Der Ursprung des Miami-Basketballs reicht bis nach Athen - und steht im krassen Kontrast zu den Lehren der alten Welt. Die Taktik-Analyse mit Ex-Bundestrainer Dirk Bauermann, amtierender Coach der polnischen Nationalmannschaft und des litauischen Top-Klubs Lietuvos Rytas, vor Spiel 3 der Conference Finals der Heat bei den Indiana Pacers, das SPOX in der Nacht von Sonntag auf Montag um 2.30 Uhr for FREE im LIVE-STREAM übertragt.
Teil I: Wie die Heat-Defense mit Athen zusammenhängt
Es widerspricht allem, was die alten Basketball-Gelehrten seit Ewigkeiten verkünden: Jedes erfolgreiche NBA-Team benötigt einen klassischen Center. Selbst die Chicago Bulls mit Michael Jordan verfügten über Brettspieler, die zwar nicht zur Elite gehörten, aber immerhin Gardemaß mitbrachten. Die Heat allerdings schreiben die Basketball-Gesetze um und verzichten gänzlich auf einen Center, der den üblichen Konventionen entspricht.
In der Rotation auf den beiden großen Positionen stehen nur Spieler, die bei anderen Teams eine Position kleiner eingesetzt werden würden: Die nativen Power Forwards Chris Bosh, Udonis Haslem und Chris Andersen teilen sich die Minuten als Center, die Small Forwards LeBron James und Shane Battier besetzen wiederum abwechselnd mit Haslem und Andersen die Power-Forward-Position.
spoxUmso erstaunlicher, dass der Titelverteidiger in den Playoffs dem Gegner nur 86,4 Punkte gestattet und damit hinter den ausgeschiedenen Knicks die beste Defense der Postseason stellt. Der Schlüssel: die in der NBA unerreichte Aggressivität. "Mit ihrer Athletik und Beweglichkeit verteidigen die Big Men der Heat das gegnerische Pick'N'Roll mit einer Konsequenz, die man sonst nur in Europa sieht. So gleichen sie die Größennachteile aus und verwandeln sie sogar in eine Stärke", sagt Dirk Bauermann.
"Wir können hier von einem Paradigmenwechsel sprechen: Große, dafür langsam und unbewegliche Center sind eine aussterbende Art. Mehr und mehr sind auf der Center-Position mobile, im traditionellen Verständnis zu kleine Spieler gefragt, die über ihre Athletik ein Spiel beeinflussen. Die Verschiebung einer Position ist ähnlich zu dem bei den Power Forwards vor einigen Jahren, als angeführt von Dirk Nowitzki als wurfstarker Großer die sogenannten Stretch Fours in die NBA kamen. Jetzt wird auch die Center-Position neu definiert."
Der Ursprung des Miami-Basketballs reicht dabei bis nach Griechenland zu Panathinaikos Athen. Deren früherer Coach Zeljko Obradovic, mit unglaublichen 8 Euroleague-Titeln so etwas wie der Phil Jackson des europäischen Basketballs, begann vor rund zehn Jahren, den untersetzten Mike Batiste (2,04 Meter) als Fünfer aufzustellen. Selbst nach Obradovic' Weggang verpflichtete Pana mit Stephane Lasme (2,03 Meter) den nächsten Mini-Center. "Obradovic hat mit Batiste einen neuen Standard gesetzt und Lasme ist mit seiner unheimlichen Athletik und Schnelligkeit dessen logischer Nachfolger. Das konventionelle Basketball-Buch wurde so neu geschrieben. Diesen Trend haben die Heat in hervorragender Weise erkannt und für sich aufgenommen", sagt Bauermann.
Konkret heißt das: "Miami ist das vielleicht einzige Team der NBA, welches das gegnerische Pick'N'Roll nicht ständig, aber sehr regelmäßig doppelt. Ohne bewegliche Center wäre das jedoch nicht möglich, weil diese dank der Athletik immer wieder aushelfen können." Stellvertretend dafür führt Bauermann den erst mitten in der Saison verpflichteten Chris Andersen auf. Andersen, ein 34-jähriger Wirrkopf ohne Vertrag und Perspektive, erweist sich trotz aller Skepsis als ideale Ergänzung. In nur 14,2 hingebungsvollen Minuten erbringt er erstaunliche 3,8 Rebounds und noch erstaunlichere 1,4 Blocks. Gemeinsam mit Chris Bosh, dessen 2,0 Blocks Playoff-Karrierebestwert bedeuten, ist Andersen hauptverantwortlich für eine erstaunliche Bilanz: In keinem einzigen Playoff-Spiel gelangen dem Gegner mehr Blocks als Miami.
