Schon jetzt, mit 25 Jahren, polarisiert er wie Hermann Maier. Und ist erfolgreich wie einst Ingemar Stenmark: Marcel Hirscher. Drei Mal schnappte er sich die große Kristallkugel. Ein vierter Triumph im Gesamtweltcup wäre historisch, dann zählt er selbst zu den Skisport-Ikonen. Bei SPOX spricht der Österreicher über David Alaba, die Tortur Weltcup, Investigationsmedium Facebook und Skifahren im Badeanzug. Plus: Wovor er Angst hat und wann er mit Papa Ferdinand fernsieht.
Marcel Hirscher ist keiner, der sich versteckt. Das kann er auch nicht. In seiner Heimat Österreich erlangte er längst Helden-Status. "Wer hier", sagte er unlängst, "meinen Namen nicht kennt, der ist wie ein Steinzeit-Bewohner."
Ob akrobatisch auf Skiern. Oder wortgewandt vor den Mikros. Er, der Strahlemann vom Annaberg, begeistert die Massen - und spaltet sie. Fans belagern ihn. Nörgler mustern jede Gemütsregung, jeden Schritt missgünstig. Exklusiv bei SPOX gewährt er nachdenkliche Einblicke in sein Seelenleben. Die Begrüßung erfolgte jedoch standesgemäß: lauthals und smart.
SPOX: Herr Hirscher, Ihre Anrufer werden von den Foo Fighters empfangen. Was hat es damit auf sich?
Marcel Hirscher: Mir gefällt das Lied Pretender sehr gut. Ich habe es mit 16 oder 17 Jahren als Ring-up Tone eingestellt. Wenn plötzlich der Sportminister anruft und es bei ihm gleich mal scheppert, muss ich immer lachen. ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel hat daran seine Freude. Bis jetzt fühlte sich niemand belästigt (lacht).
SPOX: Über David Alaba, den alten und neuen "Sportler des Jahres", ärgerte sich Schröcksnadel indes. Dessen Fernbleiben von der Gala missfiel ihm. Sie verloren den Wahl-Krimi hauchdünn - um ein Pünktchen.
Hirscher: Ich sehe das ganz entspannt. Im letzten Jahr war es schmerzhafter als diesmal. Mit David Alaba als "Sportler des Jahres" braucht sich Österreich keinesfalls zu verstecken. Im Gegenteil. Für mich ist das kein Weltuntergang. Er ist ein genialer Fußballer, ein super Typ.
SPOX: ...und mittlerweile hochdekorierter Weltstar. Inwiefern bewundern Sie ihn denn?
Hirscher: Ich bin Alaba-Fan. Wenn Bayern spielt, ist das für mich richtig cool. Ich durfte Basti (Bastian Schweinsteiger, Anm. d. Red.) und David des Öfteren treffen. Sie persönlich zu kennen, macht es speziell. Zumal Österreich im Vergleich zu Deutschland fußballerisch eher bescheidene Leistungen zeigt. Da ist das eine großartige Geschichte.
SPOX: Alaba ist mit 22 Jahren Nationalheld. Ein Status, den Sie sich ebenfalls verdient haben. Beim Weltcup-Auftakt in Sölden herrschte Hirscher-Mania. Wie kanalisiert man das?
Hirscher: Im Endeffekt relativiere ich viele Dinge und betrachte sie nüchterner. Was ist mir persönlich wichtig? Was passiert, wenn ich nicht mein Maximum ausschöpfe? Ich möchte einfach, dass meine Werte die gleichen bleiben. Ob ich ausfalle oder nicht, es ist nichts Weltbewegendes. Klar, es ist für all diejenigen, die mitfiebern, schade. Für mich selbst ist es keine Gaudi. Nur was soll's? Keep on going! Abhaken und weiter geht's. Der Skisport ist ein bedeutender Teil meines Lebens. Er sollte allerdings nicht mein Leben sein. Es gibt ein Links und Rechts. In gewissen Zeiten habe ich es zu eng gesehen, heute nicht mehr.
SPOX: Der Jubel in Sölden fiel entsprechend befreit aus.
