Irgendwie kam dem geneigten Zuschauer die Situation am Anfang von Spiel 2 ziemlich bekannt vor. Es war nicht das erste Mal, dass ein Team von LeBron James im TD Garden einer Drucksituation ausgesetzt war, es gab ja schon weitaus größere Spiele, wenn man etwa an Spiel 6 der 2012er Conference Finals zurückdenkt. Ganz so dramatisch war es nun natürlich noch nicht.
Und dennoch ... es lag in der Luft, dass James an diesem Abend ziemlich viel vorhatte. Spiel 1 war schließlich eins der schlechtesten seiner Playoff-Karriere gewesen und so etwas lässt der Mann ungern auf sich sitzen. Am Vormittag war James bereits über eine Stunde vor dem Start des Shootarounds in der Halle gewesen, um sich individuell einzuwerfen. Er war motiviert.
Entsprechend startete er dann auch in die Partie - auch wenn er ein paar Freiwürfe liegen ließ, gab es zunächst keinen schlechten Wurf für ihn. Im ersten Viertel traf James vier Dreier, darunter einen wilden Fadeaway mit Ablauf der Uhr von weit hinter der Linie. 21 Punkte hatte er nach zwölf Minuten schon auf dem Konto. Tatsächlich erinnerte das Ganze ein wenig an dieses legendäre Spiel vor ziemlich genau sechs Jahren. Aber nur auf den ersten Blick.
Die Celtics wehren LeBrons Ansturm ab
Wenn man etwas genauer hinsah, wurde nämlich ein gravierender Unterschied deutlich: Während damals mit jedem weiteren Jumper das Leben aus dem gegnerischen Team und aus der Halle wich und nach nicht allzu langer Zeit niemand mehr daran zweifelte, dass LeBrons Team (Miami) dieses Spiel gewinnen würde, war ein solches Aufstecken von den Celtics in dieser Partie nicht zu spüren.
Im Gegenteil - auch nach James' Ausbruch im ersten Viertel hatte Boston keinen Anlass, sich allzu große Sorgen zu machen. Ja, das neue Cavs-Lineup mit Tristan Thompson bereitete ihnen Schwierigkeiten, wie Brad Stevens später zugab, und ja, sie bekamen James nicht gestoppt. Trotzdem lagen sie nach zwölf Minuten lediglich mit 4 Punkten hinten.
"Wir haben einen guten Job gemacht, ihren ersten Ansturm abzuwehren", kommentierte Stevens nach dem Spiel gewohnt nüchtern. Er hätte dabei durchaus Anlass zur Euphorie gehabt - sein Team hatte im Anschluss einmal mehr genau die Tugenden demonstriert, die jeder Coach sehen will.
Boston: Ein Team im wahrsten Sinne des Wortes
Sie bewiesen Mut, sie spielten überwiegend saubere Offense und warfen sich in jeden Loose-Ball - und sie ließen sich nicht davon beirren, dass der beste Spieler der Welt auf dem Weg zu einem 42-Punkte-Triple Double gegen sie war. Sie verließen sich auf ihre Defense - und darauf, dass sie mit ihrer Tiefe auf Dauer am längeren Hebel sitzen würden, solange die Cavs offensiv nur aus einer beziehungsweise zwei (mit Kevin Love) Personen bestanden.
Wie schon in Spiel 1 zeigten sich im zweiten Aufeinandertreffen fundamentale Unterschiede zwischen beiden Teams. Die Cavs hatten in dieser Postseason nur einmal einen Topscorer, der nicht James hieß (Love mit 17 in Spiel 1), alles, was sie tun, wird von ihm diktiert - was nicht schlecht sein muss, nur um das klarzustellen. Die Celtics hingegen sind ein Team im wahrsten Sinne des Wortes.
Im ersten Viertel war Jaylen Brown mit 14 Punkten Topscorer, im zweiten war es Jayson Tatum (9), im dritten Terry Rozier (14), im letzten Durchgang Al Horford (8). Das verdeutlicht bereits recht gut ihre Vielseitigkeit. Zumal der spielprägende Spieler beim Sieg in Spiel 2 hier noch gar nicht auftaucht - das war Marcus Smart.
Die besten Scorer der Celtics in den Playoffs
Spieler | Punkte | FG% | 3P% | REB | AST |
Jayson Tatum | 18,1 | 46,1 | 32,1 | 4,5 | 3,1 |
Jaylen Brown | 17,8 | 49,5 | 42,3 | 5,2 | 1,5 |
Terry Rozier | 17,4 | 42,3 | 37,4 | 5,5 | 5,6 |
Al Horford | 17,1 | 57,6 | 36,4 | 8,4 | 3,6 |
Marcus Morris | 12,9 | 37,1 | 40,4 | 5,4 | 1,2 |
Marcus Smart | 10,5 | 34,0 | 22,2 | 4,0 | 5,0 |
Marcus Smart: Frustrierend und wichtig zugleich
"Die Leute reden immer viel über ihn. Aber oft konzentrieren sie sich dabei auf Dinge, die keine Rolle spielen", sagte Stevens vielsagend. "Gewinnen ist wichtig. Wir sind sehr froh, dass wir ihn auf unserer Seite haben."
