Nets? Bucks? Nein, die Chicago Bulls sind aktuell das beste Team der Eastern Conference. Clutch-König DeMar DeRozan verbindet in der Windy City zwei Welten aus seiner Vergangenheit, Zach LaVine und die Rollenspieler machen das Team an beiden Enden des Courts gefährlich. Doch ist Chicago ein echter Titelanwärter?
Er habe soeben ein Team gesehen, das dieses Jahr einen echten Run starten könne, da war sich Bradley Beal sicher. Er saß am Samstagabend Ortszeit in den Katakomben der Capital One Arena in Washington, zu einem gewissen Teil gefrustet, zu einem gewissen Teil beeindruckt. Dieses Team, das er gerade gesehen hatte, hatte Eindruck hinterlassen: "Chicago kann wirklich was reißen."
Die Bulls haben jetzt schon einiges gerissen, mehr als ihnen viele vor der Saison zugetraut hätten. Seit dem heißen Saisonstart ist das Team aus der Windy City nicht abgekühlt, selbst ein Corona-Ausbruch, von dem bis zu zehn Spieler betroffen waren, konnte zwar den Spielplan, nicht aber die Bulls stoppen.
Stattdessen grüßt Chicago mit einer Bilanz von 25 Siegen zu zehn Niederlagen vom Platz an der Sonne der Eastern Conference. Selbst die Nets und die Bucks, die vor der Saison als Top-Favoriten gehandelt wurden, müssen derzeit zu Chicago aufschauen.
Die in der jüngeren Vergangenheit so gebeutelte Franchise ist mit acht Siegen in Folge das heißeste Team der Liga, solch eine Erfolgsserie gab es zuletzt vor knapp zehn Jahren. Die Gründe für diesen Lauf sind vielfältig, zuletzt hatten sie aber viel mit dem Namen DeMar DeRozan zu tun.
DeMar DeRozan: Historische Heldentaten
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich gerade träume oder ob das real ist", sagte der 32-Jährige am Wochenende etwas benommen von seinem eigenen Erfolg. Er hatte soeben NBA-Geschichte geschrieben, noch nie zuvor gelangen einem Spieler zwei Buzzer-Beater zum Sieg an aufeinanderfolgenden Tagen.
Erst schockte DeRozan die Pacers mit einem wilden, einbeinigen Runner von Downtown, kaum 24 Stunden später schickte er Beal und die Wizards mit der Sirene ins Tal der Tränen. 3,3 Sekunden vor dem Ende bekam er den Ball in der linken Ecke, eine schnelle Drehung, Pump-Fake, Dreier - und selbst beim Auswärtsspiel in Washington explodierte die mit zahlreichen Bulls-Fans gefüllte Halle.
Die Clutch-Heldentaten DeRozans sind längst kein Zufall mehr, im Laufe der Saison hat der Sommerneuzugang - der in der Offseason eigentlich mit einem Wechsel zu den Lakers gerechnet hatte, bevor die sich für Russell Westbrook entschieden - seinem Team schon zahlreiche Spiele in den entscheidenden Phasen gerettet.
DeRozan führt die Liga beim Scoring im vierten Viertel an (8,0 Punkte pro Spiel), dabei trifft er hervorragende 53 Prozent aus dem Feld und 53,8 Prozent aus dem Dreierland. Laut ESPN Stats & Info wäre er über die komplette Saison gesehen der erste Spieler in der NBA-Historie mit solchen Zahlen. Darüber hinaus ist er in Clutch-Momenten der Scorer mit den zweitmeisten Punkten (72) bei einer irren True-Shooting-Percentage von 70,5 Prozent. Die Bulls stehen bei 12-6 in Clutch-Spielen.
DeMar DeRozan: Schreck aus einer anderen Ära
"Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die ihn bei einem Wurf hetzen können, denn der ist einfach tadellos", schwärmte zuletzt Zach LaVine über die Crunchtime-Auftritte seines Teamkollegen. "Er ist immer sehr gefasst. Und er kommt immer zu seinen Spots."
