Es ist unheimlich schwierig, sich im Lauf einer Saison neu zu erfinden. Das gilt auch schon für junge Spieler, insbesondere aber für solche, die schon viele Jahre in der Liga sind und auf ihre Art Erfolg gefunden haben. Ab einem gewissen Punkt ist man mehr oder weniger, was man ist; es gibt Veränderungen, diese sind aber zumeist eher subtiler Natur.
All dies macht es umso beeindruckender, was Russell Westbrook in den letzten Wochen zeigt: Mit 31 Jahren, in seiner zwölften Saison, spielt der MVP von 2017 den vielleicht besten Basketball seines Lebens. Weil er weitestgehend ausgemerzt hat, was ihm Kritiker (zu denen der Autor dieser Zeilen zählt) jahrelang vorgeworfen haben. Und weil sein Team zum ersten Mal in seiner Karriere so wirklich realisiert hat, wie man sein schon immer vorhandenes Potenzial am besten zur Geltung bringen kann.
Ein solides Jahrzehnt über wurde debattiert, was Westbrook eigentlich ist - ein Point Guard? Dafür war er nicht selten zu wild, zu unkontrolliert. Ein Shooting Guard? Dafür war der Wurf zu mies. Die Lösung haben die Rockets nun beinahe zufällig gefunden: Westbrook ist Westbrook - ein Unikat, das ein einzigartiges Team um sich herum braucht. Und das in der heutigen NBA zumindest offensiv eine Art Center darstellen kann.
Einen 1,90 m kurzen, hyperathletischen und physisch dominanten Center, so kontraintuitiv sich das auch anhört. Allerdings würde es sonst ja auch nicht zu Westbrook passen.
Westbrook und Harden: Kein optimaler Fit
Fast alles an seinem Rockets-Dasein ist irgendwie widersprüchlich - nicht zuletzt der Fakt, dass Westbrook mit seinem ineffizienten Scoring, der Balldominanz und dem historisch schlechten Distanzwurf nicht im Geringsten ein Spieler nach dem Gusto von General Manager Daryl Morey ist. Es gibt Gerüchte, dass Morey den Trade für Westbrook so nicht durchführen wollte, jedoch mehr oder weniger dazu gedrängt wurde; dies erscheint zumindest nicht unvorstellbar.
Es spielt keine Rolle mehr: Westbrook ist in Houston, sein Vorgänger Chris Paul ist in Oklahoma City. James Harden ist zufrieden(er), weil Westbrook ein guter Freund ist und Paul und er sich wohl nicht mehr grün waren. Über die ersten Saisonmonate sah es jedoch nicht danach aus, dass Houston dem großen Ziel, dem Gewinn eines Titels, durch diesen Trade nähergekommen war.
Im Gegenteil. Harden scorte sich zwar wie gewohnt einen Wolf, das Zusammenspiel der beiden Superstars verlief jedoch nicht optimal und Houston war ein gutes, aber kein überragendes oder furchteinflößendes Team. Das System war darauf ausgelegt, maximal einen Non-Shooter zu beherbergen - Westbrook war der zweite und damit einer zu viel.
Houston verschiebt die Parameter
Deswegen war sein Einfluss limitiert, auch wenn seine Counting Stats wie immer in seiner Karriere durchaus beeindruckend (weil voluminös) daherkamen. Sowohl im November als auch im Dezember hatte Houston aber ein negatives Net-Rating, wenn Westbrook auf dem Court stand. Die große Veränderung, die Morey und Head Coach Mike D'Antoni im Lauf des Winters einleiteten, sollte daher vor allem darauf abzielen, Russ wieder zu einem echten Superstar zu machen.
Dafür verschob man die Parameter der Gleichung. Indem Clint Capela für Robert Covington getradet wurde und man sich zu 100 Prozent dem Small-Ball verschrieb, entfesselte man Westbrook - niemand hat von diesem Trade mehr profitiert als er.
Auf einmal gehört der gesamte Bereich innerhalb der Dreipunktlinie ihm, da er der einzige Non-Shooter ist, wird er immer wieder mit langsamen Centern verteidigt. Und wenn man ihn in diesem Szenario spielen sieht, muss man sich wieder und wieder fragen, warum es erst jetzt zu dieser Maßnahme gekommen ist. Seine Shot-Chart sah noch nie in seiner Karriere so sinnvoll aus wie im vergangenen Monat.
Die Rockets entfesseln Russell Westbrook
Am 29. Januar stand Capela zuletzt in Houstons Lineup, nachdem seine Rolle schon zuvor um einiges kleiner und das Pick'n'Roll, die in den vorigen Jahren so oft gezeigte Waffe, immer weniger wichtig geworden war. Die Rockets hatten schon im Lauf des Monats begonnen, sich mehr und mehr auf Small-Ball zu verlassen, nun gab es jedoch kein Zurück mehr: Covington kam am 5. Februar, seither waren Minuten mit einem klassischen Center quasi nicht existent.
Für Westbrook ist dies die beste Entwicklung, die ihm zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere passieren konnte. Bereits im Januar spielte er dominant (32,5 Punkte, 52,2 Prozent aus dem Feld), der Februar avancierte dann direkt zum effizientesten Scoring-Monat seiner Karriere (33,4, 54,9 Prozent). Das ist kein Zufall.
Im Eins-gegen-Eins kann niemand vor ihm bleiben, Rim-Protection fehlt oft vollkommen, wenn der gegnerische Center einen von Houstons Schützen deckt und somit draußen an der Dreierlinie steht. So viel Platz hatte er noch nie - wie soll Derrick Favors hier den Boden gutmachen, um rechtzeitig am Korb zu sein? Wenn er auch nur einen Moment zögert, ist es schon zu spät.
Viele Teams setzen nun bereits ihren Center auf Westbrook an, damit dieser Gegenwehr am Korb verspürt. Rudy Gobert etwa sank ab, woraufhin Russ aus der Mitteldistanz draufhielt.
Das ist zwar immer noch besser, als Russ ständig zum Korb zu lassen, offene und nicht wirklich schwere Würfe opfert man so dennoch. Da Houston vier Shooter um ihn herum platziert, ist es kaum möglich, Hilfe zu schicken. Gobert auf einen dieser Shooter anzusetzen und Russ "konventionell" zu verteidigen, minimiert wiederum dessen Wert als Ringbeschützer, wie im Beispiel mit Favors gesehen.
Eine wirklich ideale Lösung wurde bisher nicht gefunden, auch nicht beispielsweise von Anthony Davis, einem der Außerirdischen dieser Liga; mit der Geschwindigkeit von Westbrook wirkt selbst er mal überfordert.
So komisch das klingt: Erstmals in seiner Karriere kommen die athletischen Vorzüge eines der explosivsten NBA-Spieler der Geschichte voll zur Geltung. Während Harden zunehmend müde von seiner auch in dieser Saison wieder riesigen Last wirkt, hat Russ für den Moment die Kontrolle übernommen und die Rockets in Position gebracht, sich wieder ins Rennen um den zweiten Platz in der Western Conference einzuschalten.
Westbrook tut dabei endlich, was viele schon lange von ihm sehen wollten: Seit der Jahreswende nimmt er bloß noch 2,3 Dreier pro Spiel, lebt dafür in Ringnähe. Westbrook führt die Liga in diesem Zeitraum bei den Drives pro Spiel (23,4) und den Punkten nach Drives an (15,7), er erzielt die meisten Field Goals (9,3) und die meisten Punkte in der Zone (20,3). Er attackiert, immer und immer wieder.