Jeder ist seines Glückes Schmied? Wo in den USA sonst das absolute Leistungsprinzip gilt, tritt im Sport plötzlich eine fast schon sozialistische Ader zum Vorschein. Sinnbildlich dafür steht der Draft, eine in Europa undenkbare Umverteilung. SPOX erklärt, welche tiefgreifenden Unterschiede in der Sportlandschaft den Draft erst möglich gemacht haben, weshalb er so wichtig ist - und warum er letzten Endes auch den Großen hilft.
spoxSportunterricht! Zwei oder mehrere Teamleader stehen am Mittelkreis und suchen sich mit kritischem Blick der Reihe nach ihre Mitspieler aus, irgendwann sitzt nur der kümmerliche, dickliche, asthmatische Rest verschüchtert am Ende der Bank. Stell Dir nun vor, dass Dein Teamleader nach der folgenden hohen Niederlage vor Dir steht und sagt: "Hey, mach Dir nichts draus, das hat auch sein Gutes. Gleich kommt die nächste Klasse rein - und dann dürfen wir uns als Erster einen neuen Mitspieler aussuchen. Weil Du so schlecht warst."
Willkommen beim NBA-Draft.
Faszinosum Draft. In den USA gehört die "Veranstaltung, bei der die Teams der Liga die Rechte an verfügbaren (Nachwuchs-)Spielern erwerben können" (Wikipedia) zum Alltag der großen Ligen NBA, NFL, MLB und NHL, mittlerweile auch der Major League Soccer. Wobei "Alltag" eigentlich das falsche Wort ist: Der Draft ist ein Event, ein Highlight.
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Jahr für Jahr sammeln sich die Fans vor dem Fernseher und fiebern mit, während die Verantwortlichen nach akribischer Vorbereitung die neuen Spieler für die eigene Franchise auswählen - ob Talent, Rollenspieler, Star oder Heilsbringer. Dieses Prinzip ist allen großen Ligen eigen, sie unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf den möglichen Effekt: Gerade im Basketball oder Football (der Quarterback) kann schon ein Neuzugang den Unterschied zwischen Tabellenkeller und Titelträumen ausmachen.
In Europa undenkbar
Ein LeBron James zu den Cleveland Cavaliers, ein Michael Jordan zu den Chicago Bulls, ein Larry Bird zu den Boston Celtics: Der Draft kann die Geschicke eines Teams über Jahrzehnte prägen. In Europa wäre ein solches System undenkbar. Ob nun Fußball, Basketball, oder was auch immer: Wer einem Spieler das beste Angebot macht (Perspektiven, Spielzeit, Scheckbuch), der nimmt ihn unter Vertrag. Und vielleicht nicht nur ihn, sondern gleich die besten drei, fünf oder zehn.
Der Grund für diese unterschiedlichen Systeme liegt nicht in einer spontanen Entscheidung im Hinterzimmer. Vielmehr ist er einer fundamental anders aufgebauten Sportlandschaft geschuldet. Und dieser Unterschied macht sich schon von klein auf bemerkbar.
Fehlende Vereinskultur
Die Keimzelle des europäischen (Nachwuchs-)Sports sind die Vereine. Talente durchlaufen von klein auf die Jugendmannschaften, wechseln womöglich zu größeren und prominenteren Klubs, und unterschreiben dann im besten Falle irgendwann einen Profivertrag.
Eine derartige Vereinskultur ist in den USA jedoch nicht vorhanden. Die Teilnahme an diversen Sportarten und dann auch Wettkämpfen ist vor allem über die Schulen gesteuert. Nicht Vereine, sondern Schulen organisieren sich in regionalen Verbänden, ebenso die Colleges und Universitäten. Das kulminiert in der National Collegiate Athletic Association (NCAA), einem Verband von über 1.200 Mitgliedern, der schon 1906 gegründet wurde.
