Die Saga Markelle Fultz bei den Philadelphia 76ers nimmt immer obskurere Züge an. Der Berater des ehemaligen No.1-Picks ließ zuletzt verlauten, dass Fultz mit dem Thoracic-outlet-Syndrom diagnostiziert wurde. Was ist das überhaupt und was bedeutet dies nun für den Sixers-Guard? SPOX hat bei einem Schulter-Spezialisten nachgehakt und die wichtigsten Fragen beantwortet.
Was ist das Thoracic-oulet-Syndrom?
"Bei Markelle wurde das Thoracic-outlet-Syndrome diagnostiziert", ließ Fultz' Agent Raymond Brothers via Adrian Wojnarowski (ESPN) vor einigen Tagen verlauten und beendete so (vorerst) das Rätselraten um die Schulter seines Schützlings. "Es beeinträchtigt die Nerven zwischen Nacken und Schulter, was zu einem gestörten Bewegungsablauf führt und daher Markelles Fähigkeit, einen Basketball zu werfen, massiv limitiert", führte der Berater weiter aus.
Schon seit über einem Jahr soll Fultz über Schmerzen in der Schulter geklagt haben, die Teamärzte der Philadelphia 76ers konnten den Anlass dafür indes nicht erkennen. Erst nachdem Brothers seinen Klienten quer durch das Land zu verschiedenen Chirurgen (bis zu 10!) schickte, wurde das Thoracic-outlet-Syndrom festgestellt.
Eine Diagnose, die es immer mal wieder im Baseball gab, in der NBA bisher aber kaum. Zuletzt wurde diese Verletzung bei Nets-Guard Ben Uzoh vor einigen Jahren festgestellt. Dieser klagte nicht nur über Schmerzen in der Schulter, sondern auch über Taubheit in seinen Daumen.
Laut dem Chefarzt der Sportorthopädie im Klinikums Rechts der Isar in München, Prof. Dr. Andreas B. Imhoff, der als einer der besten Schulter-Spezialisten in Deutschland gilt, dürfte die Verletzung allerdings häufiger als bisher diagnostiziert auftreten. "Bei überkopfwerfenden Sportlern und Athleten ist dies nicht so selten", sagte Professor Imhoff gegenüber SPOX.
"Das Thoracic-outlet-Syndrom bedeutet einen Engpass der Gefäße, wenn der Arm über die Horizontale gehoben wird. Es kommt dann zu einer Minderdurchblutung, manchmal auch mit Gefühlsstörungen", erklärte Imhoff weiter. Allerdings gab er auch zu bedenken, dass das Ausmaß der Einengung variieren könne.
War falsches Training von Fultz der Grund für die Verletzung?
Doch wie kam es nun zu dieser Verletzung? War falsches Training der Grund für die Einengung der Gefäße? Fakt ist, dass Fultz' Wurfform seit dem Beginn seiner Rookie-Saison völlig abhanden gekommen ist. Von einem sauberen Release ist der ehemalige No.1-Pick im Moment so weit entfernt wie die Cleveland Cavaliers von den Playoffs, was sogar Berufsoptimist Tristan Thompson zuletzt einsehen musste.
Shams Charania von The Athletic deutete vor einigen Wochen an, dass Fultz seinen Release für die NBA 2017 anpassen wollte, damit er weniger Energie für den weiter entfernten NBA-Dreier für seinen Wurf aufwenden müsste. Natürlich gab es auch noch ganz andere Theorien.
"All die Leute, die gesagt haben, dass Markelle ein mentales Problem hat, haben hier den Beweis - es nicht der Fall", so Brothers. "Es ist nicht möglich, dass du der No.1-Pick bist und plötzlich nicht mehr in der Lage bist, deinen Arm zum Wurf zu heben. Etwas stimmte physisch nicht und nun kennen wir die Ursache für das Problem."
Was das TOS hervorgerufen hat, konnte der Agent aber auch nicht erklären. Spekulationen, dass falsches Training den Ausschlag gab, sind nach Meinung von Professor Imhoff aber fehl am Platz: "Falsches Training ist keine Ursache für das Thoracic-outlet-Syndrom", ist sich der Spezialist sicher. "Es ist eine anatomische Einengung des Gefäßnervenstranges mit Einklemmen zwischen den oberen Rippen und dem Schlüsselbein."