DeRozans Erfahrung und Coolness haben ihm sicherlich auch gegen die Pacers und Wizards geholfen, als er ein ansonsten eher als Off-Night zu bezeichnendes Spiel jeweils in den Schlussminuten umdrehte. Sein Scoring sorgt so für die Schlagzeilen - zweitbester Karriereschnitt (26,9) bei drittbestem Karriere-True-Shooting (58,4 Prozent) -, doch erst sein über die Jahre verbessertes Playmaking macht ihn zur mehrdimensionalen Offensiv-Gefahr.
In gewisser Weise hat DeRozan seine Spielweisen aus Toronto, wo er in erster Linie Scorer war, und San Antonio, wo er zum unterschätzten Spielmacher reifte, in Chicago zu einem großen Ganzen zusammengeführt. Als Mitteldistanz-Schreck wirkt er wie ein Relikt aus einer anderen Ära, der dennoch einen Top-Wert bei den Isolations (1,17 Punkte pro Possession, Platz 1 bei mindestens 4 Possessions) vorweist sowie mit seinen Drives und Finten zahlreiche Freiwürfe zieht.
So hat er sich in die MVP-Konversation katapultiert. Dank der Mithilfe der NBA, die ihn im All-Star-Voting als Guard listet, obwohl DeRozan schon seit Jahren vornehmlich als Forward agiert, hat er sogar gute Chancen, als Starter beim Spaß-Event in Cleveland aufzulaufen. Man darf allerdings nicht vergessen: Er macht all das nicht allein.
NBA: Die besten Mitteldistanzschützen in der Saison 2021/22 (mind. 4,5 Versuche)
Platz | Name | FGM | FGA | FG% |
1. | LaMarcus Aldridge (Nets) | 2,6 | 4,7 | 56,3 |
2. | Kevin Durant (Nets) | 3,9 | 7,1 | 54,7 |
3. | DeMar DeRozan (Bulls) | 4,2 | 8,9 | 46,7 |
4. | Brandon Ingram (Pelicans) | 3,2 | 7,0 | 45,8 |
5. | Paul George (Clippers) | 2,7 | 6,0 | 45,2 |
DeRozan und LaVine: Mismatch-Jäger der Extraklasse
Die Bulls sind natürlich weitaus mehr als DeRozan, der sich in Chicago in einem perfekten Umfeld wiederfindet. Noch nie in seiner Karriere hatte er so gutes Spacing um sich herum. In der modernen NBA geben die Defenses Mitteldistanzwürfe gerne ab, sofern sie Dreier und Korbleger verhindern können. Gegen DeRozan ist das ein Fehler.
Der viermalige All-Star drückt öfter aus der Midrange ab als jeder andere Spieler. Für den nötigen Platz sorgen die Mitspieler, die Bulls stellen das beste Shooting-Team der Liga (38,5 Prozent Dreierquote, allerdings bei den wenigsten Versuchen). Vor allem aus den Ecken (43,3 Prozent) ist Chicago tödlich, dort finden DeRozan, LaVine, Lonzo Ball und Co. immer wieder ihre Kollegen.
Die Formkurve bei Nikola Vucevic zeigt derzeit nach oben, auch Alex Caruso oder Rookie Ayo Dosunmu sind zur Stelle, wenn sie den Ball bekommen. Ball trifft seine Dreier selbst hochprozentig und LaVine sowieso. Gemeinsam mit DeRozan stellt Letzterer ein brandgefährliches Scoring-Duo, im Schatten des Veteranen vergisst man leicht, dass der 26-Jährige ähnliche Zahlen auflegt wie in seiner bärenstarken Vorsaison, sowohl was die Effizienz als auch was die Counting Stats betrifft.
LaVine ist nur einer von sechs Spielern, die in der laufenden Saison eine Usage-Rate von über 30 Prozent und einen True-Shooting-Wert von über 60 Prozent vorweisen können. Die anderen heißen Giannis, Nikola, Stephen, Kevin und LeBron. Ganz nebenbei kommt auch LaVine auf einen Top-10-Wert beim Scoring im vierten Viertel.
