"Ein großer Haufen Scheiße"
All das erwischte Harbaugh an einem wunden Punkt. Er, der große Motivator, der sein Team wie kaum ein Zweiter über Jahre hinter sich vereint hatte, der jeden Tag mit einer anderen Gruppe von Spielern frühstückt, um sie besser kennen zu lernen, und der die Niners nach zehn Jahren mehr oder weniger in der Bedeutungslosigkeit wieder zu einem Topteam geformt hatte, sollte sich abgenutzt haben?
"Für mich ist das ein großer Haufen Scheiße", reagierte er, konfrontiert mit den Berichten, entsprechend forsch: "Wenn die Leute draußen einen Keil zwischen uns treiben wollen, stehen wir noch enger zusammen. Ich habe weder Trent, noch Deion in letzter Zeit häufig in unserer Kabine gesehen." Und doch sollen die in dieser Saison so eingehend beleuchteten Risse zwischen Team und Trainer tiefer geworden sein, wenngleich sich seine Profis in den vergangenen Wochen öffentlich immer vor Harbaugh stellten.
2012, als Peyton Manning plötzlich auf dem Markt und Alex Smith noch der Quarterback in San Francisco war, soll Harbaugh mehr als nur daran interessiert gewesen sein, Manning zu holen. Angeblich stellte Smith seinen Coach deshalb zur Rede, doch Harbaugh soll ihm gegenüber nichts verraten haben - und flog dennoch wenige Tage später nach North Carolina, um sich mit Manning zu treffen. Das soll bei den Routiniers im Team, die heute fast alle noch da sind, für die erste große Rote Flagge gesorgt und Misstrauen gesät haben.
Sorgenkind: Offensive
Anfang Oktober wurde es dann aus internen Quellen publik gemacht, dass Harbaugh das Team verlassen würde, selbst wenn die Niners den Titel gewinnen würden. Intern war er längst zu häufig angeeckt und es soll bei den Team-Bossen Diskussionen gegeben haben, ob man nicht einen ähnlich guten Coach ohne das große Ego finden könnte - womöglich sogar im aktuellen Trainerstab.
Zumal Harbaugh, dessen Team sich trotz der personellen Probleme nach wie vor defensiv vor absolut niemandem verstecken muss, offensiv bestenfalls stagnierte.
Das Run Game klappte hinter der ungewohnt schwachen O-Line (4,1 Yards pro Run-Versuch, 115,4 Rushing-Yards pro Spiel - beides Durchschnitt) überhaupt nicht, was San Francisco letztlich offensiv mit das Genick brach. Die jahrelange Basis ihres Spiels um Frank Gore, der mit Rookie Carlos Hyde sogar zusätzliche Hilfe zur Seite gestellt bekommen hatte, konnte die Offensive plötzlich nicht mehr tragen.
Fragezeichen wegen Kaepernick
Außerdem warf die Umwandlung von Quarterback Colin Kaepernick Fragen auf. Kaepernick, der seine besten NFL-Spiele zweifellos aus der Pistol-Formation mit der Read Option in der Hinterhand abgeliefert hat, sollte nach seiner Vertragsverlängerung im Sommer plötzlich zum Pocket-Passer umfunktioniert werden. Intern wurden angeblich Fragen laut, ob sich Harbaugh mit Kaepernicks Umwandlung selbst profilieren wolle.
Dazu kamen offensichtliche Abstimmungsprobleme zwischen Kaep, ohnehin nicht der präziseste Passer, und seinen Receivern sowie über weite Strecken der Komplettausfall von Vernon Davis. Die Offense hatte ihre Identität verloren. "Das System passt nicht zu Colin Kaepernick", meldete sich Jerry Rice kürzlich erneut zu Wort: "Er läuft kaum mit dem Ball, alles ist komprimiert. Sie ziehen die Defense nicht auseinander, um Running-Lanes zu schaffen. Es ist eine ganz andere Offense."
Das Resultat: Lediglich 17,9 Punkte gelingen San Francisco pro Spiel, nur Tennessee, die Jets, Oakland und Jacksonville sind schlechter. Dabei fällt auf, dass es Harbaugh und seinem Trainer-Team nicht gelingt, in der Halbzeit auf die gegnerische Defensive zu reagieren. Lediglich 67 ihrer 251 Punkte gelangen den 49ers in der zweiten Halbzeit. Kaepernick wartet noch, als einziger Starting-QB dieser Saison, auf einen TD-Pass im vierten Viertel, hat gleichzeitig aber im Schlussviertel bislang vier Picks geworfen und 14 Sacks eingesteckt.
Der Umbruch kommt
Wer auch immer das Team ab Januar trainiert, mit der Defense, zumal dann wieder mit einem fitten Bowman sowie den Rookies Chris Borland und Aaron Lynch, steht der Kern. Die Offense dagegen wird einen kleinen Umbruch durchmachen: Gores Vertrag läuft aus, genau wie die von Receiver Michael Crabtree und Guard Mike Iupati. Dass deren Umwandlung noch in Harbaughs Hand liegen wird, glaubt kaum jemand - längst wird er unter anderem in Oakland sowie bei den Miami Dolphins gehandelt.
Am Sonntag betonte er auf Nachfrage: "Ich bin immer dazu bereit, mich mit dem Eigentümer und dem Geschäftsführer zusammenzusetzen. Keine Frage." Er weiß, dass es dabei, obwohl sein Vertrag noch für ein Jahr läuft, um seine Zukunft gehen wird: "Ja. Früher oder später rechne ich damit." Baalke fügte in seiner Radio-Show hinzu: "Wie wir schon mehrfach erklärt haben: Wenn die Saison endet, werden Entscheidungen getroffen werden. Dann wird es Gespräche geben."
Nach der von Pech und Verletzungen geprägten Pleite in Seattle wirkte Harbaugh bereits ausgelaugt und mitgenommen. Man sah ihm die Spuren der letzten Wochen und Monate förmlich an, als er erklärte: "Ich weiß, dass wir aus dem Playoff-Rennen eliminiert sind." Es war eine Art Last Stand der Harbaugh-Ära in San Francisco, deren Ende sich schon seit Monaten ankündigte - und die wohl keine echte Chance auf ein Happy End hatte.
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