Man sah es Harbaugh an, dass er in seinem wohl letzten Duell als Coach der San Francisco 49ers mit seinem Lieblingsrivalen Pete Carroll und dessen Seahawks nochmal alles auf dem Platz gelassen hatte. "Ich bin stolz auf die Jungs. Sie haben wie Champions gekämpft. Wir kämpfen immer weiter, und die Jungs haben das heute gemacht", sagte ein müder, konsternierter Harbaugh. Seine Körpersprache ließ dabei aber tiefer blicken als seine Worte.
In seinen drei Jahren zuvor hatte Harbaugh die 49ers drei Mal ins NFC-Championship-Game geführt, ein Mal gelang der Sprung in den Super Bowl - der große Wurf blieb den Niners aber denkbar knapp verwehrt. In diesem Jahr sollte es endlich klappen, stattdessen verpasst San Francisco zum ersten Mal unter Harbaugh die Playoffs. Längst gilt es als offenes Geheimnis, dass er nach der Saison weg ist. Doch wie konnte es so weit kommen?
Browns-Gerüchte als Vorbote
Anzeichen dafür, dass es eine unharmonische Saison in der Bay Area geben könnte, gab es bereits während des Combines im Februar. Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts Gerüchte auf, wonach die 49ers mit den Cleveland Browns über einen Harbaugh-Trade gesprochen hatten. Verantwortliche dementierten natürlich umgehend, plötzlich schien der 50-Jährige aber angreifbar.
Es sollte nicht die einzige Ablenkung der Offseason bleiben. Im April sorgte Linebacker Aldon Smith für Negativschlagzeilen, als er wegen einer falschen Bombendrohung am Flughafen von L.A. festgenommen wurde und außerdem verbotene Substanzen eingenommen hatte. Die Folge: Er wurde für die ersten neun Spiele der laufenden Saison gesperrt.
Zehn Festnahmen eigener Spieler mussten die Niners nunmehr seit Jahresbeginn 2012, als Harbaugh und Geschäftsführer Trent Baalke schon seit fast einem Jahr das Sagen hatten, erklären - Ligahöchstwert über diese Zeitspanne. Neben der schweren Verletzung von Top-Linebacker NaVorro Bowman aus der vergangenen Saison sowie durch die Free Agency entstandenen Löchern in der Secondary (Abgänge von Safety Donte Whitner und den CBs Carlos Rogers und Tarell Brown) litt die Defense also schon vor dem ersten Snap der Saison.
Harbaughs stures Ego
Doch zurück zu Harbaugh, der noch vor jedem Spieler im Niners-Lager im Fokus steht. San Franciscos Coach, dem seit jeher ein enorm großes Ego nachgesagt wird, tat in der Offseason auffällig wenig dafür, sich in irgendeiner Art und Weise anzupassen. So setzte er etwa während der feierlichen Eröffnungszeremonie des neuen Stadions in Santa Clara ein Rookie-Training an, so dass seine Assistenten und deren Familien nicht anwesend sein konnten.
Harbaugh selbst erschien zu der schicken Feier, bei der auch Commissioner Roger Goodell anwesend war, nicht etwa im Anzug, sondern in seinen Trainingsklamotten und verließ die Veranstaltung nach kurzer Zeit wieder. Der ganze Vorfall sorgte intern für Diskussionen, und war dennoch ein Mikrokosmos von Harbaughs Einstellung: Alles wird dem sportlichen Erfolg nach seinem Rezept untergeordnet und dabei ist es zwangsläufig unvermeidbar, früher oder später anzuecken - was sich nicht nur auf die Offiziellen beziehen sollte.
Das Problem mit der College-Mentalität
Nach dem enttäuschenden Saisonstart mit zwei Siegen und zwei Pleiten dauerte es nicht lange, ehe die Kritik auch aus internen Kreisen folgte. So sickerte Ende September an die Presse durch, dass einige der älteren Spieler mit Harbaugh unzufrieden sein sollen. Der langjährige College-Coach behandele seine Spieler wie Kinder, unter anderem sei es nicht gestattet, im Flugzeug laut Musik zu hören oder Karten zu spielen. Die interne Chemie war offenbar zerstört.
"Er hat uns Männer behandelt, als wären wir noch College-Kids in Stanford", monierte Randy Moss, der 2012 noch in San Francisco gespielt hatte, Anfang Oktober. Die nach wie vor intern gut vernetzte Niners-Legende Jerry Rice legte Anfang November nach: "Ich habe einige Beschwerden von Spielern gehört, dass er eine College-Mentalität habe, die in der NFL nicht funktioniert. Außerdem weiß niemand, ob er in San Francisco bleiben will. Vielleicht hinterlässt das auch nach und nach seine Spuren im Team."
Zunehmend wurde Harbaugs "College-Mentalität", die in den erfolgreichen Jahren zuvor öffentlich noch als Nähe zu den Spielern und positive Energie ausgelegt wurde, als ein wachsendes Problem angesehen. Er hatte sich, so schien es, mit seiner Art am Team schlicht abgenutzt und die Mentalität wirkte auf dem Profi-Level nicht funktional, wenn nicht gleichzeitig auch die Ergebnisse stimmen.
Da diese Stimmen von ehemaligen Spielern kamen sorgten die Berichte für ein enormes mediales Echo. Ex-49er Trent Dilfer berichtete weiter, dass die Atmosphäre im Team fast giftig sei und auch Hall-of-Fame-Cornerback Deion Sanders stimmte zu und berichtete unter Berufung auf eine interne, ranghohe Quelle: "Die Spieler wollen Harbaugh loswerden. Sie sind nicht auf einer Wellenlänge."