"In Peking war alles der Wahnsinn"

Jannik Schneider
01. August 201615:14
Dimitrij Ovtcharov will sich im Einzel und im Team eine Medaille erspielengetty
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In London glich Einzel-Bronze noch einer Sensation. Mittlerweile hat sich Tischtennis-Ass Dimitrij Ovtcharov als China-Jäger Nummer eins etabliert. Im Interview geht er auf das Duell mit den übermächtigen Superstars ein, erklärt, wie er zum Startverbot seiner russischen Vereinskollegen steht und äußert sich zur Wertschätzung seiner Sportart.

SPOX: Herr Ovtcharov, Ihre Familie stammt aus der ehemaligen UdSSR, zudem schlagen Sie seit einigen Jahren für den Spitzenklub Fakel Orenburg in der russischen Liga und der Champions League auf. Welchen Blick haben Sie mit diesem Hintergrund auf die Debatte um einen Ausschluss russischer Sportler bei den Olympischen Spielen in Rio?

Dimitrij Ovtcharov: Während meines letzten Russland-Aufenthalts wurde darüber viel diskutiert, da ging es vor allem um die Entscheidung für oder gegen die Leichtathleten. Ich komme aus einer Sportart, in der Doping eine untergeordnete Rolle spielt und habe deswegen einen anderen Blickwinkel auf die Thematik. Doch wenn Sportlern irgendetwas nachgewiesen werden kann bezüglich Doping oder sie gar in ein System verwickelt gewesen sind und damit die sportliche Ethik verletzt haben, dann gehören sie auf keinen Fall zu Olympia und müssen hart bestraft sowie gesperrt werden.

SPOX: Wie standen Sie denn zu einem generellen Ausschluss aller russischen Athleten?

Ovtcharov: Den habe ich von Beginn an nicht gut gefunden. Ich kenne ja die russischen Tischtennis-Jungs und so gut wie ich sie jetzt die vergangenen Jahre kennengelernt habe, kann ich mir beim besten Willen kein Doping im Tischtennis vorstellen. Diesen Sportlern, die die olympischen Werte immer geachtet haben, nun ihren Lebenstraum zu zerstören - das wäre schon sehr hart gewesen. Denn sie haben sich ihr Startrecht über viele Jahre hart erarbeitet.

SPOX: Wie oft sind Sie denn in Russland?

Ovtcharov: Ich lebe und trainiere in Düsseldorf. Acht Mal im Jahr bin ich in Russland, überwiegend in Orenburg. Dort spiele ich die Heimspiele in der Champions League. Die russische Liga trifft sich zu Sammelspieltagen, das ist dann auch mal in Moskau und St. Petersburg - oder Ekaterinenburg. Dort finden oft auch die Playoffs statt.

SPOX: Die Sie mehr als einmal erreicht und auch gewonnen haben, genauso wie die Champions League. Wie erleben Sie in Russland die Tischtennis-Mentalität?

Ovtcharov: In Orenburg leben 600.000 Menschen und da sind wir Sportart Nummer eins, auch wenn jetzt die Fußballer in die erste Liga aufgestiegen sind. Das Interesse an Tischtennis ist sehr, sehr hoch. Deshalb wurde vor Jahren schon ein großes Tischtenniszentrum eröffnet. Dort trainieren hunderte von Kindern unter tollen Bedingungen, um für gute Strukturen bis in den Profi-Bereich zu sorgen - auch der Behindertensport ist dort integriert. Da hat sich eine Tischtennis-Hochburg entwickelt, ein echter Hype. Auch deshalb verfügen wir über eine große Heimstärke.

SPOX: Obwohl Sie erst 27 sind, haben Sie auch schon für andere europäische Topklubs wie Borussia Düsseldorf oder Royal Vilette Charleroi in Belgien gespielt. Wo steht da Orenburg im Vergleich?

Ovtcharov: Borussia und Charleroi sind die erfolgreichsten Vereine in der europäischen Geschichte. Orenburg ist aber schon sehr speziell. So eine Professionalität, wie sie Orenburg an den Tag legt, mit Ärzten, Physiotherapeuten, mit dem Management, das uns immer komfortable Flugzeiten organisiert, das findet man sonst wohl nur im Fußball vor. Das macht schon sehr viel Spaß, dort zu spielen. Die Spieler und das Team um das Team herum sind eine eingeschworene Einheit.

