Nach dem Kreuzbandriss von Jamal Murray sitzt der Schock bei den Denver Nuggets tief. Der Co-Star von Nikola Jokic wird die komplette restliche und voraussichtlich große Teile der kommenden Saison verpassen. Was bedeutet das für die kurz- und langfristigen Titelhoffnungen der Nuggets? SPOX beantwortet die wichtigsten Fragen zur Murray-Verletzung.
Was ist passiert und wie lange wird Jamal Murray ausfallen?
"Die Stimmung in der Kabine war so, wie man es vermuten konnte", sagte Michael Porter Jr. kurz nach der 107:116-Niederlage der Nuggets gegen die Warriors in der Nacht auf Dienstag. Soll heißen: nicht gut. Dabei war die Pleite gegen einen brandheißen Stephen Curry nur Nebensache, die Gedanken in der Nuggets-Kabine drehten sich ausschließlich um Jamal Murray.
Der 24-Jährige war zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg ins Krankenhaus, nachdem er in der Schlussminute des Spiels übel zu Boden gegangen war. Gut 50 Sekunden vor dem Ende - Denver war inmitten eines Comeback-Versuchs, mit dem es den Rückstand von -18 auf -7 verkürzt hatte - sprintete Murray nach einem Defensiv-Rebound über das komplette Feld und attackierte den Korb, um die Hausherren weiter ins Schwitzen zu bringen.
Doch daraus wurde nichts. Als er zum Korbleger hochsteigen wollte, gab das linke Knie nach, Murray ging mit einem lauten Schrei zu Boden und hämmerte vor Schmerzen auf das Parkett (hier gibt es die Szene im Video). Quälend lange blieb er dort liegen, bevor er schließlich gestützt von einem Trainer in die Katakomben humpelte. Am Dienstag bestätigte dann eine MRT-Untersuchung die schlimmsten Befürchtungen: Kreuzbandriss.
Wie die Nuggets in einer offiziellen Stellungnahme mitteilten, wird Murray auf unbestimmte Zeit ausfallen. Die Saison 2020/21 ist für den Guard damit definitiv gelaufen, voraussichtlich wird er auch einen Großteil der kommenden Spielzeit verpassen. Je nach Heilungsverlauf könnte es bis zu einem Jahr dauern, bis Murray sein Comeback nach dem Kreuzbandriss feiern kann.
Die Frage, ob der komprimierte Spielplan der Nuggets bei der Verletzung eine Rolle gespielt haben könnte, ist einerseits müßig, andererseits kaum zu klären. Denver hatte zuletzt in neun Tagen sechs Spiele absolviert. Vor der Partie gegen die Dubs fiel Murray allerdings vier Spiele aufgrund von Problemen am rechten Knie aus. Fakt ist, dass die Nuggets die Saison ohne ihren zweitbesten Spieler zu Ende spielen müssen. "Einfach ein schreckliches Gefühl", so Coach Michael Malone.
Sind die Denver Nuggets auch ohne Murray ein Titelanwärter?
Seit der Trade Deadline und der Addition von Aaron Gordon gehörten die Nuggets zu den heißesten Teams der Liga. Mit dem neuen Flügel im Lineup gewann Denver zunächst sieben Spiele in Folge, bevor die vergangenen beiden Partien - der irre Einbruch in der Schlussphase gegen Boston und das Gastspiel in der Bay Area - verloren gingen.
Nichtsdestotrotz, mit dem Gordon-Trade hatten sich die Nuggets im Kreis der Titelanwärter etabliert. Die Grundlage dafür hatte Denver bereits in den Vorwochen gelegt, seit Anfang März stand das Team von Coach Malone bei einer Bilanz von 16 Siegen zu fünf Niederlagen. Das lag einerseits natürlich an einem Nikola Jokic in MVP-Form, andererseits aber auch an Murray.
Nach einem schwachen Saisonstart, der Murray aus der All-Star-Konversation eliminiert hatte, erinnerte Blue Arrow zuletzt wieder sehr stark an den Bubble-Murray, der den Jazz und Clippers in den vergangenen Playoffs Kopfschmerzen bereitet hatte. Trotz der miesen ersten Saisonmonate legte Murray bis zu seiner Verletzung Career-Highs in allen wichtigen Statistik-Kategorien wie Punkte (21,2), Assists (4,8), Feldwurfquote (47,7 Prozent), Dreierquote (40,8 Prozent) oder bei den Advanced Stats wie PER (18,4) oder True-Shooting (59,2 Prozent) auf.