Hirscher: Von mir werden Siege erwartet. Das Podium ist Grundvoraussetzung. Damit umzugehen, ist nicht einfach. Man muss extrem aufpassen, nicht in eine falsche Erwartungshaltung zu fallen. Selbst die Top Ten sind kein Klacks, immerhin gehört man zu den zehn besten Skifahrern der Welt.
SPOX: Ärgert Sie dieser Erfolgszwang?
Hirscher: Die Ansprüche sind völlig berechtigt. Das Problem ist, der Fan begreift nicht, warum es an einem Tag funktioniert und am nächsten vielleicht einmal nicht. Ich versuche, Verständnis aufzubringen. Aber: Die Medien sind das Sprachrohr und vernachlässigen ihre Aufgabe. Sie sollten den Ball im realen Spielfeld halten. Im Boulevard-Journalismus ist es so, dass sich überkandidelte Schlagzeilen und "Bad News" besser verkaufen als realistische Einschätzungen.
SPOX: Der Hype hat überwältigende Ausmaße angenommen. Entkommen unmöglich?
Hirscher: (lacht) Sogar in meinen letzten beiden Urlauben wurde ich erkannt. Ich möchte mich mit der Rolle des Vorbilds, der Person, auf die alle schauen, identifizieren, sie zu meinem "Ich" machen. Das gelingt mir immer besser. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, mich vor dem Hype zu verstecken. Und ich kann sowieso nicht davor fliehen. Ich fühle mich wohl in dieser Zone. Der Weg dorthin war schwierig genug.
SPOX: Sie bedienen in gesunder Regelmäßigkeit die sozialen Netzwerke. Eine Art Selbstschutz, eine Möglichkeit, um Ihr Privatleben zu hüten?
Hirscher: Es sind eben die Medien, die ohne Verfälschung zum Endkonsumenten kommen. Facebook und Twitter haben oft geholfen, wenn Journalisten glaubten, sie wären Experten und mir Einfädler anzudichten versuchten. So kann ich das Beweismaterial sofort online stellen, um ihnen jeglichen Wind aus den Segeln zu nehmen.
SPOX: Sie gelten als offener, geradliniger Typ, der mit kultigen Sprüchen begeistert. Gleichwohl wird Ihnen Kalkül unterstellt, mit Argwohn begegnet. Was erwidern Sie darauf?
Hirscher: Das ärgert mich nicht mehr. Man wächst mit Herausforderungen. Die Kritiker sind meine Herausforderung. Ich habe sie angenommen. Ich musste natürlich lernen, mit gewissen Situationen umzugehen. Jetzt nehme ich viele Dinge entspannter. Das erleichtert mir das Leben im Weltcup- und Medien-Zirkus.
SPOX: Also beschäftigten Sie derartige Vorwürfe früher?
Hirscher: Selbstverständlich macht man sich Gedanken. Ich kann mich an einen Sieg erinnern. Das Rennen war irrsinnig hart. In der Emotion meinte ich: "Bist du narrisch, die Piste war im Arsch." Ich habe danach einen zehn Zentimeter hohen Stapel an Briefen und E-Mails erhalten: Was ich mir dabei denke. Was ich für ein Vorbild sei - ich sei eine Schande für Österreich. Dass junge Kinder so einer Wortwahl zu hören müssten, sei eine Frechheit. Daraus lernt man schnell. Leider ging es teils auf Kosten meiner Interviews. Mir fehlte manches Mal der Mut zu peppigen Aussagen.
SPOX: Wie ratsam ist es, sich in dem Geschäft zu verstellen?
Hirscher: Du musst dich in der Öffentlichkeit ein wenig verstellen, absolut. Man muss das System verstehen, erkennen, wie es funktioniert, wer mit wem gut kann, warum und wieso. Dazu kommt das Zusammenspiel mit der Presse. Hat man das gelernt,...
SPOX: ...wird man immun gegen Zweifel. Sie beschritten im Sommer neue Pfade. Was veränderten Sie?
