Der menschliche MP3-Player

Von Matti Peters
Mikaela Shiffrin will in Sotschi ihr erstes Olympia-Gold holen
© getty

Erst WM-Titel, nun Olympia-Gold? Für die erst 18-jährige Mikaela Shiffrin könnte dieser Traum in Sotschi in Erfüllung gehen - dank der Musik im Blut. Nur den Vergleich mit ihrem Vorbild scheut die amerikanische Slalom-Hoffnung.

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Aufgeben. Die Sachen packen. Und dann einfach nur noch weg. Wenn einem Sportler bei Weltmeisterschaften diese Gedanken durch den Kopf gehen, muss etwas passiert sein. Eigentlich. Denn mit Platz drei nach dem ersten Lauf des WM-Slaloms liegt Mikaela Shiffrin immerhin auf einem Medaillenrang.

Glücklich ist sie trotzdem nicht. "Den ganzen Morgen und während des ersten Durchgangs konnte ich meine Beine kaum spüren. Ich war sehr nervös", verriet sie letztens im Rahmen einer Kampagne namens "Raising an Olympian". "Ich wollte einfach nur nach Hause."

Doch es kommt anders - dank ihrer treuen Weggefährtin, die auch in diesem Moment nicht von ihrer Seite weicht. Es ist der Zuspruch ihrer Mutter Eileen, der letztlich die Wende bringt. Was dann folgt, hätte ein Hollywood-Regisseur nicht besser konstruieren können: Kurz vor Shiffrins zweitem Lauf durchbricht die Sonne die dichte Wolkendecke, die die Planai in Schladming bis dahin verdunkelte.

"Ich hab einfach aufgehört zu grübeln. Es war ein magischer Moment. Plötzlich konnte ich spüren, wie jeder Teil meines Körpers aufwachte. Ich fühlte mich bereit", erinnert sich der Youngster. Keine fünf Minuten später ist sie Weltmeisterin. Mit 17 Jahren und 340 Tagen. Der jüngste Champion seit 1985.

Erste Versuche in der Hausauffahrt

Was sich wie der perfekte Feel-Good-Moment anhört, ist allerdings kein Zufall. Shiffrin ist genau da, wo sie schon immer sein wollte. Dieser Weg war ihr vorbestimmt, so scheint es zumindest.

Das Ausnahmetalent wurde in Vail, einem bekannten Skiort in Colorado, geboren. Ihre Eltern? Ski-Rennfahrer, was auch sonst. Es ist also kein Wunder, dass Mikaela bereits im Alter von zwei Jahren unter Anleitung ihrer Mutter in der Hausauffahrt übte, wie man auf zwei klapprigen Plastik-Skiern einen "Abhang" bewältigt.

Es brauchte nur diesen kleinen Stupser, um ihre Leidenschaft für die Piste zu entfachen. "Viele Kinder wollen Ski-Rennfahrer werden, damit sie mit ihren Freunden zusammen sind oder weil ihre Eltern sie dazu fast schon zwingen. Mikaela war anders. Sie hatte ihre eigene Motivation und konzentrierte sich immer auf die perfekten Schwünge, immer und immer wieder", sagte Rika Moore, eine Skilehrerin aus Vail und Bekannte der Shiffrin-Familie, im Gespräch mit der "New York Times".

Einen kleinen persönlichen Antrieb hatte allerdings auch sie. Mikaela wollte unbedingt schneller sein als ihr Bruder. Es sollte genau dieser Ehrgeiz sein, der sie später in den elitären Kreis der Vonns, Höfl-Rieschs und Schilds katapultieren sollte.

Drills, Drills, Drills

Dank dieses Willens stach sie aber bereits in der Burke Mountain Akademie in Vermont heraus. Während sich der Großteil ihrer nur 68 Mitschüler in New Hampshire neben den schulischen Aktivitäten ausschließlich für die Rennsituation interessierte, perfektionierte die junge Shiffrin unzählige Stunden lang in verschiedensten Drills ihre Technik.

Das hinterließ auch bei Alex Hodlmöser nachwirkend Eindruck. "Mikaela war, als wir sie das erste Mal gesehen haben, schon sehr weit entwickelt", sagte der US-Cheftrainer gegenüber der "FAZ". "Sie stand schon damals sehr gut auf dem Ski."

