Matthias Behr gehört zu den erfolgreichsten deutschen Fechtern aller Zeiten. Gemeinsam mit dem Fecht-Guru Emil Beck räumte er national wie international ab. Sein berühmtester Kampf endete allerdings tragisch - und kostete nicht nur seinem Gegner sondern beinahe auch ihm das Leben.
"Ich bin mit mir im Reinen", sagt Matthias Behr heute. 34 Jahre hat es gedauert. Über drei Jahrzehnte, die geprägt waren von Trauer, Schmerz und Ohnmacht. Von zerbrochenen Freundschaften, Depressionen und Schicksalsschlägen. Aber auch von Geborgenheit, Solidarität und Liebe. Vor 34 Jahren schlug das Schicksal in Behrs Leben zu und bestimmte seinen weiteren Weg.
Für Behr fühlten sich all diese Jahre an wie ein kurzer Augenblick. "Der 19. Juli 1982 ist noch so präsent, als wäre es vor fünf Minuten passiert", sagt er. Es ist der Tag, an dem der Fechtsport traurige Berühmtheit erlangte. Der aber auch gleichzeitig dafür sorgte, dass Fechten heute eine nahezu unfallfreie Disziplin ist.
Eine verhängnisvolle Klinge
Am 19. Juli 1982 kam es bei der Fecht-WM in Rom im Florett-Teamwettbewerb zum Duell zwischen Matthias Behr und Wladimir Smirnow. Beide durften sich Weltmeister nennen, beide hatten Olympisches Gold errungen. Beide waren Meister ihres Fachs.
Bei einem gleichzeitigen Angriff brach Behrs Klinge. Sie bohrte sich durch Smirnows Maske und traf auf sein Auge. Sie stach es durch und drang bis zum Gehirn ein. Smirnow sackte umgehend zusammen, stark blutend ging er zu Boden. Tagelang wurde um sein Leben gekämpft, doch das Schicksal war gnadenlos. Einige Tage nach dem Unfall wurde Smirnow für tot erklärt. Behr verstand die Welt nicht mehr: "Er war mein Freund."
"Ich war der Auserwählte. Leider."
"Zu der Zeit habe ich in der Vorbereitung bis zu 50 Klingen zerbrochen", erzählt Behr. Die Materialien damals waren in einem jämmerlichen Zustand. Smirnows Maske war porös. Keiner wurde für den Tod des Ehemannes und Familienvaters verantwortlich gemacht. Es wurde als Unglück zu den Akten gelegt. "Wenn zwei 85-Kilo-Athleten aufeinander losgehen und die Klinge bricht, dann ist es vorbei", weiß auch Behr.
Mit den heutigen Standards hatte der Sport damals nichts zu tun. Doch wie so oft, mussten erst das Schicksal und die Tragik auf das Thema aufmerksam machen. Die Problematik veranschaulichen. Die Verantwortlichen zum Handeln zwingen.
Fünf Jahre hat es gedauert, bis die Klinge bruchsicher gemacht wurde. Die Westen wurden stabilisiert, die Masken sind heute undurchdringbar. Es ist der Strohhalm, an dem sich Behr festhält. Die einzige Erklärung, die ihm verständlich erscheint: "Es musste etwas passieren, um letztendlich für die Sicherheit im gesamten Fechtsport etwas zu tun. Und ich war der Auserwählte. Leider."
Beck und die getätschelte Ohrfeige
Es dauerte, bis Behr zu dieser Erkenntnis kam. Zuerst wollte der damals 27-Jährige sein Schicksal nicht wahrhaben. Wie eine seelenlose Hülle schritt er durch das Leben. "Ich fechte niemals wieder", zitierten die Medien einen Tag nach dem Unglück. "Ich muss weiterfechten, sonst zerbreche ich", hieß es drei Monate später. Behr kehrte zurück in das Fecht-Internat in Tauberbischofsheim und nahm das Florett wieder in die Hand.
Jenes Internat, in dem Behr den Großteil seines Lebens verbracht hat. "Mit einer Ohrfeige fing alles an", titelte die Bild-Zeitung einmal. Es war mehr ein fürsorgliches Tätscheln über die Wange, als eine Ohrfeige, das ihm der Bundestrainer Emil Beck damals verpasst hat. Der "Goldschmid von Tauber" gilt bis heute als der erfolgreichste Fechttrainer aller Zeiten.
Er war es, der den 11-jährigen Jungen in der Sporthalle stehen sah. Behr schaute seinen älteren Brüdern zu. Einen Klapps und die Ansage, am Dienstag darauf in der Halle zu stehen, später, und die Tür zum Fechtsport war für Behr geöffnet.
Mehr Vater als Trainer
Es war mehr als das Fechten, das die beiden verband. Behr war vier Jahre alt, als sich bei einem Verkehrsunfall seines Vaters die Fahrertür öffnete und der damals 36-jährige Lokomotivführer aus dem Auto geschleudert wurde. Er stürzte eine Brücke hinunter in den Tod. Karl Behr hinterließ seine Frau mit Matthias und seinen zwei älteren Brüdern.
