Williams muss arbeiten
Und schon zu diesem Zeitpunkt war es ein anderes Spiel geworden. Heimlich, still und leise hatte Kerber zugelegt, nach nur sieben Punkten in Satz eins diesmal 16 Ballwechsel beendet. Und sie hatte Zweifel in ihrer Gegnerin gesät, mit ihrem unermüdlichen Einsatz im Erlaufen vermeintlicher Winner.
Wo zuvor ein guter Schlag gereicht hatte, mussten jetzt zwei oder drei her - und selbst dann kam oft noch ein kurzer Ball zurück, den Williams am Netz abschließen musste. Was ihr an diesem Tag sehr unregelmäßig gelang (15/32 Punkte am Netz).
Williams musste richtig arbeiten. 60 Prozent aller kurzen Rallys (0-4 Schläge) hatte Williams bis dato gewonnen, doch gegen Kerber blieb sie unter 50 Prozent (52:60). Und, noch viel wichtiger: Die langen Ballwechsel, die Kerber oft von Vorhand zu Rückhand hetzend und umgekehrt verbrachte. 25 Rallys mit neun oder mehr Schlägen hatte Williams in sechs Matches verzeichnet. Gegen Kerber allein waren es 22. Vielleicht rächte sich hier dann doch ein wenig die fehlende Matchpraxis der vergangenen Monate.
Mit Taktik und Rückhalt zum Sieg
Der entscheidende Durchgang schließlich bot ein derart hohes Niveau, dass er getrost als Werbevideo für exzellentes Damentennis archiviert werden könnte. Kerber hielt nicht nur in der Defensive formidabel dagegen, sondern steigerte auch die Zahl der eigenen Winner noch einmal, punktete über den zweiten Aufschlag und ließ Serena am Netz ein ums andere Mal alt aussehen. Und dann, bei 3:2 Kerber, streute sie aus dem Nichts auch noch zwei exzellente Stoppbälle von der Rückhandseite ein. "Die waren großartig und kamen überraschend", musste Williams zugeben. "Ich konnte sie nicht rechtzeitig erkennen." Und Kerber? "So bin ich halt, ein bisschen verrückt eben. Ich habe nur gehofft, dass sie es über das Netz schaffen, denn sie waren richtig gut."
Das Publikum hatte sich da schon längst auf die Seite der beherzten Außenseiterin geschlagen - und der so noch einmal einen Schub verpasst: "Als ich ein paar schwere Bälle geholt habe, merkte ich, dass die Zuschauer für mich waren." "Mega-fun" sei das gewesen, Gänsehaut inklusive.
Und so setzte sich die an diesem Abend sicherere, aber auch variablere und cleverere Spielerin durch. Als der x-te verschlagene Volley von Williams hinter der Grundlinie aufkam, stürzte Kerber ungläubig auf den blauen Untergrund, fast sofort von Schluchzern geschüttelt. Danach nur noch Ekstase, pure Freude - und eine mehr als faire Verliererin. "Würde ich mir eine Eins geben? Nein, aber mehr war heute nicht drin", so Williams. Kerber habe sich den Sieg verdient, sprach sie und schien sich fast genauso sehr über Kerbers Sieg - eine der größten Überraschungen der Aussie-Open-Geschichte - zu freuen wie über einen eigenen Triumph.
Bollettieri: "Wahrhaft eine Inspiration"
Und nicht nur Williams strahlte auf dem Podium unisono mit der überwältigten Kerber. Aus Deutschland und der ganzen Welt hagelte es Glückwünsche und "Jaaaaaaa!"-Schreie. Ein Zeichen dafür, wie sehr sich Tennis-Deutschland nach einer neuen Heldin sehnt. "Endlich hat jemand nach Steffi einen Grand Slam gewonnen", wusste Kerber um die Bedeutung eines Triumphs. Mitstreiterinnen wie Andrea Petkovic oder Sabine Lisicki hatten vor diesem Ziel, vor diesem Druck kapitulieren müssen. Ihr war es geglückt.
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Es war mehr als der übliche Usus im Social-Media-Zeitalter, der so viele dazu bewog, Angie zu feiern. Man muss sich nur die begeisterten Reaktionen ihrer Kolleginnen - und zwar nicht nur aus dem Fed-Cup-Team - anschauen, um zu wissen, wie beliebt die Linkshänderin auf der Tour. Traditionell der Schauplatz für Einzelkämpferinnen schlechthin, doch ihr gönnte man es von Herzen. Geschuldet war dieses Gefühl ihrem sympathischen, offenen Charakter- wer springt nach einem solchen Sieg schon freiwillig in einen Fluss und aus einem Flugzeug? -, aber auch der Strahlkraft ihres Erfolgs. 2011 noch war sie am Boden, verlor elf Matches in Folge. Doch mit harter Arbeit kämpfte sie sich aus dem Tief - ein echtes Tennismärchen.
"Frau Kerber hat sich von einem schnellen Aus in Runde eins bis zum Triumph im Finale gekämpft. Damit hat sie Deutschland und der ganzen Welt gezeigt, dass es erst vorbei ist, wenn es vorbei ist", lobte Tennis-Legende Nick Bollettieri nach dem Match im Gespräch mit SPOX. Für den Trainer-Guru einer ganzen Generation ist sie "wahrhaft eine Inspiration fürs Tennis, den Sport und das Leben an sich. Gut gemacht von ihr und ihrem ganzen Team."
Williams "sollte lieber aufpassen"
Wie weit kann dieses Märchen noch gehen? "Diese zwei Wochen haben alles verändert", wusste Kerber. Was sie dagegen nicht wisse, sei "was auf mich zukommt." Viele Pressetermine werden es sein, Interviewanfragen, Fotoshoots, dann eine anstrengende Heimreise nach Berlin. Und in einer Woche dann der Fed-Cup-Auftakt gegen die Schweiz in Leipzig. Mit dabei in den deutschen Farben: die Weltranglistenzweite.
Da fehlt ja nicht mehr viel bis zum Platz an der Sonne, oder? Die erste deutsche Nummer Eins seit ihrem Idol Steffi Graf? Auch so könnte sich ein Kreis schließen. "Darüber würde ich erst einmal nicht sprechen", wehrt Bolletieri ab. "Sie soll ihr Ding machen, einen Tag nach dem anderen in Angriff nehmen." Aber "wer ein solches Match wie heute und damit die Australian Open gewinnt, der hat natürlich auch das Potenzial für die Nummer Eins", weiß der Deutschland-Sympathisant: "Ich habe mit Boris, Sabine und meinem Jungen Tommy Haas gearbeitet, Deutschland liegt mir sehr am Herzen. Herzlichen Glückwünsch zu diesem Erfolg!"
Zur WTA-Spitze werden auch am Montag noch eine ganze Menge Punkte fehlen. Zumal Williams auch mit 34 noch keine Anstalten macht, ihren Platz freiwillig zu räumen: Nächstes Jahr werde sie wieder down under aufschlagen, betonte sie. Aber auch sie hat aufgemerkt: "Wow, schon die Zwei der Welt. Nach der Zwei kommt nur noch die Eins, also sollte ich wohl lieber aufpassen."
Die WTA-Weltrangliste: Kerber springt auf Zwei