Zu diesem College-Sport, aus dem sich historisch die großen vier Ligen speisten, gibt es in Europa kein Pendant. Ähnliche Nachwuchsrunden locken auf der anderen Seite des Atlantik keinen Hund hinterm Ofen hervor, doch zwischen Alaska und Florida ist der College-Sport mehr als Mainstream, oftmals beliebter als die Profis - und ein Milliardengeschäft, in dem die Spieler und Coaches zu Popstars werden und einzelne Universitäten sogar eigene TV-Networks etabliert haben.
Kein Verband, der die Liga führt
So weit, so gut. Das muss ja noch lange keinen Draft bedingen, in dem die schlechtesten Teams Anrecht auf die besten Spieler haben.
Doch diese fehlende Vereinskultur sorgte eben auch dafür, dass es keinen historisch gewachsenen Verband gibt, in dem diese Vereine organisiert sind - von der Bundesliga bis zur Kreisklasse. Wer in Deutschland einen Fußballklub gründet, gliedert sich in aller Regel in den DFB ein.
Als die großen, traditionsreichen Baseball-, Football- oder Basketballvereine aus der Taufe gehoben wurden, schlossen die sich jedoch nicht in Verbände, sondern in Ligen zusammen - teilweise wurden sogar erst die Ligen gegründet und danach Franchises, um diese zu füllen. Natürlich haben auch die USA einen Basketballverband. Aber "USA Basketball" ist eben für die Nationalmannschaften zuständig - und nicht wie der DFB auch noch für über 25.000 Amateurvereine.
Abstieg = Eurosnobbery
Hat sich eine solche Liga wie die NBA erst einmal gegründet und etabliert, unterscheiden sich die Interessen der Franchises und ihrer Eigner - mit den Green Bay Packers ist nur ein Team der großen Ligen im Besitz der Mitglieder/Fans - drastisch von denen des deutschen "SC 08/15".
Auf- oder Abstieg etwa? Undenkbar. Als Jürgen Klinsmann 2014 ein solches System für die MLS anregte, wurde ihm "Eurosnobbery" vorgeworfen. Im Besitz eines MLS- oder NBA-Teams zu sein, ist ein lohnendes Geschäft. Selbst wenn der Rubel nicht jährlich rollt: Der Wert der Franchise steigt garantiert.
Warum sollte man sich also einer potenziellen Degradierung in die D-League aussetzen? Auf einen Schlag wären Millionen an Einnahmen futsch - und auch die Fernsehanstalten wären nicht begeistert davon, sollten die Lakers oder die Knickerbockers plötzlich nicht mehr für Prime-Time-Partien zu haben sein.
Im Gegenteil: Sollte es der Markt hergeben, wird mit ausgewählten Besitzern sogar noch expandiert. Natürlich gegen Zahlung einer kräftigen "Expansion Fee". Das Konzept "Fressen oder gefressen werden", es wäre den Besitzern zutiefst zuwider.
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Die NBA-Franchises wissen gleichzeitig, dass sie als "ständiges Mitglied" das Wohl der gesamten Liga im Blick haben müssen. Denn leidet das Produkt, dann sinkt im Endeffekt auch irgendwann der Pegel in ihren Geldspeichern. Deshalb organisiert sie sich selbst unter einem Commissioner, der das NBA-Gesamtwohl im Blick haben muss.
Kein "Fressen oder gefressen werden" also. Damit fehlt dann konsequenterweise auch die Auslese, das frische Blut. In Europa herrscht reger Durchgangsverkehr in einzelnen Ligen. Doch wenn der Schwächste nicht gefressen wird, verwest er irgendwann im Hintergrund. Und auch in der NBA gibt es Starke und Schwache, dafür sorgen die Größe der Stadt und des TV-Markts, Steuervorteile oder der strahlende Glanz der Geschichte.
Ein vor sich hinkrebsende Franchise in einem unattraktiven Markt, die ihre Ausgaben für die Spieler mit Zuschauer- und TV-Einnahmen nicht wettmachen kann - oder sogar Pleite geht - ist also nicht im Sinne des amerikanischen Erfinders. Wo in Europa schon der nächste Klub mit den Hufen scharrt, gilt in den Staaten das Hagebaumarkt-Motto "Hier hilft man sich".
