Fred VanVleet konnte schon wieder lachen. Oder besser: Er konnte grinsen. Kurz nach dem Spiel veröffentlichte der Backup-Guard der Raptors ein Instagram ein Selfie mit seiner frisch "gewonnenen" Zahnlücke, mit dem Kommentar, er müsse sich seinen "Shit" so schnell wie möglich fixen lassen.
Etwas angesäuert reagierte VanVleet nur, als ihm The Athletic-Reporter Michael Lee ein Bild seines verlorenen Zahns zeigte, der ihn offenbar nicht mehr erreicht hatte. "Den hätte ich noch brauchen können", kommentierte VanVleet, dem der Verlust eines Zahns offenbar doch etwas zu "klischeehaft kanadisch" vorkam. Er dürfte trotzdem damit leben können.
Nur etwa eine Stunde zuvor hatte die Situation schließlich ganz anders ausgesehen. Nachdem er von Shaun Livingston versehentlich ausgeknockt wurde, blieb VanVleet liegen und blutete, es schien nahezuliegen, dass er mindestens eine milde Gehirnerschütterung davontragen würde. Der Test fiel aber negativ aus, die Wunde wurde genäht und noch während des vierten Viertels kehrte VanVleet zurück auf die Bank, bereit, den Auftrag zu Ende zu bringen.
Das hatten seine Team-Kollegen in der Zwischenzeit aber ohnehin schon erledigt.
Toronto Raptors: Ein miserabler Start in Spiel 4
Die Raptors erlebten in Spiel 4 eine ganz andere Partie als noch zwei Tage zuvor. In der Nacht auf Donnerstag stellte man noch einen Auswärtsrekord für getroffene Dreier in den Finals ein, legte erst zum dritten Mal in der Finals-Geschichte ein Spiel mit Quoten über 50 Prozent aus dem Feld, 40 Prozent von der Dreierlinie und 90 Prozent von der Freiwurflinie auf. Von solcher Effizienz war in Spiel 4 dann nichts zu sehen, die Freiwürfe (23/24) ausgenommen.
Die Offense kam in der ersten Halbzeit nur sehr bruchstückhaft zustande. Die Warriors begannen mit viel Energie, angestachelt auch durch die Rückkehr von Klay Thompson und Kevon Looney, und verhinderten so einen locker-leichten Start der Raptors wie noch im vorigen Spiel, das mit 36 Punkten im ersten Viertel eröffnet wurde.
Diesmal erzielte Kawhi Leonard 14 von lediglich 17 Raptors-Punkten im ersten Viertel. Nur ein Korb der Gäste wurde nicht von ihm erzielt. Bevor Serge Ibaka im zweiten Viertel in Fahrt kam, schienen die Gäste von der Warriors-Verteidigung ein Stück weit erdrückt zu werden. Zwar kamen am Ende von Ballbesitzen oft gute Würfe heraus, sie fielen aber nicht.
Die Quoten der Toronto Raptors in Spiel 4
Halbzeit | Punkte | Field Goals | Dreier | Freiwürfe |
1 | 42 | 15/44 | 2/17 | 10/11 |
2 | 63 | 21/42 | 8/15 | 13/13 |
Gesamt | 105 | 36/86 (41,9%) | 10/32 (31,3%) | 23/24 (95,8%) |
Raptors: Kawhi, Serge Ibaka und Freiwürfe
Es gibt solche Tage - speziell gegen die Warriors kann man sie sich nur eigentlich nicht erlauben. Wer in der Oracle Arena in eine Grube fällt, konnte sich in den letzten Jahren sehr selten wieder herausarbeiten. Gegen Ende des ersten Viertels führte Golden State mit 11 Punkten. Die Warriors nahmen dieses Spiel sehr ernst, sie wussten um seine Bedeutung.
Toronto blieb trotzdem ruhig. Mit Defense arbeitete man sich in die Partie, vorne hatte man Leonard, Ibaka und die Freiwurflinie (10/11 in der ersten Hälfte). Toronto traf nur zwei seiner 17 Dreier in der ersten Hälfte, trotzdem rückte man nicht vom Plan ab oder geriet in Panik. Der Lohn? Zur Pause betrug der Abstand bloß noch 4 Punkte.
Es ging sehr wenig (34,1 Prozent aus dem Feld) - trotzdem waren die Raptors mittendrin in dieser hochintensiven Partie. Auch wenn man vorsichtig sein musste: Das dritte Viertel ist schließlich seit Jahren das Parade-Viertel des dominantesten Teams der letzten Jahre. Das war es zumindest.