Bauermann: "Die Andersen-Verpflichtung ist vermutlich die entscheidende Personalie in dieser Saison. Mit ihm kam ein weiterer Großer, der beweglich und aggressiv ist und dazu eine unglaubliche Spannweite mitbringt. An Andersen erkennt man auch, dass die Heat einen genauen Plan verfolgen. Sie hätten ja auch einen typischen Center unter Vertrag nehmen können, der zwar den Konventionen entspricht - der aber zu langsam ist und im Grunde nur in der Zone bleibt und das Pick'N'Roll nur passiv verteidigt. Das hätte aber keinen Sinn ergeben, weil es der Ausrichtung von Miami nicht entsprochen hätte. Diese Weitsicht ist vorbildlich."
Bei den Heat ist in der Defense alles dem Ziel untegeordnet, durch die aggressive Deckung so schnell wie möglich den Ball zu erobern und selbst ins Laufen zu kommen, weil Miami vor allem dank eines LeBron James in der Transition kaum zu stoppen ist. Neben den Center/Forward-Hybriden immens wichtig: die sonst wenig beachteten Point Guards. "Mario Chalmers und vor allem Norris Cole erledigen einen herausragenden Job", sagt Bauermann. Die 1,5 Steals (Chalmers) beziehungsweise 0,8 Steals (Cole) in den Playoffs seien nur ansatzweise ein Indiz dessen, wie gut und inbrünstig beide derzeit verteidigen.
Aussagekräftiger sind die Wurfquoten der gegnerischen Spielmacher: In der ersten Runde quälte sich Milwaukees Brandon Jennings zu Wurfquoten von 29,8 Prozent aus dem Feld (Regular Season: 39,9 Prozent) und 21,4 Prozent (Regular Season: 37,5 Prozent) von der Dreierlinie. Und in der zweiten Runde wiederfuhr Chicagos Kampfhobbit Nate Robinson nach einer grandiosen Serie gegen die Nets und Deron Williams ähnliches. Die Quoten aus dem Feld gingen von 50,5 auf 33,3 Prozent zurück, von der Dreierlinie von 36,4 auf 31,3 Prozent. Dazu explodierten die Ballverluste von 2,0 auf 3,6 pro Partie. Bauermann: "Vor allem Cole gefällt mir sehr gut. Besonders, wie er seine Rolle als Backup annimmt und von der Bank kommend gemeinsam mit Andersen der gesamten Mannschaft Energie injiziert."
Teil I: Wie die Heat-Defense mit Athen zusammenhängt
Teil II: Wie Miami die Zwergen-Taktik zelebriert
Teil III: Das schlechteste Rebounding der NBA - und doch dominant
Teil IV: Dwyane Wade - Der Fall aus dem Superstar-Olymp
Teil II: Wie Miami die Zwergen-Taktik zelebriert
Eng verknüpft mit der unorthodoxen Defense ist die Offense der Heat. Miami blockt seit der Bulls-Serie überdurchschnittlich gut (8,0 im Schnitt) und kein anderes Team in den Playoffs zwingt den Gegner zu so vielen Ballverlusten (15,7 Turnover), so dass einem James oder Dwyane Wade in der Transition, also im schnellen Umschaltspiel, viele einfache Punkte gelingen.
Trotz der Brillanz und Dominanz eines James im Angriff dürfen jedoch auch die Role Player nicht vernachlässigt werden, allen voran Chalmers und Cole. "Bis auf Golden State fällt mir kein Team ein, dass so schnell die Enden wechselt wie Miami. Und dafür sind die beiden Point Guards sehr wichtig. Obwohl sie klassische Point Guards sind, dürfen sie den Ball nicht zu lange in der Hand halten, sondern müssen genau wissen, wann sie sofort auf James passen müssen oder wann sie selbst den Ball vortragen und aufs Gaspedal drücken sollen. Diese Fähigkeit ist nicht selbstverständlich", sagt Bauermann.
Ein Beleg für das Teamplay der Heat: Mit 23,2 Assists im Schnitt liegen sie in den Playoffs nur hinter den Spurs (23,9). Das sei vor allem ein Verdienst des häufig unterschätzten Trainers Erik Spoelstra: "Die Rollenabstimmung und Rollenverteilung ist sehr logisch. Ein Großteil gebührt dem, der täglich daran arbeitet: Coach Spoelstra. Von außen könnte man denken, dass eine solche Superstar-Mannschaft jeder trainieren könnte. Ganz im Gegenteil: Das Management von Spielerpersönlichkeiten gerade auf dem Niveau ist eine große Kunst."
