Neue Quarterbacks braucht das Land
Andrew Luck (Colts), Robert Griffin III (Redskins), Ryan Tannehill (Dolphins), Brandon Weeden (Browns) und Russell Wilson (Seahawks): Alle fünf sind Rookies, alle fünf stehen gleich in ihrer ersten Saison als Starting-Quarterback im Rampenlicht. Das gab es seit dem Zusammenschluss von NFL und AFL im Jahr 1970 nicht mehr. Die Tage, in denen Quarterbacks wie Aaron Rodgers zwei oder gar drei Jahre hinter einem erfahrenen Signal Caller lernen durften, scheinen vorbei. Doch woran liegt das?
Jon Gruden: Rookie-Quarterbacks sind heute viel weiter in ihrer Entwicklung, als sie es noch vor einigen Jahren waren. Sie sind viel besser darauf vorbereitet, direkt in der NFL zu starten. Sie sind nicht nur größer, stärker und schneller - sie sind auch mental deutlich besser auf den NFL-Alltag eingestellt. Das kommt daher, dass es durch die vielen taktischen Änderungen im College Football deutlich mehr Spielsysteme gibt, die denen der NFL ähneln. Junge Quarterbacks müssen daher nicht erst lange an den Stil der NFL gewöhnt werden. Außerdem haben sich die Spieler selbst auch verändert. Ihre Einstellung ist viel professioneller geworden. Sie arbeiten neben den 20 Stunden, die sie im College offiziell trainieren dürfen, noch viel auf eigene Faust. Organisieren in der Offseason sogar eigene Camps und entwickeln sich so zu echten Team-Leadern.
Doch das birgt im Umkehrschluss natürlich auch eine Gefahr: Es gibt keinen Welpenschutz mehr. Während man früher vielleicht nochmal gesagt hat "ach, der ist ja noch so jung", ist die Zeitspanne, in der sich ein Quarterback heute beweisen darf, extrem kurz. Das sieht man bei den Panthers (Cam Newton vs. Jimmy Clausen) und den Browns (Brandon Weeden vs. Colt McCoy). Die Jungs haben maximal zwei Jahre, um sich zu beweisen. Spielst du nicht gut, bist du weg vom Fenster.
Welcher Rookie-QB wird überraschen?
Dass Andrew Luck und Robert Griffin gleich in ihrer ersten Saison eine gute Figur abgeben werden, daran zweifeln nur die wenigsten Experten. Die Frage lautet daher eher: Kann ein anderer junger Quarterback für eine Überraschung sorgen?
Gruden: Russell Wilson. Natürlich denken hier alle zuerst an Luck und Griffin. Aber wenn die eine starke erste Saison spielen, überrascht das vermutlich wirklich niemanden mehr. Nach all dem Hype rund um den Draft gelten sie ja fast schon als etablierte Superstars. Mein Überraschungskandidat ist daher Seattles Russell Wilson. Der hat mit einer überzeugenden Preseason immerhin Matt Flynn im Duell um die Rolle als Nummer-Eins-Quarterback ausgestochen - und Flynn war ja erst kürzlich für 20 Millionen Dollar von den Seahawks verpflichtet worden, quasi als etatmäßiger Starter.
Doch dass Wilson den Vorzug erhielt, kommt dabei nicht von ungefähr. Ich kenne keinen anderen Spieler, der an zwei mehr als passablen Football-Colleges mit zwei völlig unterschiedlichen Systemen (zuerst in North Carolina State, dann in Wisconsin) so beeindruckt hat wie er und von seinen Teamkollegen sofort zum Kaptitän gewählt wurde. Einige Experten sagen, er sei zu klein. Ich sage: Wilson macht das mit seinem starken Charakter und Leader-Qualitäten wieder wett. Man kann sagen, ich bin sein Fan.
Welches Team wird überraschen?
Die Giants, Patriots und Packers - die haben die meisten Experten als Favoriten für einen möglichen Super-Bowl-Erfolg auf dem Zettel. Doch welches Team könnte in diesem Jahr aus dem Nichts kommen und mit einem Playoff-Run für Furore sorgen?
Gruden: Die Chicago Bears. Für mich ist das Team von Coach Lovie Smith in diesem Jahr ein heißer Kandidat für den Gewinn der NFC North und eine erfolgreiche Postseason. Für viele Experten besteht die NFC North nur aus den Packers und Lions. Und natürlich sind die die Favoriten. Doch wenn es Chicago schafft, dass Brian Urlacher und seine Defense gesund bleiben, dann haben sie eine echte Chance.
Quarterback Jay Cutler hat mit Brandon Marshall seinen liebsten Passempfänger aus alten Broncos-Tagen zurück - etwas, das ihm in Chicago bisher gefehlt hat. Hinzu kommt, dass die Bears durch die Verpflichtung von Michael Bush (kam aus Oakland) nun ein deutlich besseres Laufspiel haben. Zusammen mit Matt Forte bildet er ein extrem starkes Duo. Wie gesagt: Wenn alle gesund bleiben und die Defense hält, wird Chicago überraschen.
Wie wird sich Peyton Manning schlagen?