Sieben Jahre später nahm ihn Beck unter seine Fittiche. "Ziehvater", das Wort gefällt mir jetzt nicht so, aber er hat eine gewisse Vaterrolle in meinem Leben übernommen", so Behr über sein Verhältnis mit dem Fecht-Guru. Beck sah in seinem Ziehsohn früh seinen prädestinierten Nachfolger. Er unterstützte keinen seiner Schützlinge so intensiv wie Behr.
Der Medaillen-Jagd folgt das Ehe-Aus
Und der ambitionierte Top-Athlet zog mit. Gemeinsam prägten Beck und Behr den Fechtsport national wie international. Mit dem Team, dem auch der heutige IOC-Präsident und enge Freund Thomas Bach angehörte, gewann Deutschland unter Becks Leitung Gold bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal. WM-Gold wurde 1977, 1983 und 1987 errungen. Dazu kamen zwei Silbermedaillen im Einzel bei den Olympischen Spielen 1984 in L.A. und der WM 1987 in Lausanne.
Behr ordnete seinem Sport alles unter. Erst Recht, nachdem er den Tod eines Athleten und Freundes auf dem Gewissen hatte, ohne schuldig zu sein. Seine Ehe litt darunter. 1989 ließ er sich von seiner ersten Ehefrau scheiden, die er mit 22 geheiratet hat. Er war einzig und allein Fechter und kein Ehemann.
Aus Fehlern gelernt - und das Tuch zerschnitten
Als Behr nach seiner Scheidung Zita Funkenhauser, ebenfalls eine Weltklasse-Fechterin und Olympiasiegerin, näher kennen und lieben lernte, erkannte er seine Besessenheit. Den Fehler aus erster Ehe wollte Behr nicht noch einmal machen. Seiner Zita zu Liebe machte er den ersten Schnitt in das Tuch zwischen ihm und seinem Mentor. Er teilte Beck mit, dass er dessen Position als Nummer 1 im deutschen Fechten nicht übernehmen wird.
1996 riss das Tuch endgültig. Beck wollte bei den Olympischen Spielen in Atlanta noch einmal abräumen. Doch Behr entschied sich, bei seiner Frau zu bleiben, die einen Tag vor Abflug die Zwillinge Greta und Leandra auf die Welt brachte. Die deutschen Fechter kamen mit einer stumpfen Bronzemedaille wieder nach Hause. Ein Desaster für die Entourage und den erfolgsverwöhnten Beck.
Der Bundestrainer begann seine mediale Hetzjagd. Beck sprach von einem "öffentlichen Feldzug für Familie und Freizeit", "erhebliche persönliche Opfer" und einem "Schlag ins Gesicht". Schuld daran soll allein Behr gehabt haben, der das Team im Stich ließ. Peu a peu entzog der enttäuschte Beck seinem designierten Nachfolger Einfluss, Geld und Arbeit.
"Ich wollte ins Nichts springen"
Dabei sollte sich Jahre später herausstellen, dass Behr die Entscheidung für die Familie womöglich das Leben rettete. All den Erfolgen zum Trotz, verfolgte ihn Smirnows Tod täglich. Die Ohnmacht bei dem Gedanken an 1982 endete nie, die Trauer kam immer wieder hoch. Behr wurde depressiv.
2002 sah er keinen Ausweg mehr. Mit einem Bein kletterte er über das Geländer einer Autobahnbrücke. "Ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich sehnte mich nur noch danach, von diesem Gefühl, oder besser von diesem Nicht-Gefühl, von meiner Depression, erlöst zu werden. Ich wollte ins Nichts springen", erinnert er sich.
Doch er zögerte. Was passiert, wenn ich jemanden verletzte? "Ein winziger Funken Restvernunft", schoss durch seinen Kopf, "weiß der Himmel woher." Behr verließ die Brücke und kehrte zurück zu seiner Frau und seinen Kindern.
Eine Lücke bleibt
Der Gedanke an seine Liebsten bewahrte ihn vor dem Tod. Er ließ sich helfen. "Depression ist heilbar", sagt er über seine Krankheit. Er selbst ist über dem Berg: "Ich brenne wieder vor Leidenschaft." Mittlerweile ist er Leiter des Fecht-Internats in Tauberbischofsheim. Becks Kampagne gegen ihn schlug fehl. Deutschlands Fechter zeigten Solidarität und Respekt vor Behrs Leistungen. Beck zog sich 1999 aus der Öffentlichkeit und dem Fechtsport zurück.
Beck verstarb 2007 im Alter von 70 Jahren. Mit seinem Ableben geht eine Geschichte zu Ende, dessen Aufarbeitung Behr für immer vorenthalten bleibt: "Ich hätte mir gewünscht, dass wir unseren Frieden hätten machen können. Ich habe ihm so viel zu verdanken. Aber es war mir nicht vergönnt."
Es bleibt die einzige Lücke in der Aufarbeitung seines Lebens. Mittlerweile hat die Witwe von Smirnow seine Kontaktversuche erwidert. Jahrelang hat Behr auf eine Antwort auf seine Briefe gewartet. Im Zuge einer SWR-Dokumentation sind beide endlich in Kontakt getreten. Bald will Behr in die Ukraine reisen. Er will Emma Smirnow kennenlernen und das Grab seines Freundes besuchen.