Hirscher: Es gibt ständig Trendsetter. Hermann Maier war der letzte große Trendsetter in Österreich. Stunden, wenn man es hochrechnet Monate, verbringen Athleten auf Ergometer oder Fahrrad. Ich habe mir gesagt: "Aus, ich bin genug Radl gefahren. Ich mag nicht mehr." Da greif' ich mir ans Hirn. Bei fünf Grad und Regen brauche ich nicht durch die Gegend fahren. Und bei schönem Wetter sitze ich nicht im Keller in der Kraftkammer. Ich wollte mich in der Lebensqualität nicht mehr einschränken lassen. Seit drei Jahren arbeite ich mit einem eigenen Konditionstrainer und Physiotherapeut. Er hatte den Mut, mit mir neue Wege zu gehen. So hat Ausdauer in meinem Trainingsprogramm sehr wenig Platz. Der Alltag bereitet mir jetzt mehr Freude als Qual. Wenn ich einen Tag Motocross fahre, das mit Euphorie tue, erreiche ich mehr, als wenn ich eine Stunde auf dem Radl sitze und eine Fresse ziehe.
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SPOX: Sölden spricht für sich: An Ted Ligety, dem "Mister Riesenslalom", sind Sie vorbeigezogen. Genugtuung?
Hirscher: Wir wollen es mal nicht überbewerten. Ich bin vorbeigezogen, in einem Rennen. Er hat uns gefühlt bei den letzten 35 von 40 Riesentorläufen komplett alt aussehen lassen. Es ist zu früh, um da eine Tendenz zu erkennen. Trotzdem: Es war eine echt geile Sache.
SPOX: Das Tüfteln hat sich gelohnt. Wie arbeitsintensiv war die Suche nach fehlenden Zehnteln?
Hirscher: Jetzt kann ich es sagen: Mehr hätten ich und mein ganzes Team nicht rausholen können. In Kombination mit Atomic haben wir wirklich einen sehr großen Schritt nach vorne gemacht. Die Ski sind in Sölden genial gelaufen, so wie man es sich wünscht. Ich bin mit meinem Papa (Teil des Betreuerstabs, Anm. d. Red.) und mit meinem Trainer viel vor dem Fernseher gesessen. Ein Ski-Ingenieur hat uns über die nächsten Schritte beraten und die Erkenntnisse in ein neues Modell umgewandelt. Der Servicemann musste alles einschleifen und präparieren, damit es zu meinem Fahrstil passt. Aktuell flutscht es.
SPOX: Im Slalom von Levi landeten Sie auf Platz zwei - ein beinahe perfekter Start. Was steht dem vierten "depperten Glasbecher", wie Sie es formulieren, überhaupt im Wege? Aksel Lund Svindal, Ihr schärfster Rivale, fällt mit einem Achillessehnenriss lange aus.
Hirscher: Primär tut es mir extrem Leid um Aksel. Vor allem menschlich wird er uns fehlen. Sportlich wird eine Abfahrt ohne ihn an Spannung verlieren. Dennoch wird es kein Spaziergang für mich. Alexis Pinturault, Ted Ligety, Henrik Kristoffersen oder Felix Neureuther streben bestimmt das gleiche Ziel an. Ich kann mich jedenfalls nicht transformieren und sagen, das wird der Winter meines Lebens (lacht).
SPOX: Gustav Thöni, Phil Mahre sowie Stenmark bejubelten den Gesamtweltcup drei Mal en suite. Mit Nummer vier würden Sie zur Allzeit-Legende. Was bedeuten Ihnen Rekorde?
Hirscher: Früher interessierten sie mich gar nicht. Der Moment hatte für mich eine wesentlich größere Bedeutung. Heute bereiten sie mir Freude, wenn ich sehe, dass Sölden mein 24. Sieg war. Dass einzig drei Athleten die große Kugel drei Mal in Folge gewinnen konnten, zeigt, welche Herausforderung das ist. Für mich wäre es eine riesige Ehre, eine solche Bestmarke in einem derart geschichtsträchtigen Sport einzustellen. Noch ist alles sehr surreal.
SPOX: Wie surreal sind Bilder von Ihnen auf Abfahrtslatten?