Die Personalie Peyton Manning war eines der am meisten diskutierten Themen der Preseason. Der 36-Jährige gilt als einer der besten Quarterbacks aller Zeiten, wurde aber nach einer einjährigen Verletzungspause von den Colts aus seinem gerade erst unterschriebenen 90-Millionen-Dollar-Vertrag entlassen und durch Rookie Luck ersetzt. Manning wechselte zu den Denver Broncos, wo er Fan-Liebling Tim Tebow verdrängte und die Franchise nun wieder in den Super Bowl führen soll. Doch kann Manning den hohen Erwartungen gerecht werden?
Gruden: Das wichtigste zuerst: Peyton ist wieder komplett gesund. Ich habe ihn jetzt eine ganze Weile beobachtet und er ist körperlich wieder top fit. Seine Nackenverletzung ist endlich voll ausgeheilt und er kann sich wieder ohne Schmerzen und Einschränkungen bewegen. Und das ist extrem wichtig. Denn er wird der Dreh- und Angelpunkt in Denvers Offensivspiel sein, vieles - wenn nicht gar alles - hängt von ihm ab. Und was seine Fähigkeiten angeht, da gibt es keinen Zweifel an seiner Klasse.
Dennoch wird seine erste Saison in Denver extrem hart. Denn selbst wenn man bei den Broncos gerade versucht, das Team um ihn herum aufzubauen, muss Peyton noch sehr viele Dinge geregelt bekommen und ist dabei oft auf sich alleine gestellt. Er hat Receiver, die erst noch zeigen müssen, wie gut sie wirklich sind. Dazu ein neues Playbook und ein komplett neues Umfeld. Und als wäre das noch nicht genug, bekommt er gleich zu Beginn der Saison einige echte Brocken vor die Nase gesetzt. Pittsburgh, Atlanta, Houston - und in Week 5 dann die Patriots? Da kann ich mir durchaus einen sanfteren Neustart vorstellen. Das Ziel sind zehn Siege - ich glaube aber, dass diese Saison ein Kampf für Peyton Manning wird. Die Fans müssen ihre hohen Erwartungen vermutlich zurückschrauben und dürfen sich nicht über einen durchwachsenen Start wundern.
Die Krux mit den Ersatz-Schiedsrichtern
Die wegen des Lockouts der eigentlichen Offiziellen im Einsatz befindlichen Ersatz-Schiedsrichter mussten viel Kritik einstecken. Ist diese Kritik berechtigt? Beeinträchtigt die Qualität der Schiedsrichter den Spielablauf? Oder wird sich die Aufregung irgendwann einfach legen?
Gruden: Als ich 2001 Coach der Oakland Raiders war, hatten wir mal eine ähnliche Situation. Da waren auch Aushilfs-Schiedsrichter am Werk - und ich kann durchaus verstehen, warum viele Coaches beunruhigt sind. Es ist nunmal so, dass man sich innerhalb der NFL oft bereits sehr gut kennt. Das gilt auch für Coaches und Referees. Man trifft sich immer wieder, hat mit der Zeit ein gewisses Verhältnis zueinander. Und wenn da plötzlich jemand vor einem steht, den man noch nie gesehen hat, dann ist das ungewohnt. Und natürlich denkt man als Coach ohnehin immer, dass ein Schiedsrichter gegen einen pfeift. Und dieses Gefühl verstärkt sich im Falle der Aushilfs-Referees nur noch mehr.
Natürlich waren nicht alle ihrer Calls einwandfrei. Aber wenn man bedenkt, wo diese Schiedsrichter herkommen (meist aus kleineren College-Divisions), und wie wenig Zeit sie hatten, sich auf die NFL vorzubereiten, dann machen sie einen anständigen Job. Und: Sie werden von Woche zu Woche besser. Es ist eine schwierige Situation mit der niemand wirklich zufrieden ist, das stimmt, aber die Refs machen das Beste daraus.
Wird Football immer gefährlicher?
Der Bounty-Skandal bei den New Orleans Saints, die andauernde Diskussion um die Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen und deren scheinbar vermehrtes Auftreten sowie diverse Regeländerungen, um schwere Verletzungen zu vermeiden: Das Thema Gesundheit stand bei der NFL zuletzt immer wieder ganz oben auf der Themenliste. Aber wird der Sport wirklich gefährlicher?
Gruden: Man kann nicht abstreiten, dass sich das Spiel selbst verändert hat. Die Spieler sind heute viel besser trainiert und daher viel größer und schneller. Das birgt natürlich Gefahren. Trotzdem denke ich nicht, dass Football gefährlicher oder gar gewalttätiger geworden ist. Das Thema bekommt mittlerweile nur deutlich mehr Aufmerksamkeit als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Und das ist auch gut so.
Die Gesundheit der Spieler muss immer an erster Stelle stehen. Es ist extrem wichtig, die Athleten im Falle einer Verletzung richtig zu behandeln, Gehirnerschütterungen frühzeitig zu erkennen und wenn möglich natürlich zu vermeiden. Und ich denke, dass die NFL hier auf einem guten Weg ist. Die Regeländerungen beim Kickoff sind zum Beispiel ein probates Mittel, um die High-Impact-Zusammenstöße von Spielern in vollem Lauf zu vermeiden.
NFL: Der Spielplan 2012/13