Es ist dabei durchaus verständlich, dass sich bei Smart auf unterschiedliche Facetten konzentriert wird. Sein Spiel ist nahezu unmöglich zu quantifizieren - er ist ein historisch schlechter Shooter, der an manchen Tagen nicht daneben werfen kann. Er trifft teilweise völlig verrückte Entscheidungen, um dann perfekte 9 Assists ohne Turnover zu spielen. Er kann unheimlich frustrieren und trotzdem ist sein Team fast immer besser dran, wenn der bullige Guard auf dem Court steht.
Ein Beispiel gefällig? In Spiel 5 gegen Philly hatte Smart an der Freiwurflinie die Chance, das Spiel nach Hause zu bringen. Der erste Freiwurf geht daneben. Den zweiten will er absichtlich daneben werfen, damit die Uhr im Rebound-Getümmel abläuft, aber nun geht der Ball versehentlich rein. Die Sixers haben also noch eine Chance und spielen den Einwurf übers ganze Feld, wo er dann - natürlich - von Smart persönlich abgefangen wird. Game over.
LeBron James lobt Marcus Smart
Wie soll man einen solchen Spieler beschreiben? "Marcus Smart macht immer zur richtigen Zeit die entscheidenden Plays", versuchte es LeBron James. Das mag abgedroschen klingen, trifft den Nagel allerdings mehr oder weniger auf den Kopf. Klischees beschreiben Smart häufig am besten. Spiel 2 war ein weiteres Paradebeispiel dafür.
Smart glänzte einerseits als Playmaker von der Bank, andererseits biss er sich wie gewohnt in jedes defensive Matchup, das ihm auferlegt wurde - ob im Post gegen Love (kein Mismatch!), auf dem Flügel gegen James oder auch gegen Kyle Korver, den er gewissenhaft um Blöcke jagte und nach den ersten Minuten des zweiten Viertels überhaupt nicht mehr atmen ließ.
Dazu verzeichnete er etliche Deflections, fing mehrere Pässe ab und hatte großen Anteil daran, dass die Celtics in Halbzeit zwei das bessere Rebounding-Team waren. Natürlich waren auch ein paar eher dämliche Würfe dabei - diese gehören bei ihm einfach dazu -, aber damit konnte Stevens sicherlich leben. Sein Gegenüber jedenfalls beneidete ihn um den Vorzeige-Hustler.
Tyronn Lue sucht Toughness bei den Cavaliers
"Wenn es um 50/50-Balls geht, dann holt er sie. Wenn es ein Loose-Ball ist oder ein Offensiv-Rebound, den er haben muss, dann kriegt er ihn", sagte Tyronn Lue über Smart. "Wir müssen jemanden finden, der seiner Toughness gewachsen ist." Die Wahrscheinlichkeit dafür dürfte eher gering sein.
Cleveland hat in dieser Serie in James den besten Spieler, das war vorher klar und das hat Spiel 2 auch wieder gezeigt - Spiel 1 war ein Ausrutscher. Aber aktuell gibt es sonst nicht so viel, was für ein Comeback der Cavaliers spricht. Sie sind nicht tiefer, es ist im Gegenteil völlig unklar, welche Rollenspieler in einem jeweiligen Spiel "brauchbar" sind und welche nicht. J.R. Smith etwa ist nach dem Zwischenhoch gegen die Raptors wieder "unter" dem Boden der Tatsachen angekommen.
Sie sind auch nicht besser gecoacht - Love plädierte sogar dafür, dass sich sein Team vor Spiel 3 vom Gegner inspirieren lassen sollte: "Wir können viel von den Celtics übernehmen. Sie hören nie auf, sie sind immer in Bewegung, sie cutten. Alle ihre Starter haben zweistellig gepunktet." Dies sind Sätze, die über die Cavaliers in dieser Saison noch niemand gesagt hat. Mehrere Cavs-Spieler betonten zudem, wie toll die Celtics gecoacht seien.
Smart über die Celtics: "Haufen Jungs, denen es egal ist"
Zu guter Letzt sind sie aber auch einfach nicht das Team, das den absoluten Siegeswillen ausstrahlt und die Bereitschaft, an die Grenzen und darüber hinaus zu gehen. Die Celtics sind das in jeder Hinsicht aktivere Team - in der Defense sowieso, aber auch offensiv sorgen sie mit ihrer ständigen Bewegung dafür, dass sich LeBron nicht während des Spiels ausruhen kann wie in der Serie gegen die Raptors.
Wo Toronto noch ängstlich auftrat, attackieren die Celtics James in der Defense sogar gezielt. "Wir haben einen Haufen Jungs, denen es einfach egal ist", erklärte Smart nach Spiel 1 selbst. "Wir haben unser ganzes Leben lang gegen größere Gegner kämpfen müssen. Wir haben hier auch Talent. Und wir haben keine Angst."
Niemand verkörpert das mehr als Marcus Smart selbst. Er ist nicht der beste und auch nicht der wichtigste Spieler seines Teams. Aber sollte Boston es tatsächlich schaffen, diese Serie zu gewinnen, dann hat das viel damit zu tun, dass die Celtics seine Persönlichkeit angenommen haben.