Als Jim Harbaugh zu seinem ersten Arbeitstag im Marie P. DeBartolo Sports Center in Santa Clara auftaucht, ist das Trainingsgelände der San-Francisco 49ers bereits in tiefste Dunkelheit gehüllt. Es ist fast Mitternacht - und damit nicht gerade die übliche Zeit, an der ein neuer Arbeitnehmer seinen Schreibtisch einräumt.
Doch Harbaugh hat keine Zeit zu verlieren. In seinem ersten Jahr als NFL-Headcoach übernimmt er ein Team im Chaos. Ein als Versager abgestempelter Quarterback, ein Haufen Diven und Locker-Room-Zoff: das waren die 49ers im Januar.
Potenzial? Bestimmt. Ein Projekt mit Zukunft? Vielleicht. Aber sofortiger Erfolg? Niemals. Selbst Harbaugh sprach damals bereits von einer Mammutaufgabe.
Das grosse Ziel: der Super Bowl. Der Weg dahin: ein neues System etablieren, Spieler evaluieren und sich dabei nach Möglichkeit nicht völlig blamieren. Das galt so bis vor nicht einmal zwei Monaten.
Überraschungsteam der Saison
Mittlerweile hat sich allerdings einiges geändert. Spätestens seit dem 25:19-Erfolg über die bis dato ungeschlagenen Detroit Lions spricht Harbaugh von Enthusiasmus, der durch seine Adern fliesst. Spätestens seitdem das Team, das im vergangenen Jahr noch mit fünf Niederlagen gestartet war, fünf seiner ersten sechs Spiele gewonnen hat, spricht man in San Francisco von der Auferstehung der 49ers.
Doch was genau hat sich bei dem Team, das in drei Jahren vier Trainer verschlissen hat, geändert? Neue Spieler? Wohl kaum. Mit Center Jonathan Goodwin (kam aus New Orleans) und Fullback Bruce Miller (Draft-Pick) stiessen nur zwei der elf Offensive-Starter neu zum Team. In der Defense stehen immerhin vier neue Spieler auf dem Platz, doch keiner von ihnen gilt als grosser Star.
Warum also führt Quarterback Alex Smith, der bisher in seiner gesamten NFL-Karriere mehr Interceptions als Touchdowns warf und mehrfach als Starter abgesetzt wurde, sein Team plötzlich souverän zum besten Saisonstart seit 1998?
Die Antwort heißt: Jim Harbaugh. Innerhalb weniger Monate hat der ehemalige NFL-Quarterback die Mantalität der einstigen Diven-Truppe dramatisch verändert. "Er hat uns total umgekrempelt", sagt Receiver Ted Ginn Jr. im Gespräch mit SPOX.
Hart arbeiten, Fehler vermeiden, keine Experimente
Wie sich das auf dem Platz niederschlägt, zeigt das Spiel gegen die Tampa Bay Buccaneers. Da blockte der als Starlet verschriene Michael Crabtree gleich mehrere Verteidiger aus dem Weg, um seinem Teamkollegen Josh Morgan einen 24-Yard-Lauf zu ermöglichen.
Nur wenig später attackierte Ginn einen Gegener mit einer solchen Wucht, dass dieser vom Spielfeld in Richtung Ersatzbank flog. Eine Mentalität, die viele Fans in der Bay Area zuletzt vermisst hatten.
Harbaughs weiß das - und setzt daher auf folgende Devise: hart arbeiten, Fehler vermeiden, keine Experimente. Und es funktioniert.
Arschtritte für die Diven
"Man merkt sofort, dass Coach Harbaugh weiß, wovon er redet", erklärt Ginn. "Er versteht uns und stellt sich nicht auf eine andere Stufe."
Harbaughs Ansage: Wir sind ein Team, jeder hat eine ganz spezielle Aufgabe. Und nur wenn jeder hart daran arbeitet, seine Aufgabe zu erfüllen, hat das Team Erfolg.
Das kommt bei den Spielern an: "Wenn man sieht, dass der Trainer selbst auch hart arbeitet, muss man einfach mitziehen", sagt Ginn. "Wir machen das, was er sagt. Auch wenn es Arschtritte für uns bedeutet."
Der richtige Mix
Das Ergebnis dieser neuen Arbeitsmoral ist die zweitbeste Lauf-Verteidigung der Liga (nur 74,7 Yards per Game), das konsequente unter Druck setzen des gegnerischen Quarterbacks (drittmeiste Sacks der NFL) und das Vermeiden unnötiger gegnerischer Punkte (Platz vier in der Liga).