Hirscher: Da bin ich leider ein Hosenscheißer (lacht). Man kann sich das so vorstellen, wie wenn ein Motocross-Fahrer das allererste Mal auf eine MotoGP-Maschine aufsteigt. Das ist eine Überwindung, gerade vom moralischen Aspekt her. Ich hatte letztes Jahr vor dem ersten Super-G in den USA drei Super-G-Trainingstage - quasi nichts. Die Abfahrer gehen zum Beispiel mit unheimlichem Respekt in die Kitzbüheler Super-Kombination. Für sie ist ein vereister Slalom am Ganslernhang die Hölle, das kann ich nicht nachvollziehen (lacht). Andersrum sind für mich Speed-Wettbewerbe die Hölle. Gibt man zu viel Gas, tut es im Super-G richtig weh.
SPOX: Angst lässt sich durch Routine, durch Praxis befeuern - wollen Sie das überhaupt?
Hirscher: Aus purem Egoismus werde ich nicht den Super-G fahren, um 25. zu werden. Ich ordne das als gesunden Hausverstand ein. Es wäre grob fahrlässig zu sagen, ich haue mich mit aller Gewalt die Piste runter, wenn ich nicht mal weiß, wann ich das letzte Mal auf Skiern über 30 Meter gesprungen bin. Fehlt der Spaß, ist es nicht lässig. Daher werde ich lediglich die Super-Gs fahren, die technisch anspruchsvoll sind, ohne zu lange Gleitpassagen und ohne die hohen Geschwindigkeiten.
SPOX: Ein reiner Technik-Spezialist bleibt vermutlich Felix Neureuther. Glauben Sie wirklich, er greift nach dem Gesamtweltcup?
Hirscher: Wenn es ihm voll aufgeht und er konstant seine Leistung bringt, auf jeden Fall. Dann kann er ordentlich Punkte sammeln. Hoffentlich bleibt er topfit und gesund. Er ist eine Persönlichkeit und wenn er nicht dabei ist, merkt man das. Er bereichert den Skisport.
SPOX: Sie verbindet eine Freundschaft. Wie lässt sich die im Weltcup, im gegenseitigen Streben nach Auszeichnungen konservieren?
Hirscher: Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe fünf beste Freunde - Felix ist einer meiner sehr, sehr guten Kollegen. Wir verstehen uns richtig gut und gehen schon mal auf ein Feierabend-Bier, aber wir telefonieren nicht täglich und besprechen unseren gemeinsamen Urlaub (lacht). Die Beziehung wird durch das Skifahren nicht beeinflusst. Wenn wir die Startnummer überstreifen, geht es gegen eine Richtzeit. Wer die aufgestellt hat, ist egal. Im Endeffekt fahre ich nicht gegen Felix, Mario Matt oder sonst irgendwen - ich fahre gegen die Uhr.
SPOX: Bleibt das Zwischenmenschliche im stressigen Winter nicht auf der Strecke?
Hirscher: Die Kontakte zu pflegen, ist problematisch. Drei Stunden später schlafen zu gehen, ist fast zu viel verlangt. Der Weltcup ist on the edge, er ist an der Grenze des körperlich Erträglichen. Somit kommt der Spaß zu kurz. Es bleibt keine Zeit, um wirklich in aller Ruhe gemeinsam auf einen Tag zurückzublicken. Letztendlich obliegt das jedem selbst. Ich trauere der Zeit nicht hinterher und habe nichts versäumt. Ich bin froh, wo ich stehe. Darauf habe ich hingearbeitet, umso schöner ist es, das auszuleben. Powdern kann ich nach der Karriere. In zehn Jahren werde ich nicht mehr im Weltcup sein. Andere sehen das lockerer. Bei mir ist im Winter weniger los.
SPOX: Im Gegensatz zu den Amerikanern: Julia Mancuso ließ sich in Sölden etwa beim Skifahren im Badeanzug ablichten. Ihre Meinung?
Hirscher: (lacht) Was sagen Sie dazu?
SPOX: Sex sells!
Hirscher: (lacht) Es war eine witzige Geschichte. Solche Bilder gehen um die Welt, über den Skisport hinaus. Das kann nur gut sein und findet bei der Jugend Anklang.
SPOX: Ted Ligety zog in Shorts nach - welches Outfit ist von Ihnen zu erwarten?
Hirscher: Hoffentlich das Rote Trikot...