"Sie wechseln sich einfach ab", brachte Pacers-Coach Rick Carlisle das Dilemma für gegnerische Verteidigungen vor wenigen Wochen auf den Punkt. DeRozan und LaVine jagen Matchups, bis einer von beiden die Defense bestraft. Die wenigsten Teams haben gleich zwei starke Perimeter-Verteidiger im Kader, die da mithalten können. Denn: "Beide gehören zu den besten Eins-gegen-Eins-Spielern im Basketball."
Chicago Bulls: Was fehlt zum Contender-Status?
Entsprechend verwundert es nicht, dass Coach Billy Donovan, beziehungsweise Interimscoach und Ex-Nationaltrainer Chris Fleming während Donovans Corona-Abwesenheit, kaum Minuten ohne einen der beiden Offensiv-Stars spielen lässt - in der bisherigen Saison sind es sogar nur 41 ohne Garbage Time. Das Resultat spiegelt sich in der laut Cleaning the Glass viertbesten Offense der NBA wieder.
Doch auch in der Defense - die vor der Saison proklamierte Schwachstelle - verbucht Chicago einen Top-10-Wert. DeRozan, LaVine und Vucevic sind in dieser Hinsicht zwar immer noch keine Plusspieler, auch wenn sie immerhin Einsatz zeigen, doch Ball und Caruso schaffen es bislang sehr ordentlich, die Lücken zu füllen. Als die beiden verletzt beziehungsweise im Corona-Protokoll fehlten, litt die Verteidigung erwartungsgemäß.
Top-10-Werte an beiden Enden des Courts sind normalerweise ein Indiz für einen echten Contender. Es gibt jedoch auch Indizien in die entgegengesetzte Richtung. Chicago kreiert sich derzeit sehr viele Vorteile in Transition, in der Postseason wird das Spiel aber traditionell langsamer. Dann werden die gegnerischen Offenses wohl auch gezielter und besser DeRozan und LaVine attackieren können.
In der Defense fehlt es zudem etwas an Länge auf den großen Positionen, der Hoffnungsträger in dieser Hinsicht, Patrick Williams, wird wohl mindestens die komplette Regular Season wegen einer Handgelenks-OP verpassen. Immerhin erstarkte Coby White in den vergangenen Wochen, sodass ein Upgrade für die Bank (Platz 29 ligaweit) womöglich nicht mehr so wichtig wird. Dennoch heißt das in der Summe: Den Bulls fehlen noch ein, zwei Puzzleteile zum echten Titelanwärter, die Bucks und Nets sind auf dem Papier ein Level über Chicago.
gettyChicago Bulls: Mehr als eine Feel-Good-Story
"Wir haben noch eine Menge Basketball vor uns", warnte auch Fleming nach dem Wochenende vor zu viel Euphorie - schließlich sähe die Stimmungslage wohl ganz anders aus, wenn die beiden DeRozan-Treffer nicht reingegangen wären oder der glanzlose Auftritt gegen Orlando in einer Pleite gemündet hätte. Doch die Euphorie ist im Umfeld längst nicht mehr zu bremsen. Lauter, stolzer und in größerer Anzahl versammeln sich die Fans mittlerweile wieder in den Auswärtsarenen.
Ganz Chicago schmachtet nach der ersten Postseason-Teilnahme seit 2017, auf eine erfolgreiche Playoff-Runde wartet man sogar seit 2015. Die Chancen stehen Stand jetzt ziemlich gut, dass sich das in dieser Saison ändern wird. Und damit dürfte auch eine Vertragsverlängerung von LaVine, der im Sommer zu den begehrtesten Free Agents zählen wird, wahrscheinlicher werden.
In der vergangenen Offseason wurde Bulls-Boss Arturas Karnisovas für den lukrativen Deal für DeRozan (3 Jahre/81,9 Millionen Dollar) kritisiert, langfristig könnte der Vertrag den Bulls tatsächlich auch wehtun, wenn er als 34-jähriger Non-Shooter knapp 30 Millionen Dollar verdient. Doch kurzfristig zahlt sich das Signing aus.
Die Bulls machen wieder Spaß, sie sind eine der Feel-Good-Stories der Saison, nachdem die Anhänger in den vergangenen Jahren wenig zu feiern hatten. Und geht es nach Bradley Beal, sind sie sogar mehr als das.