Wimbledon-Erkenntnisse: Das wichtigste Match seit 15 Jahren
Das Wimbledon-Finale von 2008 gilt nicht umsonst als eines der besten Herrenmatches aller Zeiten. Mit 6:4, 6:4, 6:7, 6:7 und 9:7 besiegte damals Rafael Nadal Titelverteidiger Roger Federer auf dem Heiligen Rasen und beendete dessen Siegesserie nach 40 Matches und fünf Titeln in Serie. Es war das dritte Finalduell der beiden in Wimbledon hintereinander, zum ersten Mal gewann der Spanier.
Nadal läutete mit seinem Erfolg damals eine Zeitenwende auf der Tour ein. Zuvor waren die Rollen über Jahre klar verteilt gewesen: Er hatte die French Open dominiert (vier Titel in Folge), Federer Rasen und Hartplatz (elf Titel von von 2004 bis 2007). Plötzlich galten diese Gesetze nicht mehr: Der Schweizer hatte sein erstes Grand-Slam-Finale außerhalb von Paris verloren, Nadal sein erstes Major abseits der roten Asche gewonnen. Roger der beste Spieler, Rafa der beste Sandplatzspieler - so einfach war das nicht mehr. 2009 triumphierte Federer endlich in Paris, 2010 gewann Nadal erneut in Wimbledon - und ab 2011 mischte dann auch Djokovic so richtig mit.
Das Wimbledon-Finale 2023 könnte einen ähnlichen Wendepunkt in der Tennis-Geschichte markieren. Gerade mal sechs Minuten kürzer als die Finalschlacht 15 Jahre zuvor war das 1:6, 7:6, 6:1, 3:6 und 6:4 von Alcaraz gegen den Djoker, und die Parallelen hören damit nicht auf: Zwar trat der Spanier als Nummer eins der Welt an, auch ist Carlitos auf Belägen deutlich vielseitiger unterwegs als der junge Nadal. Das beweist sein US-Open-Erfolg vom vergangenen Jahr. Aber da hatte Djokovic aufgrund fehlender Corona-Impfung eben gefehlt. Und wenn er bei den Slams antrat, dann gewann er sie zuletzt auch (sechs der letzten acht).
Alcaraz war - es sei denn er fehlte verletzt - der Dominator auf der Tour, Djokovic der Dominator bei den Slams, im Best-of-Five-Format und der historischen Komponente. Da konnte ihm kaum jemand das Wasser reichen, schon gar nicht aus der Generation Anfang 20. Und in Wimbledon sowieso nicht, wo er seit 2013 (!) nicht mehr auf dem Centre Court verloren hatte. Auf dem so speziellen Untergrund.
Über zwei Gewinnsätze hatte Alcaraz den Serben schon bezwungen. Als er in Paris jedoch an Krämpfen und den eigenen Nerven scheiterte, schienen die eisernen Gesetze des Tennis-Universums erneut zu greifen: In den Slams, und vor allem in Wimbledon, steht Djokovic noch eine Stufe höher als sein spanischer Herausforderer. Doch nun greifen diese Gesetze nicht mehr. So wie damals vor 15 Jahren.
Wimbledon-Erkenntnisse: Djokovic hat nicht verloren - Alcaraz hat gewonnen
Was für eine Wachablösung an der Spitze der Tennis-Hierarchie spricht, ist nicht nur die Tatsache, dass Alcaraz in Djokovics Wohnzimmer gewinnen konnte - sondern vor allem die Art und Weise. Man erinnere sich an das Endspiel der US Open 2021: Damals fehlte dem Djoker nur noch dieses eine Match zum historischen "Grand Slam", also dem Gewinn aller vier Majors in einem Kalenderjahr. Gegen den souverän aufspielenden Daniil Medvedev verlor er dann aber glatt in drei Sätzen und weinte am Ende hemmungslos.
Aber auch wenn der Russe ein erstklassiger Hartplatzspieler ist, fehlte bei seinem ersten Grand-Slam-Titel die historische Signifikanz, wie sie an diesem Sonntag festzustellen war. Schließlich war Djokovic hauptsächlich am Druck und am Moment gescheitert, er hatte seine eigene Leistung nicht abrufen können. Und es waren eben die US Open, die er ohnehin hatte "nur" dreimal gewinnen können.