SPOX: Und dennoch definieren sich Tischtennisprofis eher als Einzelsportler. Die Chinesen sind das Non plus ultra. Was machen die Sportler aus dem Reich der Mitte denn besser?

Ovtcharov: Tischtennis in China hat einen vergleichbaren Stellenwert wie Fußball in Deutschland. Das Know-How der Chinesen über unsere Sportart ist unglaublich hoch. Es gibt fast unbegrenzte staatliche Fördermittel von klein auf. Es gibt so viele Kids, die im ganzen Land verteilt mit erstklassig ausgebildeten Trainern und Sparringspartnern trainieren. Die Trainingsumfänge sind schon früh sehr hoch, während bei uns in diesem Alter viel Wert auf die schulische Laufbahn gelegt wird. Der professionelle Sport beginnt in Deutschland eigentlich oft erst so richtig mit 18. Zu diesem Zeitpunkt haben Chinesen schon so viel Vorsprung, dass es manchmal so scheint, als wäre das ein ganz anderer Sport, den sie betreiben.

SPOX: Das klingt ja nach Chancenlosigkeit. Wieso können Sie trotzdem mithalten, wie Sie es in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen haben?

Ovtcharov: Ich hatte viel Glück, dass ich durch meinen Vater, der in der UdSSR selbst Nationalspieler gewesen ist, schon sehr früh, sehr professionell trainieren konnte. Auch Timo Boll wurde früh von seinem damaligen Trainer Helmut Hampel gefordert und gefördert. Deshalb sind wir da noch ganz gut dabei. Wenn man gegen die Chinesen erfolgreich sein will, muss man früh anfangen und von guten Trainern trainiert werden. Da hatte ich enorme Hilfe von meinem Vater. Ohne ihn wäre das auf keinen Fall möglich gewesen.

SPOX: Für Sie sind es nun bereits die dritten Olympischen Spiele. Wie lautet denn nach doppeltem Teamsilber und dem in London sensationellen Einzelbronze in London dieses Mal die Zielsetzung?

Ovtcharov: Wenn ich mein bestes Tischtennis abrufe, dann kann ich sehr weit kommen. Das Ziel muss sein, die Chance zu erhalten, gegen die Chinesen zu spielen - im Team und im Einzel. Da nur zwei aus jeder Nation im Einzel starten dürfen und ich als erster Nicht-Chinese mit Weltranglistenposition fünf an drei gesetzt sein werde, wäre das dann bereits im Halbfinale.

SPOX: Dort wartet unter Umständen Chinas extrovertierte Nummer zwei, Olympiasieger Zhang Jike.

Ovtcharov: Ich habe Zhang beim letzten Duell im Februar geschlagen, deswegen gehe ich zwar mit einer gewissen Anspannung, aber auch Selbstvertrauen in das Turnier und in ein mögliches Duell mit ihm. Das Ziel ist natürlich in beiden Wettbewerben eine Medaille zu gewinnen - aber das wollen viele. Topfavorit auf Gold ist Chinas Nummer eins, Ma Long, der auch amtierender Weltmeister ist. Am Ende wird es darauf ankommen, im entscheidenden Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen. Denn alle haben sich sehr hart auf diesen einen Wettkampf vorbereitet.

SPOX: Ma Long überstrahlt in der Weltrangliste alle. Obwohl Sie ihn noch nie besiegt haben, gehen Sie immer offensiv mit dem Thema um, wirken überzeugt, ihm Paroli bieten zu können. Wie schlägt man denn den besten Spieler der Welt?

Ovtcharov: Naja, ich bin jetzt seit zwei, drei Jahren permanent unter den besten fünf Spielern der Welt, habe Zhang Jike schon oft geschlagen - Ma Long noch nicht, das stimmt. Das Wichtigste im Leben und im Sport ist aber immer, an sich zu glauben. Das ist das A und O und dann ist auch vieles möglich. Und auch, wenn er sehr, sehr stark ist: Ich habe im Training intensiv daran gefeilt, meine Stärken noch besser zu machen, um mit meinen Mitteln mein Spiel durchzusetzen.

SPOX: Sie sprechen die harte Arbeit an: Wie ist denn Ihre lang- und die kurzfristige Vorbereitung gelaufen? Ist man vor den dritten Spielen etwas weniger angespannt?

