Wie kann es sein, dass die Weltrekorde gerade bei Olympia so regelmäßig purzeln? Wird vorher "gepokert"? Oder wächst man einfach nur über sich hinaus?
Groß: Zunächst einmal ist Schwimmen eben ein Sport, den man, wie schon erwähnt, relativ gut timen kann. Wenn jemand sagt: "Ich bin bei Olympia außer Form", muss ich sagen: Dann hast du dein Handwerk nicht beherrscht. Zu Olympia muss man eigentlich in Form sein können, das ist im Schwimmsport einfach Teil des Geschäfts. Schwimmen ist schließlich eine Trainingssportart. Beim Fußball macht man 50 Spiele im Jahr, da gibt es irgendwann Dellen in der Form - im schlimmsten Fall bei einer WM. Aber im Schwimmen können Sie wochen- oder monatelang trainieren und genau auf Olympische Spiele hintimen. Das Zweite: Es gibt einfach nicht so viele Anlässe.
Neben den Wettkämpfen haben Sie nach der Schule unter anderem Germanistik studiert. Ist man unter den Schwimmern nicht der totale Nerd, wenn man mit Schiller und Goethe ankommt?
Groß: Nein, wir hatten viele, die in den Trainingslagern mit Büchern herumgelaufen sind. BWL-er, Ärzte, auch ein Politologe. Das ist bis heute so: Gerade bei den Sommersportarten sind viele Studenten dabei. Man nimmt das natürlich unterschiedlich ernst, je nach Uni und Studiengang. Aber Thomas Fahrner z.B. hat danach in Harvard einen MBA gemacht, und einer meiner früheren Staffelkollegen hat Vistaprint gegründet.
Die Schwimmer waren damals bekannt für witzige Aktionen: Zum Beispiel sind Sie einmal in griechischen Togen zu den Startblöcken marschiert.
Groß: Das war Tradition bei uns. Es fing mit unserem Rückenschwimmer an, der 1983 bei der EM in Rom sagte: "Leute, letztes Rennen! Wir müssen irgendwas Lustiges machen!" Da haben wir uns einfach Klamotten der Mädels geschnappt. Das hat sich dann so entwickelt. 1988 haben wir es in Seoul etwa geschafft, über die deutsche Schule dort original Krachlederne zu besorgen und sind dann so einmarschiert. Mein finaler Einsatz war bei der WM 1991 in Perth. Da ist beim letzten Rennen einer von uns als Känguru einmarschiert, einer als Wombat, einer als Koala ... Das hat sich in den 90ern fortgesetzt, aber ob das heute noch gemacht wird, weiß ich nicht.
Nach der WM 1991 haben Sie Ihre Karriere beendet, mit 26. Dabei stimmte die Leistung noch. Barcelona '92 hat Sie nicht gereizt?
Groß: Nein, denn es geht nicht darum, alles erreicht zu haben. Sondern darum, alles erlebt zu haben. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Im Sport ist es wie überall im Leben wichtig, sich nicht daran zu orientieren, was man erreicht hat, sondern daran, was noch als Erfahrung lauert. Wenn man dann alles erlebt hat, sollte man etwas ändern. Nach Olympia '84 habe ich mir zum Beispiel vorgenommen, die längeren Strecken zu versuchen. Also die 400 Kraul, wo ich ja auch einen Weltrekord geschwommen bin, oder auch die 400 Lagen mit deutschem Rekord. Später dann die kurzen Strecken, 100 Kraul und 100 Delfin. Aber 1991 war letztlich der Punkt erreicht, an dem ich sagte: Ich habe alles erlebt. Ich war ja auch Barcelona vor Ort, nur eben ganz normal akkreditiert als Zeitungsjournalist.
Mittlerweile sind Sie Unternehmensberater und haben auch Bücher geschrieben. Etwa zum Thema Coaching, oder auch: "Siegen kann jeder." Sind das Dinge, die Sie als Sportler gelernt haben?
Groß: Wenn es nur um den Sport gehen würde, dann hätte ich keine Bücher geschrieben. Das wäre etwas platt, denn: Der Sport ist sehr einfach. Ein Wettkampf mit Regeln, und am Ende gewinnt der, der schneller ist oder ein Tor mehr schießt. Das wirkliche Leben ist wesentlich komplexer und nicht so schwarz-weiß. Die Idee bekam ich auch durch meinen Job, und weil ich das hier in Frankfurt auch unterrichte. Es steckt also ein bisschen mehr drin als nur Sportler-Erfahrung.
Legende, Autor, Dozent, Coach: Hier geht es zur Homepage von Michel Groß
Gab es zu Ihrer Zeit Mentaltraining im Schwimmen?
Groß: Nicht systematisch. Letztlich ist es im Sport so, dass die guten Trainer eben mehr sind als nur "Trainer". Deswegen trifft es das englische Wort "Coach" auch wesentlich besser. Wenn Sie in England oder den USA "Trainer" sagen, denkt man, Sie meinen den Masseur. Ein Pep Guardiola sagt seinen Spielern nicht, wie sie kicken sollen, sondern er holt das Beste aus ihnen raus. Insbesondere wenn man älter wird, braucht man das: Menschen, die einem neue Wege aufzeigen, Zuversicht geben und die Möglichkeit, sich selbst auch zu überraschen.
Sie hätten schon 1984 einen anderen Weg einschlagen können. Nach den Spielen von L.A. stand nämlich Ion Tiriac vor ihrer Tür, der damalige Manager von Boris Becker. Er wollte Sie von sämtlichen Geldsorgen befreien.
Beckers erster Wimbledon-Erfolg: "Tiriac war alles scheißegal"
Groß: Richtig. Ion Tiriac war ja immer sehr direkt, um nicht zu sagen schroff. Aber auch der beste Manager, den sich Becker in der damaligen Zeit hätte vorstellen können. Schon damals hatte er diese ganz spezielle Aura. Er sagte im Originalton: "Ich kann dafür sorgen, dass du nie mehr in deinem Leben arbeiten musst. Ich habe nur eine Bedingung: 100 Prozent Sport."
Wie haben Sie geantwortet?
Groß: Ich sagte: "Nein, 100 Prozent Sport will ich nicht." Bei der Bundeswehr wäre das noch einigermaßen gegangen, aber danach wollte ich ja studieren. Trotzdem: Es war ein super Gespräch, weil er ganz klar gesagt hat: Das ist dein Potenzial, wenn du es so und so machst. Das ist der Weg A. Aber ich habe eine ganz normale bürgerliche Laufbahn eingeschlagen. Weg B, wenn man so will.