Ein Wimbledon-Finale so zu drehen wie Alcaraz, das ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer. 1:6 verlor er schließlich den ersten Satz, nur um sich das Match dann doch noch zu krallen. Ja, Nole spielte nicht immer sein bestes Tennis - mehr dazu später -, aber ein solches Match gegen ihn nach Rückstand noch zu drehen, ist fast unmöglich. Alcaraz war in den entscheidenden Momenten der bessere Spieler: Er beendete die Tiebreak-Serie des Serben, er gewann das phänomenale 26-Minuten-Aufschlagspiel in Satz drei, wehrte Breakball im fünften Satz ab und holte sich dann seinerseits das entscheidende Break wenig später.
Selbst danach hätte er durchaus noch einmal wackeln können, schließlich ist Djokovic für seine phänomenalen Comeback-Fähigkeiten berüchtigt. Aber wo anderen der Schläger schwer wird, konnte er sich noch einmal steigern. Sein finales Aufschlagspiel zum Matchgewinn war bezeichnend: Sechs Punkte musste er spielen - sechsmal kam der erste Aufschlag!
Diese brachte Djokovic allesamt zurück, nicht umsonst ist er der wohl beste Returner der Geschichte. Aber das war nicht genug, Alcaraz spielte das Match brillant zu Ende. 18 Winner schlug er im fünften Durchgang, sein Gegner gerade mal drei. "Die Leute sagen, dass sein Spiel aus bestimmten Elementen von Roger, Rafael und mir besteht. Ich stimme dem zu. Er hat das Beste aus allen drei Welten", musste der anschließend anerkennen. "Ich habe noch nie gegen einen Spieler wie ihn gespielt."
Wimbledon-Erkenntnisse: Djokovic wird dieser Chance nachtrauern
Chapeau, wie sich der Titelverteidiger nach einer der wohl bittersten Niederlagen seiner Karriere im Interview präsentierte, mit Witz und Charme und ehrlichem Lob in Richtung seines Kontrahenten: "Du hast es dir absolut verdient. Glückwunsch, eine erstaunliche Leistung." Gleichzeitig wusste er einzuordnen, dass er selbst in der Vergangenheit viele enge Matches gewonnen habe, die er vielleicht hätte verlieren sollen unter anderem gegen Roger Federer im Wimbledon-Endspiel 2019. Insofern sei das nur gerecht, sagte er und lachte.
Wie sehr ihn diese Pleite schmerzte, war aber durchaus auch zu erkennen: "Stolz" könne er auf seine Leistung wohl erst einen Tag später sein, so sei das erst einmal "schwer zu schlucken". Ja, er hatte gegen einen besseren Spieler verloren - aber das hatte ihn in der Vergangenheit auch nicht gestört, wenn man so will.
Diesmal hatte er sich in den entscheidenden Momenten die Butter vom Brot nehmen lassen, das wird den Serben ganz besonders wurmen. Im Tiebreak des zweiten Satzes hatte er bereits mit Break geführt, machte dann aber mehrere, für ihn völlig uncharakteristische Fehler (gegen Federer hatte er 2019 in drei Tiebreaks keinen einzigen unforced error begangen).
"Meine Rückhand hat mich im Stich gelassen", analysierte er später. Zu Beginn des fünften Satzes lag das Momentum auf seiner Seite, aber bei einem frühen Breakball zeigte er erneut Nerven und verschlug einen Drive-Volley: "Der Wind hat den Ball weggetragen, so konnte ich nicht mehr schmettern und musste im Rückwärtsfallen schlagen."
Überhaupt waren die Elemente diesmal nicht auf der Seite des Djokers: Immer wieder musste er seinen Ballwurf beim Aufschlag neu ansetzen oder lamentierte mit den Elementen. So gelangen ihm in fünf Sätzen gerade mal zwei Asse - neun für Alcaraz -, eine geradezu unerhört schwache Zahl, wenn man bedenkt, wie sehr er sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren gesteigert hat. Für seinen Gegner galten die gleichen Bedingungen, klar. Aber wer weiß, wie das Match ausgegangen wäre, hätte das Dach wetterbedingt geschlossen werden müssen. Alcaraz machte am Ende genau zwei Punkte mehr (168:166), viel enger kann es kaum werden.
Der achte Titel in Wimbledon, der fünfte in Serie und der 24. Slam wurde Djokovic so verwehrt. Den Rekord hat er bereits inne, von einem Karriereende will er noch nichts wissen. Doch nach einer solch historischen Niederlage muss man konstatieren, dass er so oft nicht mehr Favorit sein wird. Die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben. In New York etwa wird er der Herausforderer sein, gewonnen hat er dort seit 2018 nicht mehr. Sein Nimbus der Unbesiegbarkeit ist in Australien noch intakt, allerdings fehlte Alcaraz dort in diesem Jahr verletzt. Und auf Sand werden die Karten dann neu gemischt - vielleicht auch wieder mit Rafael Nadal ...