Ovtcharov: Ich bin vor allen wichtigen Turnieren immer etwas angespannt. (Lacht) Vor Olympia ist das nochmal etwas spezieller, da wollte man unbedingt eine perfekte Vorbereitung hinlegen und ich habe mein Bestes gegeben und über Monate hinweg sehr, sehr hart gearbeitet.

SPOX: Sie wurden aber leider zwischendurch von einer hartnäckigen Rückenverletzung ausgebremst, mussten sogar kurzfristig mit der Team-WM im März das zweite große Saisonziel absagen. Perfekt lief also nicht alles, oder?

Ovtcharov: Die Team-WM war meine erste Absage bei einer Großveranstaltung seit zehn Jahren. Es war extrem bitter, dem Team nicht helfen zu können. Aber hätte ich keine Pause gemacht, wäre die Reizung im Lendenwirbelbereich unter Umständen so schlimm geworden, dass Rio auf dem Spiel gestanden hätte. Ich wurde sehr gut behandelt von unserem Mannschaftsarzt Antonius Kass in Düsseldorf und habe in Abstimmung mit Ärzten in München dann eine dreiwöchige Reha in Paderborn absolviert. Das tat sehr gut.

SPOX: Welchen Einfluss hatten die Probleme auf das Training danach im Hinblick auf Rio?

Ovtcharov: Ich bin abseits des regulären Trainings immer noch viel mit dem Aufbau des problematischen Bereichs am Rücken beschäftigt, um diesen zu stärken. Ich habe mit Simon Martinello einen persönlichen Athletiktrainer verpflichtet, der mir ein individuelles Programm erstellt hat und mit dem ich regelmäßig zusammenarbeite. Nach der Schwere der Verletzung hätte es nicht besser laufen können und so konnte ich das normale Trainingspensum abspulen.

SPOX: Die Vorfreude auf das Großereignis Olympia ist also auf alle Fälle da. Kann man mit einem Medaillenwunsch das Drumherum überhaupt genießen?

Ovtcharov: Bei der ersten Teilnahme 2008 in Peking war alles Wahnsinn. Das Dorf zu erleben, die ganzen Superstars neben dir in der Kantine, die Eröffnungsfeier. Jetzt bin ich natürlich erfahrener und der Fokus liegt um einiges mehr auf dem Sportlichen.

SPOX: Hat ja aber bisher mit drei Medaillen trotzdem ganz gut geklappt.

Ovtcharov: (Lacht) Olympische Spiele sind einfach für Sportler etwas ganz Unglaubliches. Alle Athleten kommen mit demselben Traum zusammen und das versetzt mich in einen Zustand, in dem ich besonders gut spiele.

SPOX: Sie gelten als sehr ehrgeizig, haben Boll in Deutschland als Nummer eins abgelöst und bieten als einer der wenigen Athleten den Chinesen dauerhaft Paroli. Würden Sie sich bei all der harten Arbeit nicht öfter als einmal in vier Jahren wirkliche mediale Wahrnehmung wünschen?

Ovtcharov: Wir haben das Glück, dass unser Sport in Asien sehr groß ist und wir dort großes Medieninteresse erfahren und auch Wertschätzung. Das ist in Europa natürlich anders und außerhalb der Szene nicht der Fall. Fußball überstrahlt einfach alles und andere Sportarten fallen etwas hinten runter. Aber am Ende entscheiden das die Fans und ich bin da auch gar keinem böse. Außerdem glaube ich, dass es uns Tischtennisspielern in der öffentlichen Wahrnehmung im Vergleich zu anderen Sportarten noch ganz gut geht.

SPOX: Ihr Standing in der Szene haben Sie in der jüngsten Vergangenheit auch genutzt, um Kritik am Weltverband zu üben. Stichwort professionelle Bedingungen bei internationalen Turnieren im Weltcup, Qualität der Plastikbälle und zu geringe Preisgelder. Glauben Sie, dass davon in Zukunft etwas verbessert wird?

Ovtcharov: Tatsächlich gibt es einige Sachen, die getan werden müssen, um unseren Sport populärer zu machen. Einige sind einfach umzusetzen, werden aber nicht angepackt. Timo Boll und ich haben einige Punkte kritisiert, weil sich über Jahre nichts tut. Leider gibt es noch keine Verbesserung. Ich hoffe, es passiert bald etwas - aber es ist in den Verbänden alles sehr, sehr mühsam, etwas in die richtige Richtung zu stoßen - aber wir geben unser Bestes.

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