Als die Snowboarderin Ester Ledecka die Ski-Welt auf den Kopf gestellt hatte, stand sie da wie vom Donner gerührt. Um sie herum am Fuße des Mount Gariwang schrien das Publikum und die Konkurrentinnen im olympischen Super-G auf - Fassungslosigkeit machte sich breit. Und Ledecka, Startnummer 26, stierte mit offenem Mund auf die Anzeigetafel, sekundenlang. "Nein, nein", stammelte sie, "das muss ein Fehler sein."
War es nicht: Die Snowboard-Weltmeisterin im Parallel-Riesenslalom, ja, die Snowboard-Weltmeisterin hat Gold im Super-G der Ski-Rennläuferinnen gewonnen. Nebenbei das erste bei Winterspielen für Tschechien. Eine Sensation, vielleicht die größte, die es jemals bei Winter-Olympia gab.
"Ich habe auf die Anzeigetafel geschaut und dachte, die legen da gleich ein paar Sekunden drauf", berichtete die 22-Jährige, "aber nichts passierte, alle schrien, und da dachte ich: Das ist seltsam." Aber wahr!
0,01 Sekunden lag die Sensationssiegerin vor der bereits als zweimalige Olympiasiegerin gefeierten Anna Veith aus Österreich, 0,11 Sekunden vor Tina Weirather (Liechtenstein). Lindsey Vonn (USA) blieb als Sechste ohne Medaille, Viktoria Rebensburg wurde Zehnte. "Super geil", sagte Rebensburg über Ledecka, "solche Geschichten werden nur bei Olympia geschrieben, das ist cool für unseren Sport!"
Ledecka spricht von einem Traum
Und für Ledecka, die auf ihre Goldmedaille überhaupt nicht vorbereitet war. Während Veith und Weirather bei der Zeremonie im Zielraum neben ihr stolz ihre Landesflaggen der Sonne entgegenstreckten, hatte sie keine Fahne dabei. Noch über eine Stunde nach dem Lauf ihres Lebens trug sie ihre Skibrille. Der Grund? "Ich habe kein Make-up drauf." Und eigentlich, sagte die Top-Favoritin auf Snowboard-Gold am 24. Februar, wollte sie schon längst wieder auf dem Brett stehen.
Das Board hatte sie anders als Fahne und Make-up dabei, doch aus dem Training wurde erst mal nichts. Stattdessen kostete die sympathische Pragerin ihren Triumph voll aus. Hier ein Scherz, da eine nicht ganz ernst gemeinte Antwort - Ledecka gab vor den staunenden Reportern die Entertainerin. Wirklich zu begreifen, was ihr da gelungen war, schien sie nicht. "Es war mein Traum, darauf habe ich hingearbeitet. Aber das habe ich nicht erwartet", bekannte sie.
Dabei ist Ledecka im Skizirkus kein völlig unbeschriebenes Blatt. Seit Februar 2016 fährt sie im Weltcup, 2017 nahm sie in St. Moritz an der WM teil - immer mit dem Ziel, in Pyeongchang als erste Athletin in beiden Sportarten zu starten. Ihre beste und einzige Top-10-Platzierung im Weltcup ist ein siebter Rang bei der Abfahrt im November in Lake Louise. Im Olympia-Riesenslalom vergangenen Donnerstag belegte sie Rang 23.
Ester Ledecka: Ein tschechischer Superstar
Und doch: Diesen Sieg hatte niemand kommen sehen. Anna Veith, geborene Fenninger, war sogar schon von IOC-Präsident Thomas Bach im Zielraum beglückwünscht worden. Auch für Justin Reiter, Ledeckas Snowboardtrainer, war es eine "super Überraschung, aber wenn das eine schaffen kann, dann sie. Ester hat ein großes Herz und ist stark im Kopf."
In Tschechien ist Ledecka, die die Szene der Raceboarder seit Jahren dominiert, längst ein Star, ihr Kürzel "STR" wie anderswo "CR7" für Cristiano Ronaldo eine Marke. Ihre ganze Familie ist berühmt: Opa Jan Klapac gewann zwei Olympia-Medaillen im Eishockey, Mama Zuzana war Eiskunstläuferin, Papa Jan Ledecky ist ein bekannter Musiker.
Mit zwei Jahren fing sie mit Skifahren an, nebenher fuhr sie Snowboard. "Ich wollte immer beides machen. Ich liebe beides, also mache ich beides", sagte sie einmal. 2014 war sie als Snowboarderin in Sotschi, 2015 wurde sie erstmals Weltmeisterin, 2017 holte sie erneut WM-Gold. Ob sie nicht Angst habe, wenn sie auf Skiern stehe, wurde Ledecka einmal gefragt. Ihre Replik: "Wovor soll ich mich fürchten? Auf zwei Ski und mit Stöcken in der Hand kann man nicht umfallen."
Übrigens: Surfen kann Ledecka auch. Als sie am Samstag gefragt wurde, ob sie in Tokio 2020 bei der Olympia-Premiere der Sportart starten wolle, sagte sie: "Ja, klar, warum nicht?"