Vom Münzwurf zur Lottery
Um auch den Kleinen zu Prosperität zu verhelfen, werden TV-Einnahmen brüderlich geteilt, und auch bei den übrigen Einnahmen wird bis zu einer gewissen Grenze umverteilt. Soviel zum Finanziellen. Doch auch sportlich musste man sich unter die Arme greifen, damit jedes Team zumindest theoretisch gleiche Chancen auf den Titel hat. Neben der Salary Cap und anderen Erleichterungen, um die eigenen Stars zu halten, gehört dazu seit 1947 auch der Draft.
Der ging nach seinem Ursprung durch mehrere Phasen, war teilweise 21 Runden lang und wurde erst 1989 auf die derzeitigen zwei Auswahlrunden begrenzt. Dabei wurde seit 1966 auch per Münzwurf zwischen den schlechtesten Teams jeder Division entschieden, und ein besonderer "Territorial Pick" erlaubte es, unabhängig von der eigentlichen Position einen Spieler aus der Umgebung zu wählen.
Erst 1985 wurde dann die bis heute genutzte "Lottery" eingeführt, um den Top Pick zu entscheiden. Mehr Spannung, mehr Drama - und auch als Gegenmaßnahme gegen absichtlich verlorene Partien gedacht. Richtig: "Tanking"-Vorwürfe gab es auch schon vor 30 Jahren.
Die Verschwörungstheorien nahmen mit der "Lottery" dann erst so richtig Fahrt auf - vom zerbeulten Umschlag, der den Knicks Patrick Ewing brachte, über LeBron James zu den Cavaliers und Derrick Rose zu den Bulls, bis hin zum Top-Pick 2012, der in den Händen der Hornets landete. Die damals kurz vor dem Verkauf standen.
Hat der Draft Zukunft?
Darüber, wie der Draft denn genau ablaufen soll, gibt es keine zwei gleichen Meinungen. Die Lotterie ist jetzt, da sie von Teams wie den Sixers konsequent durchgespielt wird, umstrittener denn je und könnte in ihrer jetzigen Form durchaus vom Aussterben bedroht sein.
Die Altersgrenze (erst ab 19, High-School-Stars dürfen nicht mehr direkt gedraftet werden), die internationalen Spieler (Teams behalten langfristig die Rechte, müssen dafür aber oft Ablösen zahlen), die gestaffelten Gehälter, die Trade-Beschränkungen: All das hat sich in der Vergangenheit geändert, und wird sich auch in Zukunft wieder ändern.
Das Trade-Konzept an sich steht jedoch unerschütterlich - noch. Gerade im Zusammenhang mit "Tanking" fordern einzelne Kritiker, den Draft zu kassieren und durch ein neues Modell zu ersetzen, darunter auch Mark Cuban. Denn wie sollte man absichtliches Verlieren beenden, wenn dadurch - so oder so - potenzielle Superstars in Reichweite geraten?
Amerikanisch und doch sozialistisch
Aber selbst wenn diese Stimmen zunehmen: Es wird dauern. Denn kaum etwas liebt der sonst so kapitalistische Amerikaner - und vor allem der Teameigner, der durch diesen Kapitalismus reich geworden ist - mehr, als die Umverteilung in seinen großen Ligen. "Es hat etwas ironisches, dass die amerikanischen Sportarten so sozialistisch sind", meint ESPN-Analyst Nate Silver.
Doch schlussendlich hält neben den Superstars, den krachenden Dunks und den spektakulären Plays vor allem eines die Fans bei der Stange: Das Prinzip Hoffnung. Diese nährt genau einmal pro Jahr der Draft. Dass die Teambesitzer gegen Abstieg sind, dafür aber für Umverteilung und den Draft - geschenkt. Um es mit den Worten von Journalist Bryce Rudow zu sagen: Der Kapitalismus macht dich reich - aber der Sozialismus sorgt dann dafür, dass es so bleibt.
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