Die Philadelphia 76ers sind mit einem der verrücktesten Gamewinner der Playoff-Geschichte gegen die Toronto Raptors aus der Postseason geflogen. Wie geht es nun weiter in Philly? SPOX beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was ist passiert?
Einer der dramatischsten Gamewinner in der Geschichte der Playoffs war nötig, um die Serie zwischen Philly und den Raptors endgültig zu beenden. Zuvor war das Pendel nicht nur in Game 7, sondern über die gesamte Serie immer wieder hin- und hergeschwungen. Der Wurf von Kawhi Leonard war somit ein passendes Ende, nachdem die Klaue die Serie wie kein anderer Spieler dominierte.
Die Sixers hatten dabei nach Spiel 1, einem Blowout der Raptors, die richtigen Antworten gefunden und sich selbst mit 2-1 in Führung gebracht, es danach jedoch nicht geschafft, den Sack zuzumachen. Nicht zuletzt hatte das mit den Leistungen von Joel Embiid zu tun: Spiel 3 hatte der Center mit 33 Punkten komplett dominiert, danach aber nur jeweils 11, 13, 17 und 21 Punkte erzielt.
Teilweise konnten die Sixers das auffangen, zumal Embiid gerade angesichts seiner starken Defense in fast jedem Spiel ein positives Plus/Minus hatte, doch in Spiel 7 gab es keine Antwort mehr auf den unglaublichen Leonard (34,7 Punkte und 9,9 Rebounds über die gesamte Serie!). Embiid spielte dabei fast durch und scheiterte am Ende wie sein gesamtes Team daran, die Raptors vom offensiven Brett fernzuhalten - einer der Schlüssel des Spiels.
Raptors vs. Sixers: Die Serie im Überblick
Tag | Datum | Spiel | Heim | Auswärts | Ergebnis |
Sonntag | 28. April | 1 | Toronto | Philadelphia | 108:95 |
Dienstag | 30. April | 2 | Toronto | Philadelphia | 89:94 |
Freitag | 3. Mai | 3 | Philadelphia | Toronto | 116:95 |
Sonntag | 5. Mai | 4 | Philadelphia | Toronto | 96:101 |
Mittwoch | 8. Mai | 5 | Toronto | Philadelphia | 125:89 |
Freitag | 10. Mai | 6 | Philadelphia | Toronto | 112:101 |
Montag | 13. Mai | 7 | Toronto | Philadelphia | 92:90 |
Joel Embiid: "Der 'Process' ist mir egal"
Wie nah die Sixers der nächsten Runde dabei gekommen waren, sah man insofern vor allem Embiid an, der unmittelbar nach dem Gamewinner auf dem Court weinte - und von Marc Gasol in einer sehr fairen Geste getröstet wurde. Auf die spätere Frage, was diese Niederlage für den "Process" bedeutete, entgegnete der Center: "Der 'Process' ist mir völlig egal."
Medial ging derweil schon während der Serie das Gerücht um, dass Head Coach Brett Brown seinen Job verlieren dürfte, sollte Philly nicht mindestens diese Serie gewinnen. Diesem Gerücht wurde in der Nacht auf Dienstag aber ein Riegel vorgeschoben: Zumindest die kommende Saison soll Brown es noch einmal versuchen dürfen. Dass die Uhr jedoch tickt, scheint spätestens jetzt offensichtlich.
Wie ist die Saison der 76ers zu bewerten?
Genau wie im letzten Jahr war für die Sixers in Runde zwei der Eastern Conference Endstation, diesmal war die Situation allerdings etwas anders - im vergangenen Jahr gab es erstmals seit Jahren überhaupt eine Playoff-Teilnahme und weitaus weniger Erwartungen, in dieser Saison hingegen ging das Team mit gleich mehreren Blockbuster-Trades All-In und sah sich als Contender.
Die Trades für Jimmy Butler und Tobias Harris wirbelten den Kader durcheinander, weshalb es zu verschmerzen war, dass Philly nur 51 Siege und damit einen weniger als in der Vorsaison holen konnte - die neue Starting Five konnte vor dem Start der Playoffs lediglich zehn gemeinsame Spiele absolvieren. Die Upside in den Playoffs wurde durch die Moves trotzdem ohne Frage gesteigert und darum ging es.
Teilweise sah man dies auch durchaus. Das Net-Rating der Starting Five war auch in den Playoffs brachial gut: In 173 gemeinsamen Minuten schossen Embiid, Butler, Harris, Ben Simmons und J.J. Redick gegnerische Teams mit +24,9 ab, kein Heavy-Minutes-Lineup war in dieser Postseason besser. Man sah die Logik dahinter, diese vier langen, vielseitigen und physischen Spieler zusammenzubringen, vor allem in Spielen wie Game 3 gegen die Raptors.