Defensive Coordinator Vic Fangio stellt das Team perfekt auf die Stärken und Schwächen des Gegners ein.
Doch das wichtigste ist: Die 49ers beschützen den Football. Nur sechs Mal leistete sich San Francisco einen Turnover. Bei 14 eigenen Balleroberungen ergibt das die zweitbeste Turnover-Rate der Liga (hinter Detroit).
Hinzu kommt dank Frank Gore (514 Yards, 4 Touchdowns) ein mehr als nur solides Laufspiel. Kurzum: Die 49ers sind zwar nicht in allen Belangen überragend, aber sie gewinnen mit dem richtigen Mix aus Offense, Defense und Special Teams. Und sie gewinnen, weil sie intelligent die Chancen nutzen, die ihnen ihre Gegner bieten.
Bier, Pizza und ein Hemd
Harbaugh hat ein Symbol für diese neue Harte-Arbeiter-Mentalität: sein Hemd. "Wenn wir arbeiten, dann stecken wir es uns in die Hose. Wenn die Arbeit getan ist, dann ziehen wir es wieder raus. Und bei einem Sieg darf das gerne auch zelebriert werden", erklärt er - und versucht gar nicht erst, das dabei immer breiter werdende Grinsen zu unterdrücken.
Er weiss, dass es ohnehin immer breiter wird, wenn er den wartenden Journalisten erklärt, wie es ihn als Kind damals in Ohio immer beeindruckt hat, wenn sein Onkel nach einem harten Tag in der Fabrik nach Hause kam, befreiend das Hemd aus der Hose zog, die Füsse hochlegte und zusammen mit der Familie Pizza aß und Bier trank. Bier, Pizza, harte Arbeit: Das kommt an.
Und zwar nicht nur bei der Presse. "Er ist ein Spieler-Typ", sagt Ginn. "Er weiß, was jeder einzelne von uns braucht und er weiß, wie er mit uns reden muss." Und reden, das tut Harbaugh gerne.
Eine letzte Chance, um sich zu beweisen
Mit der Presse, klar. Selbst wenn er Reporter regelmässig korrigiert, wenn sie einmal mehr den Namen eines seiner Spieler falsch ausgesprochen haben.
Noch lieber redet Harbaugh allerdings mit seinen Spielern. Es gibt kaum ein Training, in dem er sich nicht einen seiner Athleten zur Seite nimmt, um mit ihm über persönliche Dinge und die Stimmung im Locker Room zu sprechen.
Harbaugh will ganz nah dran sein. Deshalb wundert es auch keinen seiner Spieler mehr, dass er bei auf dem Weg zu Auswärtsspielen regelmässig seinen Platz in der ersten Klasse aufgibt, um bei den Spielern zu sitzen. Und, um noch mehr zu reden.
Eines seiner ersten Gespräche in San Francisco führte Harbaugh mit Alex Smith. Während Fans und Experten den ehemaligen Nummer-Eins-Pick bereits als riesige Enttäuschung abgestempelt hatten, sprach Harbaugh dem 27-Jährigen sein Vertrauen aus - und gab ihm einen Einjahresvertrag. Eine letzte Chance, um sich zu beweisen. Vielen anderen Spielern erging es ähnlich.
"Seine Energie befeuert das gesamte Team"
Und für diese Chance lieben ihn die Spieler. Sie lieben es, wenn er nach einem Sieg völlig durchnässt aufs Spielfeld rennt, die Arme hochreißt, sich das Hemd aus der Hose zieht und dann gegen den 2,03-Meter-Hünen Alex Boon zum Chest Bump ansetzt.
Sie lieben es, wenn er sie nach dem Spiel auf dem Weg in die Katakomben einzeln abklatscht und bei der obligatorischen Locker-Room-Ansprache total ausflippt. "Seine Energie befeuert das gesamte Team", sagt Ginn.
Doch manchmal wird Harbaugh eben genau diese Energie zum Verhängnis. So wie nach dem Spiel gegen Detroit, als Harbaugh für das sorgte, was die Medien später zum "lächerlichsten Handschlag aller Zeiten" ("Boston Herald") deklarieren sollten.
Dieser Handschlag zeigt die andere Seite des Jim Harbaugh. Die Seite, die die Menschen, die ihn besonders lange kennen, dazu veranlasst, ihn als schrullig zu beschreiben. Fast schon besessen, sei er. Footballbesessen.