Wimbledon-Erkenntnisse: Erfahrung auf Gras ist überbewertet?
Früher, in grauer Tennis-Vorzeit, wurden gleich drei Grand Slams auf Rasen ausgespielt (die US Open bis 1974, die Australian Open bis 1987). Mittlerweile hat sich der Aufenthalt auf Gras im Tennis-Kalender auf wenige Wochen beschränkt: Ein paar Vorbereitungsturniere, Wimbledon, weiter geht's. Wenig Zeit, um sich an das Spiel auf Gras zu gewöhnen, auch wenn es mittlerweile nicht mehr ein reines Serve-and-Volley-Fest ist.
Da spielt die Erfahrung eine ganz besondere Rolle - und davon hatte Djokovic jede Menge: Vor dem Turnierstart hatte er mehr Matches in Wimbledon gewonnen als der Rest der Top-20 zusammen (86:85), eine unfassbare Statistik. Doch dieser Trumpf sollte nicht stechen. "Seine Slices, die gechippten Returns und das Spiel am Netz waren sehr beeindruckend", staunte er über Alcaraz. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass er schon dieses Jahr so gut auf Gras spielt."
Zehn ATP-Matches hatte Alcaraz vor dieser Saison auf Rasen bestritten, gerade mal zwei Wimbledon-Teilnahmen im Gepäck. Mit dem Sieg in Queens setzte er vor Wimbledon zwar ein Ausrufezeichen, aber das wichtigste Turnier der Welt ist eigentlich ein anderes Kaliber. Zwei Jahrzehnte lang hatten hier nur die "Big Four" triumphiert: Federer, Nadal, Djokovic und Andy Murray. Diese Serie ist jetzt beendet.
Nadal und Federer gewannen Wimbledon im jeweils fünften Anlauf, Djokovic im siebten. Alcaraz, auf Sand und Hartplätzen zuhause, brauchte drei. Der endgültige Beweis dafür, dass sich Rasen mittlerweile fast so spielen lässt wie die anderen Beläge?
Wie man's nimmt. Schließlich ist Alcaraz ein Generationen-Talent. Im Rückblick könnte sich sein Triumph nahtlos einreihen in die Liste der ganz Großen - während es zum Beispiel bei den US Open in den vergangenen Jahren auch immer wieder Überraschungssieger gab.
Andererseits bot sich bei den Frauen 24 Stunden zuvor ein ähnliches Bild: Mit Ons Jabeur hatte sich eine "Rasen-Spezialistin" ins Finale gespielt, schon 2022 hatte sie im Finale gestanden. Ihr Spiel mit glatten Grundschlägen, Stopp-Bällen und Rückhand-Slice ist maßgeschneidert für das Gras. Gegnerin Marketa Vondrousova galt dagegen als Sandplatz-Spezialistin: In ihrer gesamten Karriere hatte sie zuvor nur vier Matches auf Rasen gewinnen können. Spielte das am Ende eine Rolle? Nein.
Vielleicht war Wimbledon 2023 also gleich in mehrfacher Hinsicht ein historisches Turnier.
Grand-Slam-Sieger bei den Herren der letzten zehn Jahre
Jahr | Australian Open | French Open | Wimbledon | US Open |
2013 | Novak Djkokovic | Rafael Nadal | Andy Murray | Rafael Nadal |
2014 | Stan Wawrinka | Rafael Nadal | Novak Djkokovic | Marin Cilic |
2015 | Novak Djkokovic | Stan Wawrinka | Novak Djkokovic | Novak Djkokovic |
2016 | Novak Djkokovic | Novak Djkokovic | Andy Murray | Stan Wawrinka |
2017 | Roger Federer | Rafael Nadal | Roger Federer | Rafael Nadal |
2018 | Roger Federer | Rafael Nadal | Novak Djkokovic | Novak Djkokovic |
2019 | Novak Djkokovic | Rafael Nadal | Novak Djkokovic | Rafael Nadal |
2020 | Novak Djkokovic | Rafael Nadal | ausgefallen | Dominic Thiem |
2021 | Novak Djkokovic | Novak Djkokovic | Novak Djkokovic | Daniil Medvedev |
2022 | Rafael Nadal | Rafael Nadal | Novak Djkokovic | Carlos Alcaraz |
2023 | Novak Djkokovic | Novak Djkokovic | Carlos Alcaraz |