Dass Fultz' Wurf so verändert daherkommt, ist also wahrscheinlich keine Folge des TOS. Wir erinnern uns an die Summer League 2017, damals sah der Wurf von Fultz noch völlig normal aus, bevor er wegen einer Knöchelverletzung vorzeitig aus dem Spielbetrieb genommen wurde. Seither ist die Bewegung eine andere, ob es an den Anweisungen von seinem ehemaligen Shooting Coach Drew Hanlen lag oder an anderen Ursachen, ist unklar.
Es ist müßig zu spekulieren, woher Fultz' Probleme kommen und ob er überhaupt wirklich physisch verletzt ist, was einige Beobachter durchaus in Frage stellen. Es ist von außen schlichtweg nicht zu bewerten und die Informationslage zum Thema ist seit mehr als einem Jahr undurchsichtig.
Die Sixers schweigen sich weiter zu der Thematik aus, lediglich Coach Brett Brown gab einen knappen Kommentar ab. "Es ist schade, dass er gerade nicht hier ist. Wir vermissen ihn." Mehr war von Philly nicht zu erfahren.
Wie lange wird Markelle Fultz nun ausfallen?
Offiziell wurden bislang keine Aussagen von Brothers oder Philly über die Ausfalldauer von Fultz kommuniziert. Zunächst einmal haben sich die Sixers trotz Nachfrage zahlreicher Medien weiter nicht zu den Ergebnissen der Besuche bei Ärzten von Fultz geäußert, obwohl angeblich Mitglieder des medizinischen Stabs der Franchise bei den Untersuchungen anwesend waren.
Woj berichtete am Dienstag, dass Fultz wohl drei bis sechs Wochen fehlen und seine Reha inklusive Physiotherapie in Los Angeles absolvieren wird. Von einer Operation war zunächst nicht die Rede. Diese würde erst durchgeführt werden, wenn die Physiotherapie nicht wie von den Sixers erhofft anschlägt. Dann würde sich die Ausfallzeit von Fultz natürlich deutlich verlängern.
"Falls solche Operationen durchgeführt werden, sei es als Erweiterungsoperation oder Teilentfernung einer Rippe, meistens der ersten Rippe, ist kaum eine rasche Rückkehr zum Sport auf dem gleichen Niveau zu erwarten", erklärte Professor Imhoff. "Realistisch wären dann eher drei Monate, wobei nach vier bis sechs Wochen wieder mit dem Training begonnen werden kann."
Konkret ist mit einer Rückkehr von Fultz vor März nicht zu rechnen. Ob der Guard also überhaupt eine Rolle in den Überlegungen für die Playoffs spielen wird, darf bezweifelt werden. Schon im vergangenen Jahr kehrte Fultz erst im März wieder auf das Feld zurück, seine Rolle in der Postseason wurde dann von Spiel zu Spiel kleiner, bevor der damalige Top-Pick in der Serie mit den Boston Celtics ausschließlich DNP - Coach's decision kassierte.
Sollte Fultz sogar wirklich unters Messer müssen, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Guard in dieser Spielzeit kein Spiel mehr für die Philadelphia 76ers absolvieren wird.
Was bedeutet die Verletzung für die weitere Karriere von Fultz?
Das ist kaum zu beantworten, weil es eben kaum Vergleichsfälle gibt, vor allem im Basketball. In der MLB waren es speziell Pitcher, die eine ähnliche Diagnose wie Fultz gestellt bekamen. Es traf unter anderem All-Stars wie Chris Carpenter, Josh Beckett oder Matt Harrison, aber keiner konnte nach der TOS-Verletzung je wieder das alte Leistungsniveau erreichen.
Dabei gilt aber auch zu beachten, dass die genannten Spieler bereits deutlich älter waren als Fultz und sich im Herbst ihrer Karriere befanden. Eine positive Ausnahme und damit Hoffnung für die Sixers und Fultz könnte Mike Foltynewicz sein. Der Pitcher der Atlanta Braves bekam mit 23 Jahren die TOS-Diagnose, wurde operiert und 2018 rund drei Jahre später erstmals zum All-Star gewählt. Zuvor musste Foltynewicz allerdings acht Monate pausieren.