In der Nuggets-Offense harmonierten Jokic und Murray nahezu perfekt. Teilten sich die beiden Eckpfeiler der Nuggets-Gegenwart und -Zukunft den Court, so legte Denver laut Cleaning the Glass ein elitäres Net-Rating von 11,8 auf. Mit der Verstärkung auf dem Flügel in Person von Gordon erreichte Denver endgültig den Contender-Status, damit ist es nun allerdings vorbei.
gettyDenver Nuggets: Chancen auf die Finals im Keller
Kein Team kann es problemlos wegstecken, wenn der zweitbeste Spieler auf einmal fehlt, noch nicht einmal wenn dieses Team einen so genialen Offensiv-Spieler wie Jokic in der Hinterhand hat. In den bisherigen Minuten mit Jokic auf dem Court, aber Murray auf der Bank, sank das Net-Rating der Nuggets auf -2,8. Denver wird das Scoring des Kanadiers nicht einfach so ersetzen können.
Zwar verfügt der aktuell Viertplatzierte der Western Conference in Person von Facundo Campazzo und Monte Morris über solide Backups auf der Guard-Position und wird sicherlich noch mehr Tiefe ins Visier nehmen (schon vor der Murray-Verletzung waren angeblich Austin Rivers, Troy Daniels oder Gerald Green im Gespräch), doch keiner von ihnen kann konstant Offense für sich kreieren, geschweige denn mehrfach 50 Punkte in einem Playoff-Spiel raushauen.
Die Nuggets werden nun noch mehr auf Jokic angewiesen sein, zudem werden sich Gordon und MPJ wohl über mehr Touches freuen dürfen. Doch reicht das in der Postseason für den großen Wurf? Wohl eher nicht. Laut eines Berechnungsmodells von The Ringer sind die Chancen der Nuggets, eine Playoff-Serie zu gewinnen, von 59 auf 41 Prozent gesunken. Und die Chancen auf die Finals sind auf nur noch magere drei Prozent zusammengeschrumpft.
Die Statistiken von Jamal Murray in der Saison 2020/21
Spiele / Minuten | Punkte | Rebounds | Assists | Steals | FG% | 3FG% | FT% |
48 / 35,5 | 21,2 | 4,0 | 4,8 | 1,3 | 47,7 | 40,8 | 86,9 |
Was bedeutet die Murray-Verletzung für das Playoff-Rennen?
Ganz abgesehen von Murrays sportlichen Qualitäten verlieren die Nuggets auch einen der Leader des Teams. "Nikola und Jamal, das sind unsere Dudes. Sie waren schon auf der großen Bühne. Sie haben dieses Team zu neuen Höhen geführt", sagte Porter Jr. nach der Warriors-Partie.
Die Nuggets (34-20) müssen den Verlust ihres zweitbesten Spielers auch auf mentaler Ebene möglichst schnell wegstecken, denn im schlimmsten Fall droht in der regulären Saison sogar noch ein Abrutschen ins Play-In-Turnier. Der Vorsprung auf die Dallas Mavericks (29-24), die aktuell Rang sieben belegen, beträgt aber immerhin 4,5 Spiele und auch sonst ist dieses Szenario eher unwahrscheinlich.
Was für Denver spricht, ist ein relativ leichter Rest-Spielplan in den verbliebenen 18 Partien. Und natürlich Jokic. Auch wenn das Net-Rating in den Minuten ohne Murray litt, seine Produktion ist auch ohne seinen kongenialen Partner elitär. Daran sollte sich auch in den letzten Saisonwochen nichts ändern, vor allem wenn Gordon und Porter Jr. tatsächlich ein wenig Last von seinen Schultern nehmen können.
Zudem haben bekanntermaßen auch die Los Angeles Lakers (34-21, Platz fünf) mit Verletzungssorgen zu kämpfen, bis zur Rückkehr von LeBron James und Anthony Davis werden wohl noch ein paar Wochen ins Land gehen - und der amtierende Champion hat einen deutlich schwereren Rest-Spielplan.
So ist es alles andere als ausgeschlossen, dass Denver auch ohne Murray mit dem Heimvorteil in die Postseason startet. Sollte es dann jedoch zu einem Duell mit den Fünftplatzierten Lakers und einem fitten LeBron und einem fitten AD kommen, könnte die Angelegenheit für die Nuggets schnell wieder gelaufen sein. Der Champion kann aufgrund dieser Konstellation für jedes Team zum Erstrunden-Albtraum werden.
Das Playoff-Rennen in der Western Conference
Platz | Team | Bilanz | Rückstand |
1 | Utah Jazz | 41-14 | - |
2 | Phoenix Suns | 39-15 | 1,5 |
3 | L.A. Clippers | 38-18 | 3,5 |
4 | Denver Nuggets | 34-20 | 6,5 |
5 | Los Angeles Lakers | 34-21 | 7 |
6 | Portland Trail Blazers | 31-23 | 9,5 |
7 | Dallas Mavericks | 29-24 | 11 |
8 | Memphis Grizzlies | 27-25 | 12,5 |
9 | San Antonio Spurs | 26-26 | 13,5 |
10 | Golden State Warriors | 26-28 | 14,5 |
11 | New Orleans Pelicans | 25-29 | 15,5 |
12 | Sacramento Kings | 22-32 | 18,5 |
Was bedeutet die Murray-Verletzung langfristig für die Nuggets?