Allerdings weiß sich Miami nur schwer zu helfen, wenn es dem Gegner gelingt, die Transition zu stören und die Heat zum Setplay zu zwingen. "Es war auffällig, dass sich Miami bereits gegen Chicagos Halbfeld-Verteidigung schwer tat, zu leichten Punkten zu kommen", sagt Bauermann.
Probates Mittel der Heat im Setplay: Die angesprochenen dynamischen Center nutzen ihre Mobilität, beteiligen sich am Pick'N'Roll und rollen sich zum Korb ab oder bleiben am Perimeter, um den Außenspielern, vorwiegend James, Räume zu schaffen. Die Logik: James penetriert, zieht die gesamte gegnerische Verteidigung auf sich und schließt selbst ab oder passt raus auf einen Dreierschützen.
Dass dieses Muster aber durchschaubar ist, zeigen die Quoten der Dreierschützen in den Playoffs. Battier trifft fast 20 Prozent schlechter als in der Regular Season (von 43,0 auf 24,0), bei Chalmers sind es über 10 Prozent (von 40,9 auf 30,4). Selbst bei Ray Allen sind es nur noch 36,7 Prozent (von 41,9). Und Wade nahm in der gesamten Postseason nur 1 Dreier (!) - der nicht reinging.
All diese Statistiken sind Indizien dafür, dass die Gegner zumindest im Setplay wissen, wie die James-Sidekicks vom Scoren abgehalten werden können. Bisher wurde die sinkende Treffsicherheit der Dreier-Experten durch die Steigerung zweier Spieler kompensiert, denen das nicht zugetraut wurde. Bosh verwandelt plötzlich aus der Distanz hochprozentig wie nie (43,8), ebenso der sonst instabile Werfer Cole mit einer absonderlichen Dreier-Quote von 64,9 Prozent (11/17).
Bauermann: "Gegen Indiana und in einem möglichen Finale gegen Memphis oder San Antonio wird es spannend zu beobachten, wer es schafft, das Tempo zu kontrollieren. Vor allem Indiana und Memphis spielen traditionell mit dem Fokus auf dem Frontcourt. Wenn das Tempo entsprechend langsam ist und Miami zum Setplay gezwungen wird, müssen sich die Heat im Entscheidungsverhalten und im Passspiel verbessern, um die gegnerische Defense auseinanderzunehmen. Nur James alleine wird nicht reichen."
Teil I: Wie die Heat-Defense mit Athen zusammenhängt
Teil II: Wie Miami die Zwergen-Taktik zelebriert
Teil III: Das schlechteste Rebounding der NBA - und doch dominant
Teil IV: Dwyane Wade - Der Fall aus dem Superstar-Olymp
Teil III: Das schlechteste Rebounding der NBA - und doch dominant
Bei allem Ungewöhnlichen, dass die Heat auszeichnet, eines können auch sie trotz überlegener Athletik nicht verhindern: Die Unterlegenheit am Brett - angesichts des unterdimensionierten Frontcourts auch wenig verwunderlich.
Mit 37,7 Rebounds in den Playoffs unterbietet Miami sogar den Schnitt aus der Regular Season von 38,6, was bereits der niedrigste Wert unter allen 30 NBA-Teams gewesen war. "Ein paar Grundgesetze des Basketballs sind offenbar nicht auszuhebeln. Unter anderem: Eine schnell spielende Mannschaft reboundet automatisch schlecht", sagt Bauermann.
Ein Grund dafür: "Um die Größennachteile zu kompensieren und aggressiv zu verteidigen, rotieren die Heat sehr viel. Das führt jedoch dazu, dass man keine festen Gegenspieler hat und so das Ausboxen am Brett erschwert wird. Je mehr man herumrennt und scrambelt, umso mehr sieht man am defensiven Rebound ein Mismatch."
Wobei Bauermann zu bedenken gibt: "Das Rebounding scheint ihnen nicht nachhaltig wehzutun. Vielmehr scheint es zur Strategie zu gehören. Sie haben sich genau überlegt: ‚Wir können ohnehin nicht alle Angriffe des Gegners stoppen, dann suchen wir uns gezielt aus, was wir stoppen wollen und was wir abgeben wollen.' Miami will das gegnerische Pick'N'Roll stoppen, aggressiv verteidigen und Ballverluste provozieren, weil das zu deren Spiel passt. Dafür nimmt man das schlechte Rebounding in Kauf, weil man gegen die großen Brett-Dominanten so oder so keine Chance hat. Insofern ist die Grundsatzentscheidung der Heat konsequent und folgerichtig."