Eine Garantie, dass auch Fultz eine solche Genesung erlebt, gibt es natürlich nicht. Dennoch ist der Vergleich zum Baseball leicht schief, da Pitcher die Schulter viel extremer belasten als ein Basketballer, der im Idealfall den Spalding nicht so ruckartig fliegen lässt, auch wenn es gerade bei Fultz' Freiwürfen so schien.
Die Bewegung bei einem Wurf im Basketball ist viel natürlicher als im Baseball, wenn ein kleiner Ball mit aller Gewalt in Richtung des schlagenden Spielers geschleudert wird.Die Schulter dürfte also reparabel sein. Wie es aber um das Nervenkostüm des 20-Jährigen dann bestellt sein wird, dürfte einige Fragezeichen aufwerfen.
Wie schon über seine gesamte kurze NBA-Karriere werden Medien und Fans mit Argusaugen auf den Wurf von Fultz schauen, jeder Airball, jeder vergebene Freiwurf dürfte innerhalb von Minuten in die weite Welt der sozialen Medien herausgetragen werden. Egal, wie sich Fultz von dieser Verletzung erholen wird, nur durch gute Leistungen wird der Guard dieses Thema verdrängen können.
Was bedeutet die TOS-Verletzung für einen möglichen Trade?
Fakt ist, dass Fultz lange ausfallen wird und auch zur Trade-Deadline mit großer Sicherheit nicht wieder Basketball spielen wird. Das ist für Philly aus sportlicher Sicht mit der sehr dünnen Bank ziemlich suboptimal, dazu wird es damit noch schwerer, Fultz zu traden, wenn die Organisation ihren einstigen Hoffnungsträger tatsächlich bereits in der zweiten Saison aufgibt.
Mögliche Trade-Kandidaten wären somit eigentlich nur sichere Lottery Teams, die den Kampf um die Playoffs bereits vorzeitig aufgegeben haben und es sich leisten können, ein solches Risiko zu einzugehen. Im Westen bleibt damit eigentlich nur Phoenix übrig, während sich der Kandidatenkreis in der Eastern Conference wohl auf Brooklyn, Cleveland, Chicago, Orlando und Atlanta beschränken dürfte.
Fraglich ist Stand jetzt allerdings, wie ein Trade überhaupt aussehen könnte. Schon vor der TOS-Diagnose herrschte angeblich große Uneinigkeit über den Wert des Sixers-Guards, der als ehemaliger Top-Pick nicht wirklich billig daherkommt. In der kommenden Saison würde Fultz knapp 9,5 Millionen Dollar einstreichen, im Jahr darauf hätte das Team eine Option in Höhe von happigen 12,3 Millionen.
Auch wenn der Salary Cap in den kommenden Jahren ansteigen wird und viele Teams einige faule Verträge von 2016 aus den Büchern streichen können, ist dieser Deal kein Pappenstiel, erst recht nicht, wenn man die derzeitige Sachlage bedenkt. Keiner weiß ganz genau, was bei Fultz eigentlich Sache ist. Solange interessierte Teams also nicht genügend Informationen über den Mystery Man gesammelt haben, wird sich niemand die Finger verbrennen wollen.
So erscheint es nicht einmal absurd, wenn die Sixers sogar ein Asset für Fultz abgeben müssten. Dies käme dann aber mit einem Geständnis einer Niederlage gleich, was Philly wohl gerne vermeiden würde. Vielleicht gibt es aber auch Teams, die weiter an Fultz glauben. Als Beispiel aus der Vergangenheit kann hier Darko Milicic genannt werden, der als No.2-Pick bekanntlich nie den Durchbruch in der NBA schaffte. Detroit wird noch heute wegen diesem Pick belächelt, bekam aber von den Orlando Magic immerhin noch einen Erstrundenpick im Gegenzug.
Ergo: In der Causa Markelle Fultz ist alles möglich - in beide Richtungen.