Lernen mit der Mutter

Die logische Konsequenz: Mit gerade einmal 15 schnupperte Shiffrin im März 2010 erstmals Weltcup-Luft. In der Folge bekam sie vom Verband professionelle Unterstützung durch Konditionstrainer und Physiotherapeuten sowie Zugang zu den besten Trainingsmöglichkeiten.

Dass ihre schulische Ausbildung trotz der vielen neuen Eindrücke darunter nicht litt, lag - mal wieder - an ihrer Mutter. "Meine Mom ist wahrscheinlich die Einzige auf der Welt, die einen Chemie-Kurs mitmacht, nur um in der Lage zu sein, ihrem Kind helfen zu können", erzählte Mikaela einst bei "Fox Sports".

Der "coole Geek", wie sie ihre Mutter auch nennt, forderte Shiffrin ab und an sogar zu Duellen im Umstellen einer Formel. Wer gewann, durfte die DVD für den Abend auswählen.

Im Training schneller als einige US-Herren

Ihre schnelle Auffassungsgabe beweist sie aber vor allem auf dem Hang. "Da brauchst du nur irgendwas sagen, sie spürt das, und im nächsten Lauf macht sie es anders", schwärmt Hodlmöser.

Sein amerikanischer Kollege Roland Pfeifer, Techniktrainer der US-Frauen, ist sich sicher: "Wenn ihr Innenski ein Problem darstellt, dann übt sie den so lange, bis sie dieses Problem nicht mehr hat." Hodlmöser berichtet verschmitzt, dass Shiffrin im Slalom-Training sogar ab und zu einige US-Herren hinter sich lässt.

Die Hochgelobte selber vergleicht ihren Fahrstil mit einem Tanz. "Ich stehe oben. Nur der Berg und ich. Dann stelle ich mir vor, wie mich die Skier ins Tal tragen. Ich muss nichts tun. Nur dem Rhythmus der Musik folgen, den ich beim Fahren fühle", beschrieb sie diese Momente in dem österreichischen Magazin "freizeit".

Ihr Körper funktioniere dabei "wie ein MP3-Player: Passagenweise Balladen, dann wieder harte Beats. So steuere ich mein Tempo."

Anerkennung von der Konkurrenz

Spätestens seit dem WM-Titel bekommt der menschliche MP3-Player dafür Anerkennung en masse. Im eigenen Lager, aber auch bei der Konkurrenz. Bode Miller bezeichnet sie achtungsvoll als "Phänomen", ihre österreichische Konkurrentin Michaela Kirchgasser offenbarte nach dem Weltcup in Flachau: "Wir versuchen alles, aber wir fahren nur in der zweiten Liga."

Es dauerte nicht lange, da wurde sie sogar mit der großen Lindsey Vonn verglichen. Das liegt nicht nur an ihren Erfolgen. Vonn lebte und trainierte jahrelang in Vail - quasi Tür an Tür mit ihrer vermutlichen Nachfolgerin.

Als "Next Lindsey Vonn" möchte Shiffrin aber allein aus Respekt vor ihrem Vorbild nicht betitelt werden. Bodenständig wie sie ist, entgegnet sie solchen Fragen schlicht mit: "Lasst sie ihren Erfolg haben und mich meinen. Nennt mich einfach Mikaela Shiffrin."

Gold in Sotschi?

Spätestens mit einer möglichen Goldmedaille in Sotschi dürfte sie damit aber leben müssen. Dann hätte Shiffrin mit 18 Jahren schon geschafft, was vielen Athleten ein Leben lang verwehrt bleibt. Ein Olympiasieg. Ein WM-Titel. Und der Gesamtsieg im Slalomweltcup.

Die Chancen stehen nicht schlecht. "Sie ist meiner Meinung nach im Slalom neben Marlies Schild die technisch stärkste Fahrerin. Mit Abstand sogar", lobt Hodlmöser seinen Schützling. Dass Shiffrin unter diesem Druck zusammenbrechen könnte, glaubt er nicht - trotz der großen Erwartungshaltung in den USA. Und zur Not ist ihre Mutter in Sotschi sicherlich auch vor Ort. Wie an diesem sonnigen Tag auf der Planai.

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