Stellverstrend auch hier: die Entscheidung zugunsten von Andersen mitten in der Saison. "Für ihn hätte man einen, großrahmigen Center holen können. Aber nein, Miami besitzt eine ganz klar definierte Identität. Wenn man am Brett mit 5 verliert, ist es egal, weil man im Gegenzug so viele leichte Körbe bekommt und der Rest kompensiert wird. So ist die Philosophie, und die wird stringent durchgezogen."
Teil I: Wie die Heat-Defense mit Athen zusammenhängt
Teil II: Wie Miami die Zwergen-Taktik zelebriert
Teil III: Das schlechteste Rebounding der NBA - und doch dominant
Teil IV: Dwyane Wade - Der Fall aus dem Superstar-Olymp
Teil IV: Dwyane Wade - Der Fall aus dem Superstar-Olymp
Kein Go-to-Guy, kein klassischer Sidekick: Was ist Dwyane Wade genau? Der übliche Karriereverlauf eines alternden und verletzungsanfälligen Superstars sieht folgendes vor: Mit schwindender Athletik kehrt die Einsicht ein, dass man sich auf eine Spezialfähigkeit fokussiert. Der eine konzentriert sich aufs Verteidigen, der andere beschränkt sich auf den Dreierwurf oder das Passen.
Nur: Wade entzieht sich jeder Kategorisierung. Den chronisch schmerzenden Knien zum Trotz erinnert er in einzelnen Spielen an den alleskönnenden "Flash" aus dem ersten Meisterjahr 2006. Dann aber wirkt er wie eine schlechte Kopie seiner selbst, der sich weigert, Dreier zu nehmen. In den gesamten Playoffs warf er nur einmal (erfolglos) aus der Distanz. Für einen Shooting Guard fast schon absurd.
"Ich habe mit Deutschland bei der WM 2006 und den Olympischen Spielen 2008 gegen ihn gespielt. Ich saß fünf Meter weg von ihm und ich muss zugeben, dass ich mich dabei ertappt habe, dass mir vor lauter Athletik die Kinnlade runtergeklappt ist", sagt Bauermann. "Heute spielt er ein Niveau unter dem, was wir von ihm gewohnt sind. Er zahlt den Preis der vielen Verletzungen und der vielen Minuten, die er spielen musste."
Dennoch sei Wade weiter imponierend: "Wade hat es offenbar schon geahnt, daher war er ein solch großer Befürworter, dass James und Bosh kommen. Das zeigt seine Mentalität und seinen Willen, erfolgreich zu sein und alles dem unterzuordnen. Er versuchte nicht wie viele andere Superstars gegen Windmühlen zu kämpfen, sondern sagte zu sich: ‚Ich bin nicht mehr der Alte, ich brauche Hilfe.'"
Aber auch sportlich sei Wades Wert nicht zu unterschätzen: Zwar sank sein Punkteschnitt von 21,2 in der Regular Season auf 13,7 in den Playoffs, dennoch zeigt er sich mit 47,3 Prozent getroffenen Würfen weiter effizient. Die 52,1 Prozent in der Regular Season sind sogar Karriere-Bestwert, obwohl er es nach wie vor nicht verstand, den Dreier konstant zu treffen (25,8 Prozent). Hinzukommen rund 5 Rebounds und 5 Assists sowie hervorragende 2 Steals.
"Wade ist immer noch ein überdurchschnittlich guter Verteidiger, wenn er will. Und die Feldwurf-Quote zeigt die immense Spielintelligenz. Die normale Entwicklung eines Flügelspielers sieht vor, dass man sich einen guten Distanzwurf aneignet und zum Spot-Up-Shooter wird. Das scheint bei Wade nicht nachhaltig zu funktionieren. Daher bleibt er als Grundtypus ein auf Athletik basierender Spieler", sagt Bauermann.
Sein Fazit: "Bei aller körperlichen Anfälligkeit agiert er so clever und sieht so gut die Lücken, dass er mit seiner Art des Basketballs noch zwei, drei Jahre erfolgreich sein kann. Er ist immer noch in der Lage, ein Spiel ganz alleine zu entscheiden. Vielleicht zeigt er uns das in den Finals."
Teil I: Wie die Heat-Defense mit Athen zusammenhängt
Teil II: Wie Miami die Zwergen-Taktik zelebriert
Teil III: Das schlechteste Rebounding der NBA - und doch dominant
Teil IV: Dwyane Wade - Der Fall aus dem Superstar-Olymp