, es gibt auch Kritik.
Bonuspunkte für mehr Action? SPOX erklärt das Six Nations
Wilhelm: Rugby wird natürlich nicht zu einer weichen Sportart, sondern zu einer sichereren. Genau solche Situationen, wie wir sie etwa im Football haben, gilt es zu vermeiden. Wobei ich sagen muss, dass die Techniken aufgrund des fehlenden Schutzes schon immer so waren, dass man gelernt hat zu tacklen und zu fallen, ohne sich zu verletzen, ähnlich wie beim Judo.
SPOX: Im Jugend-Eishockey sind Bodychecks teilweise verboten. Ist so ein Schritt für das Rugby auch vorstellbar?
Wilhelm: Im Kinder-Rugby ganz klar nicht, denn da ist diese Dynamik einfach noch nicht gegeben. Es besteht dort kein gesteigertes Verletzungsrisiko, auch nicht im Vergleich zu anderen Sportarten, beispielsweise im Fußball. Von daher sehe ich da keinen Handlungsbedarf. Aber ganz klar ist natürlich, dass die Kinder gut ausgebildet werden müssen, damit sie lernen, richtig zu fallen, zu tacklen, zu drücken und zu springen, wie es in anderen Kontaktsportarten auch der Fall ist.
SPOX: Sie haben selbst jahrelang Rugby gespielt und bekleiden nun einen Funktionärsposten. Haben Sie dadurch einen anderen Blick auf die Debatte?
Wilhelm: Mit der gestiegenen Professionalisierung des Sports ist natürlich auch die medizinische Abteilung immer besser geworden. Was ich früher gemacht habe, etwa mit schlecht ausgeheilten Verletzungen wieder aufzulaufen, das geht heute gar nicht mehr. Von daher denke ich, dass die Spieler heute bei den Ärzten und Physios in guten Händen sind. Als Außenstehender kann ich nur bewundern, was die Akteure heute im Stande zu leisten sind. Das zeigt, wie hart sie dafür trainieren und ich kann nur noch einmal betonen, dass wir auf einem guten Weg sind, Rugby zu einem sichereren und gleichzeitig attraktiveren Sport zu machen
SPOX: Also sehen Sie den Vorwurf, dass Spieler leichtsinnig handeln, als falsch an?
Wilhelm: Eine oder zwei unrühmliche Aktionen bei den Tausenden von Spielen an jedem Wochenende bleiben nicht aus. Da war zum Beispiel George North bei Northampton, der zuletzt in der Öffentlichkeit stand, als er sich nach einem Tackling einem Kopfverletzungs-Gutachten unterziehen musste und trotz einer offensichtlichen Verletzung weiterspielte. Klar, das war keine gute Aktion, aber vor fünf Jahren hätte darüber noch keiner gesprochen. Dadurch sieht man aber auch, wie viel sensibilisierter Spieler, Coaches und die Medien reagieren - und das ist auch richtig so.
SPOX: In Deutschland steht Rugby nicht so in der Öffentlichkeit wie in vielen anderen Teilen der Welt. Warum hinken wir denn so hinterher?
Wilhelm: Die Sportlandschaft in Deutschland muss ich nicht erklären, das ist eine Monosportlandschaft. Da haben wir natürlich noch etwas aufzuholen, vor allem im Hinblick auf die Medien. Grundsätzlich ist es so, dass sich auf alles gestürzt wird, was Quote bringt. Und Fußball bringt nun einmal Quote und das wird er auch weiterhin machen. Aber andere Länder haben eben auch gezeigt, dass es möglich ist, mit einem etwas heterogeneren Sport-Mix Quote zu bekommen, also auch andere Themen zu haben. Da gibt es für uns noch etwas zu lernen. Deutschland ist aber auch eine sehr erfolgsabhängige Sportlandschaft. Das haben wir beim Tennis mit Boris Becker oder Steffi Graf gesehen, das haben wir in der Formel 1 mit Michael Schumacher gesehen und da müssen wir als Deutscher Rugby-Verband eben auch unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen unsere Nationalmannschaften erfolgreicher machen. Aber da sind wir auf einem guten Weg.
SPOX: Wie macht sich dieser Weg bemerkbar?