Die Sixers sind nach wie vor von Joel Embiid abhängig
Trotzdem zeigte gerade diese Serie aber auch wieder: Die Sixers sind bei aller vermeintlichen Starpower sehr abhängig von Embiid, ohne dominante Vorstellungen des Kameruners sind sie zwar immer noch gut, aber kein überragendes Team, und tief sind sie erst recht nicht. Allein in den Playoffs reihten sich bei Embiid mindestens drei Leiden aneinander (Magen-Darm, Knie, Atemwegserkrankung), gegen Toronto blieb Game 3 seine einzige überragende Vorstellung.
Man kann hier schlechtes Timing monieren, man kann sich auch fragen, ob die Sixers Embiid in der Regular Season mehr hätten schonen müssen, um zumindest das Knie und den Rücken zu entlasten (gegen Magen-Darm hilft freilich kein Load Management). Dass Verletzungsanfälligkeit bei ihm ein Thema ist, war ja nicht erst seit dieser Postseason bekannt.
Gerade deshalb ist festzuhalten: Die Saison war unterm Strich eine Enttäuschung. Philly ist ein hohes Risiko gegangen, de facto aber keinen Schritt weitergekommen, auch wenn das nicht primär an den Transaktionen lag. Es wurden viele Assets und Tiefe geopfert, ohne dass sich dies in zusätzlichen Playoff-Erfolg umgesetzt hätte.
Hinzu kommt, dass gleich drei Fünftel der Starting Five das Team im Sommer theoretisch wieder verlassen könnten.
Was passiert in der Offseason?
General Manager Elton Brand hat viel Arbeit vor sich, so viel ist sicher. Gleich sieben Unrestricted Free Agents stehen im Kader, dazu können Butler (19,8 Mio.) und James Ennis (1,8 Mio.) aus ihren Verträgen aussteigen, womit in beiden Fällen mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Bisher stehen nur fünf Spieler für die kommende Saison fix unter Vertrag!
Einige der Free Agents sind dabei sicherlich zu vernachlässigen, gerade Butler, Harris und Redick waren aber natürlich elementare Teile der Sixers in diesem Jahr. Für Butler und Harris gaben die Sixers zudem viel ab, weshalb man sie eigentlich unter keinen Umständen ohne Gegenwert ziehen lassen sollte.
Abgesehen von den Free Agents gibt es aber auch noch andere durchaus wichtige Faktoren, die die Offseason prägen werden. Zuallererst die Lottery, die in der Nacht auf den 15. Mai stattfinden wird - die Sixers haben dabei eine winzige Chance auf den Nr.1-Pick, der natürlich alles durcheinanderbringen würde.
Warum die 76ers eine winzige Chance auf Zion Williamson haben
Es ist ein wenig kompliziert: Die Sixers erhalten den Pick der Kings, allerdings nur, sollte dieser der First Pick werden. Die Chance dafür beträgt 1 Prozent. Landet der Pick hingegen zwischen 2 und 14, müssen die Sixers den Pick an die Celtics weitergeben (aufgrund des Jayson Tatum/Markelle Fultz-Trades) und bekommen lediglich den eigenen Nr.24-Pick. Die Fallhöhe ist also, nun ja, tief.
Dazu kommt dann auch noch das Thema Simmons: Der Australier kann ab Juli erstmals mit den Sixers über eine Vertragsverlängerung verhandeln, auch wenn sein Rookie-Deal danach noch ein Jahr läuft. Brand hatte in der Vergangenheit bereits ziemlich deutlich gesagt, dass Simmons genau wie Embiid vor ihm auch einen Maximalvertrag bekommen wird.
Angesichts der zahlreichen anderen Free Agents ist es jedoch unklar, ob es hier schon zu einer Einigung kommt - oder ob die Sixers mit Simmons mittlerweile vielleicht doch anderes im Sinn haben (siehe Frage 5).
Können die Sixers all ihre Free Agents bezahlen?
Nur Simmons, Embiid, Zhaire Smith, Jonathon Simmons und Jonah Bolden stehen Stand jetzt fix für die kommende Saison unter Vertrag, die Sixers haben also viel Spielraum (laut aktuellen Kalkulationen theoretisch rund 63 Mio. Dollar), dafür müssten sie aber die Rechte an all ihren Free Agents verstreichen lassen.
Das wird nicht passieren. Mindestens Butler, Harris und Redick will man in Philly halten, auch wenn das sehr teuer werden kann. Restriktionen liegen immerhin kaum vor: Bei Butler und Harris verfügt Philly über die vollen Bird-Rights, den beiden Forwards könnte man also theoretisch volle Max-Verträge anbieten, ohne dabei auf den Cap zu achten. Bei Redick ist die Situation nur geringfügig komplizierter.