Und ploetzlich wird er zum Freak
Kein Wunder. Schliesslich entstammt Harbaugh einer Trainer-Dynastie. Sein Vater Jack war 45 Jahre lang Football-Coach. Sein Bruder John ist Head Coach der Baltimore Ravens. Und sein Schwager, Tom Crean, ist einer der besten College-Basketball-Trainer der USA.
Wenn Harbaugh, der nach eigenen Angaben seit seinem fünften Geburtstag Trainer werden wollte, eines nicht ertragen kann, dann ist es das Infragestellen seiner Football-Kompetenz. Und genau das war in Detroit passiert.
Als Lions-Coach Jim Schwarz Schwartz nach einer vergeblichen Challenge der 49ers brüllte: "Lern erstmal die Regeln, Harbaugh!", wurde der Kumpel-Typ zum Freak. "Das gesamte Spiel hatte mich unglaublich in Fahrt gebracht", sagt Harbaugh.
Entschuldigungen sind lahme Ausreden
Selbst wenn er heute, mit einigem Abstand, noch einmal darauf angesprochen wird, schnellt sein Puls in die Höhe. Wenn ihn Journalisten zum Beispiel fragen, ob er nicht in Zukunft etwas ruhiger werden wolle, dann bekommt er den Psycho-Blick.
Diese weit aufgerissenen, starrenden Augen, die er immer dann bekommt, wenn es um Football geht. Dann fragt er nach einer Weile. "Warum sollte ich ruhiger werden? Im Sport zeigst du deine Emotionen - und das ist auch gut so."
Und wenn der Journalist dann weiter bohrt und fragt, ob er sich denn wenigstens bei Lions-Coach Jim Schwarz entschuldigen werde, bricht der Harbaugh-Vulkan aus. "Entschuldigen?", schallt es umgehend zurück.
Und noch während sich Harbaugh sein schwarzes Basecap zurecht rückt, rutscht der Reporter einer San Franciscoer Zeitung bereits nervös auf seinem blauen Plastik-Klappstuhl hin und her. "Dafür gibt es keinen Grund", fährt Harbaugh fort. "Entschuldigungen sind lahme Ausreden."
Harbaugh, der Perfektionist
Und Ausreden duldet Harbaugh nicht. Nicht bei seinen Spielern - und schon gar nicht bei sich selbst. Alles fern der Perfektion bereitet ihm Unbehagen.
So stoppt er etwa beim Training lieber selbst die Zeit, als auf die ansonsten üblichen Uhren am Spielfeldrand zu vertrauen. Auch bei jedem noch so unwichtig erscheinenden Team-Meeting will er dabei sein.
Und so kommt es, dass Harbaugh dienstags bis samstags jeden Morgen um 8.45 Uhr in der Special-Teams-Besprechung sitzt. "Er will über alles Bescheid wissen" sagt Ginn. "Und er will, dass die Dinge funktionieren."
Operation: Mehr Dezibel
So wie kurz vor dem Lions-Spiel, als das Team noch immer auf die Installation einer neuen Sound-Anlage wartete, um den Lärm im Ford Field von Detroit zu simulieren.
Weil seit acht Wochen nichts passiert war, setzte sich Harbaugh kurzerhand selbst ins Auto, fuhr ins rund 50 Kilometer entfernte Palo Alto und organisierte an seiner alten Wirkungsstätte, der renommierten Stanford University, einen monströsen Satz Lautsprecher.
So monströs, dass die Zaungäste des entsprechenden Trainings später von metallica-konzert-artigen Dezibel-Bedingungen spechen sollten.
Ein monströser Lautsprecher. Auch das ist ein Sinnbild für Harbaugh.
"Wer ist besser als wir?"
Als er nach dem Spiel gegen die Lions in der Umkleidekabine zur Trillerpfeiffe greift und um Ruhe bittet, wissen seine Spieler, was jetzt kommt. Sie bilden einen Kreis um ihren Coach, erheben die Arme und warten.
Irgendwo aus diesem wilden Huddle schreit Harbaugh dann: "Wer ist besser als wir?" Die Lautstärke der einstimmigen Antwort lässt die Mikrofone der mitfilmenden Kameras versagen: "Niemand!"
Und jeder im Raum weiss: Erst dann ist der schrullige Freak wirklich zufrieden.
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