Fred VanVleet: "Dafür gibt es keine Defense"
Golden State ist berühmt dafür, nach der Pause einen Gang höher zu schalten. Das machten jedoch in dieser Partie die Raptors, insbesondere Leonard, und sie fanden einen Gang, der für Golden State in dieser Form schlichtweg nicht erreichbar war. Mit 37:21 im Viertel rissen die Raptors den zunehmend kraft- und mutlos wirkenden Warriors das Spiel aus der Hand.
Was war nach der Pause anders? VanVleet identifizierte den Grund für die Explosion: "Kawhi Leonard kam raus und traf zum Start der Hälfte zwei ‚F You'-Würfe. Dafür gibt es keine Defense, kein Schema." So in etwa. Die Kompromisslosigkeit, mit der Leonard vor allem den zweiten Dreier aus dem Dribbling über Draymond Green warf, gab den Ton für die restliche Spielzeit an.
17 Punkte erzielte Leonard im dritten Viertel und nun fanden auch die anderen Raptors endlich ihre Offense. "Diese beiden Dreier haben das Gefühl bei allen verändert", sagte Raptors-Coach Nick Nurse, dessen Entscheidung, VanVleet für Danny Green in die Starting Five zu nehmen, sich wieder voll ausgezahlt hatte. "Wir haben gemerkt, dass wir mittendrin waren, und von da an einfach weitergemacht." Die Warriors konnten nicht mehr Schritt halten.
Raptors-Fans skandieren "O Canada" in Oracle Arena
Toronto dominierte das restliche Spiel, so wie die gesamte Serie bisher von den Raptors dominiert wird: Von bisher 16 absolvierten Vierteln dieser Serie haben die Kanadier 13 gewonnen. Sie sind bisher das eindeutig bessere Team in dieser Serie. Dass nach Spiel 4 von etlichen mitgereisten Raptors-Fans in der Oracle Arena "O Canada!" skandiert wurde, passte da nur zu gut ins Bild.
Nun fehlt nur noch ein Sieg zum ganz großen Glück, zum ersten Titel der Franchise-Geschichte. Die erste Chance dazu wird Toronto in Spiel 5 in der Nacht von Montag auf Dienstag (ab 3 Uhr live auf DAZN) vor heimischen Publikum bekommen. "Wir haben noch nichts erreicht", merkte Kyle Lowry allerdings an, im Wissen, dass auf der Gegenseite sowohl schon mal ein 1-3-Rückstand aufgeholt als auch eine 3-1-Führung verspielt wurde. Es passiert nicht oft, es ist aber durchaus möglich, die Serie ist noch nicht gewonnen.
Zumal nach wie vor niemand weiß, ob und wann Kevin Durant in dieser Serie noch einmal eingreifen wird. Vor Spiel 4 wurde sehr kurzfristig bekannt gegeben, dass der Forward erneut nicht mitwirken konnte, es bleibt nebulös. Ob eine kleine Portion Taktieren seitens der Warriors dabei ist, sei mal dahingestellt - sollte es so sein, funktioniert es jedenfalls bisher nicht.
Die Raptors finden Lösungen, sie verteidigen exzellent, sie geraten nicht in Panik. Sie haben die Persönlichkeit ihres besten Spielers angenommen, für den Druck ohnehin ein fremdartiges Konzept zu sein scheint.
Kawhi Leonard: Eine fehlerlose Meisterleistung
In 41 Minuten Spielzeit, verteidigt von elitären Verteidigern wie Thompson, Green und Andre Iguodala, verlor er nicht einen einzigen Ball, dafür sammelte er selbst 4 Steals und 12 Rebounds - garniert mit 36 Punkten eine unglaubliche Leistung, zumal ja auch Leonard Probleme am Knie mit sich herumschleppt. In den meisten Szenen könnte man es nicht ahnen.
Im Anschluss nahm Leonard auf dem Podium Platz und wurde gefragt, was er erwarte, wie die Fans in Kanada auf einen Titel reagieren würden, der nun so nah erscheint. Seine Antwort darauf war nicht nur wieder mal in amüsantem Maße nüchtern, sie verdeutlichte auch wieder, wie sehr sich dieser Spieler und dieses Team im Tunnel befinden.
"Ich weiß es nicht. Ich glaube, da müssen Sie jemanden auf der Straße fragen oder einen unserer Fans", sagte Leonard. "Oder jemanden in Kanada, der dort schon lange lebt."
Emotionen sind nicht unbedingt das Fachgebiet des Finals-MVPs von 2014. Auch deswegen könnte er das Kunststück aber schon bald wiederholen. Dafür würden in Kanada vermutlich nicht wenige Zuschauer mindestens einen Zahn opfern.