Wilhelm: Die 15er-Nationalmannschaft spielt im Februar und März die WM-Qualifikation und die Siebener-Mannschaft hat die Olympia-Quali ganz knapp verpasst. Wir müssen zusehen, dass wir diese Turniere erreichen. Und das sind dann so große Ereignisse, auch im internationalen Vergleich, dass die deutsche Medienlandschaft nicht mehr an uns vorbeikommt. Wir reden da nicht - und das meine ich überhaupt nicht despektierlich - von einer Handball-, Volleyball- oder Hockey-WM, sondern vom drittgrößten Sportereignis der Welt. Wenn wir uns dafür qualifizieren, bekommen wir auch die Aufmerksamkeit, die wir uns wünschen.
Das Six Nations 2017 Live auf DAZN. Hol Dir jetzt Deinen Gratismonat
SPOX: Wo wollen Sie anpacken, um dieses Ziel zu erreichen?
Wilhelm: Wir haben schon angepackt. Wir haben unsere Mannschaften professionalisiert und die Strukturen im Umfeld verbessert. Wir sind noch keine Profi-Mannschaft, das wird auch noch ein wenig dauern. Aber wir spielen Turniere unter professionellen Bedingungen und sind im täglichen, organisierten und angeleiteten Trainingsbetrieb. Vor zehn Jahren hätten wir davon nur träumen können. Wir schaffen für unsere Mannschaften internationale Vorbereitungsturniere. Die Siebener-Mannschaft hat bei einem Turnier auf den Fidschi-Inseln teilgenommen und das 15er-Team hatte im vergangenen Jahr mit Brasilien und Uruguay immerhin einen WM-Teilnehmer zu Gast. Uruguay konnte dabei geschlagen werden. Zuvor waren wir schon in Brasilien zu einer Vorbereitungsreise. Also wir schaffen Strukturen und tun gut daran, dass es auch so weitergeht.
SPOX: Nicht alle Spieler beim DRV sind Profis. Sind Sie hauptberuflich als Sportdirektor tätig?
Wilhelm: Genau, das wäre im Nebenberuf auch gar nicht zu schaffen. Und es sind auch einige Spieler Profis. Teilweise sind sie als Sportsoldaten bei der Bundeswehr angestellt und können sich somit voll dem Rugby widmen. Andere stehen bei unserem Premiumpartner, der Wild-Rugby-Academy, in Lohn und Brot. Sie haben also die Zeit, unter professionellen Bedingungen zu trainieren. Als reiner Amateur mit einem Job nebenher schafft es heute keiner mehr in die deutsche Nationalmannschaft. Man muss schon sehen, dass man in die duale Karriere investiert, also zum Beispiel neben dem Studium mit Unterstützung der Deutschen Sporthilfe. Oder man sollte sich eine berufliche Ausgangssituation schaffen, die Rugby als Spitzensport zulässt.
SPOX: Welche Aufgaben kommen Ihnen als Sportdirektor denn zu?
Wilhelm: In dieser Position bin ich erst seit Januar. Davor war ich Leistungssportreferent. Meine Aufgabe liegt in der sportlichen Verantwortung für die Leistungssportprogramme im Siebener- und 15er-Rugby. Dort sehe ich mich in der Schnittstelle zwischen unseren Partnern, beispielsweise dem DOSB, der Bundeswehr, der Bundespolizei oder dem Rugby-Weltverband. Da gibt es Interessen, die gebündelt und zusammengeführt werden müssen. Natürlich mit dem Ziel, das Bestmögliche für unsere Mannschaften zu erreichen.
SPOX: Zur Popularitätssteigerung tragen Spiele vor laufender Kamera bei. Denken Sie, dass Sie an dieser Stelle eher auf den Livestream zurückgreifen müssen und der Fernseher der Vergangenheit angehört?
Wilhelm: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Es gibt noch viele Sponsoren, die noch in einfacheren Strukturen denken und denen es in erster Linie um die TV-Sichtbarkeit geht. Wenn bei den Streamingdiensten sämtliche Defizite - sei es technischer Art oder Fragen bei der Verfügbarkeit auf verschiedenen mobilen Geräten - ausgemerzt sind, dann sind sie ganz klar die Zukunft. Für den Moment ist für uns ein Medien-Mix aus TV und Stream eine gute Geschichte.