Da der Scharfschütze vor zwei Jahren nicht per Trade, sondern als Free Agent zu den Sixers kam, haben die Sixers bei ihm "nur" Early Bird Rights, die folgendes bedeuten: Man kann ihm ohne Rücksicht auf etwaigen Cap Space entweder 105 Prozent des Liga-Durchschnittsgehalts im Vorjahr oder 175 Prozent des eigenen Vorjahresgehalts anbieten, welche Summer auch immer größer ist.
gettyPhiladelphia 76ers: Jimmy Butler hat wohl Priorität
Bei Redick ist letzteres der Fall: Redick verdiente 12,3 Mio. Dollar, die nun theoretisch mögliche Summe betrüge also 21,4 Mio. Die Möglichkeiten sind bei den wichtigsten Free Agents also da, interessanter ist am Ende aber vielleicht die Frage, bei welchen Spielern Philly welche Schmerzgrenzen hat.
Nach den Trades hatten die Sixers mehrfach betont, dass sie den gesamten Kern zusammenhalten wollen, koste es, was es wolle. Angesichts der letztlich enttäuschenden Resultate muss dies nun aber erneut hinterfragt werden. Harris spielte keine beeindruckenden Playoffs. Butler zeigte deutlich mehr, beim 29-Jährigen ist nach Jahren der Tom-Thibodeau-Minuten eher die Frage, wie lange er seine Qualität noch beibehält. Dass er einen Max-Vertrag über fünf Jahre bekommt, erscheint zumindest fraglich.
Gleichzeitig wird man weder Butler noch Harris ohne Gegenwert verlieren wollen und kann es sich daher wohl nicht erlauben, sie mit zu niedrigen Angeboten zu verärgern - beide werden auch andere Anfragen haben. Die entscheidende Frage für das Front Office lautet am Ende: Glaubt man noch immer an das (Championship-)Potenzial dieser Fünf und daran, dass mehr gemeinsame Zeit zu besseren Resultaten führt, oder sieht man grundsätzlichen Bedarf für Veränderungen?
Passen Joel Embiid und Ben Simmons zusammen?
Die Kernfrage für die Sixers und ihre mittelfristige Zukunft bezieht sich trotz allen anderen Moves immer noch auf die beiden jungen Stars in ihrer Mitte. Der Fit zwischen Embiid und Simmons ist nach wie vor nicht perfekt: Schon während der Saison wurden Stimmen laut, man solle den Australier traden, nach dem erneuten Aus dürften diese nun vermutlich wieder lauter werden.
Wie schon in der vergangenen Saison stieß Simmons in den Playoffs auf Probleme, da er offensiv einfach limitiert daherkommt - im Halbfeld ist er "Durchschnitt", um Jared Dudley zu zitieren. In einigen wenigen Spielen trat er trotzdem aggressiv und als Scorer auf, in vielen anderen nahm er indes vor allem Embiid Platz weg und half der Offense überhaupt nicht.
Die Rolle des Point Guards übernahm gegen Toronto mehr und mehr Butler, Simmons sollte sich primär auf die Defense gegen Leonard konzentrieren. Gegen die Raptors kam der Australier nur noch auf 11,6 Punkte pro Spiel und fand nicht in allen Spielen Wege, seinem Team in der Offense anderweitig weiterzuhelfen.
Ben Simmons: Der Backup-Center von Joel Embiid!
Trotzdem ist es weiterhin zu früh, um Simmons abzuschreiben - es sei denn, man könnte für ihn beispielsweise Anthony Davis oder ein vergleichbares Kaliber bekommen. Sein Potenzial ist noch immer riesig und es gibt einige Faktoren, die das Zusammenspiel schon in der kommenden Saison deutlich verbessern könnten.
Zum einen: Man spricht (zurecht) immer wieder über Simmons' Wurf und natürlich muss er hier unbedingt nachlegen, um wenigstens aus der Mitteldistanz ein wenig Gefahr auszustrahlen. Hier ist er gefragt, kommende Saison muss es besser gehen. Selbiges gilt allerdings auch für Embiid: Wenn der Kameruner seine Dreierquote von 30 auf 35 Prozent heben kann (nicht unwahrscheinlich), würde das gleichzeitig viel mehr Räume für Simmons bedeuten, um seinen Speed auszuspielen.
Dazu könnte Brown die Frage nach einem Embiid-Backup in-house suchen, statt die Bobans dieser Welt auszuprobieren: Simmons hat absolut die Anlagen dazu, ein Small-Ball-Fünfer zu sein! Sitzt Embiid auf der Bank, könnte man Simmons durchaus mal in einer Giannis-ähnlichen Rolle umgeben von Shootern wüten lassen. Vielleicht ist das auf Dauer ohnehin sein bestmögliches Szenario.
Es ist durchaus möglich, dass Simmons und Embiid kein ideales Duo werden, aber es wäre bei der kurzen Zeit und den ganzen Transaktionen einfach zu früh, schon jetzt diesen Schluss zu ziehen. Nicht nur die beiden Stars, sondern der gesamte Kader kann mehr Shooting vertragen - das würde auch ihr Zusammenspiel erleichtern.