Immer wieder wird in der NBA von den berühmt-berüchtigten Titelfenstern gesprochen. Die Nuggets wollten ihres mit dem Trade von Gordon als Komplementär-Spieler für das Star-Duo weit aufreißen. Nun ist es durch Murrays-Kreuzbandriss aber schlagartig vor der Nase zugefallen. Zumindest für diese Saison, doch vielleicht auch für die nächste?
Laut ESPN ist seit 2014 kein Spieler schneller als elf Monate von einem Kreuzbandriss zurückgekommen, realistisch ist also die Annahme von etwas weniger als einem Jahr Pause für Murray - auch wenn die Franchise laut Denver Post aktuell mit neun bis zwölf Monaten rechnet. Da die NBA nach den Corona-bedingten Verschiebungen im Zeitplan zur Spielzeit 2021/22 zum normalen Saisonrhythmus mit einem Start im Oktober und Playoff-Beginn Mitte April zurückkehren möchte, droht Murray einen Großteil der Regular Season 21/22 zu verpassen.
Wann genau der Guard aufs Parkett zurückkehrt und vor allem in welcher Verfassung, bleibt abzuwarten. Was Mut macht, ist Murrays Historie als unermüdlicher Arbeiter, eine Einstellung, die ihm sein Vater schon von Kindheitstagen an eingebläut hat. Entsprechend wird man erwarten dürfen, dass Murray früher oder später auf ein ähnliches Niveau wie vor der Verletzung zurückkehrt. Kreuzbandrisse sind noch immer schwere Verletzungen, aber nicht mehr unbedingt karrierebedrohlich wie in früheren Zeiten.
Zudem ist er erst 24 Jahre alt (Vertrag bis 2025); auch wenn er ein wichtiges Jahr verliert, den Großteil seines Zenits hat er noch vor sich. Gleiches gilt für den weiteren Kern der Nuggets um Jokic (26, Vertrag bis 2023), Gordon (25) und Porter Jr. (22), die beiden letztgenannten stehen immerhin noch bis Sommer 2022 unter Vertrag. Nutzt MPJ seine wahrscheinlich nun größere Rolle, wird er dann ziemlich teuer werden, was wiederum die Flexibilität in der weiteren Kadergestaltung für Nuggets-Präsident Tim Connelly einschränkt.
Damit wird Denver aber leben können, wenn sie in ein oder zwei Jahren womöglich drei veritable Stars in Jokic, Murray und Porter Jr. im Kader haben, sofern die Entwicklung von MPJ den gewünschten Verlauf nimmt. Für die langfristige Zukunft gibt also trotz der Verletzung von Murray weiterhin Lichtblicke.
Bleibt Nikola Jokic der Favorit im MVP-Rennen?
Die klare Antwort der Buchmacher in Las Vegas: Ja! Kurz nach Bekanntwerden des Ausmaßes der Murray-Verletzung verbesserten sich die Quoten für den Joker als MVP, der bereits zuvor als Favorit gehandelt wurde. Der Gedankengang dahinter ist einfach, ohne Murray wird Jokic nun noch mehr leisten müssen als ohnehin schon.
Auch wenn das Net-Rating der Nuggets in den Minuten ohne Murray, aber mit Jokic auf dem Court einbricht, legt der Center doch eine spektakuläre individuelle Produktion hin. Auf 36 Minuten gerechnet kommt er ohne den Guard neben sich auf 29,1 Punkte, 10,4 Rebounds und 10,6 Assists im Schnitt, auch wenn die Effizienz einen Tick leidet (61,5 Prozent True Shooting zu 65,6 Prozent mit Murray).
An seiner Rolle als Nr.1-Ballhandler der Nuggets wird sich in den kommenden Wochen ohnehin nichts ändern, es ist dem Serben durchaus zuzutrauen, dass er bis zum Playoff-Start weiterhin solche Zahlen auflegt. Hält er Denver auch ohne seinen Co-Star in der Top 4 im Westen, wird es schwierig werden, für die Konkurrenz zu argumentieren.
Die muss also eher darauf hoffen, dass Denver bilanztechnisch und damit auch in der Tabelle doch etwas abrutscht. Nur so kann Jokic Stand jetzt von seiner Favoritenposition im MVP-Rennen noch verdrängt werden.