Es war einer dieser Momente, die jeder Coach, Spieler und Fan fürchtet. Wir befinden uns kurz vor dem Start der Preseason, im Training der Carolina Panthers. Wide Receiver Kelvin Benjamin läuft eine simple Route, will eine schnelle Bewegung zur Seite machen, da knickt ihm das Bein weg. Ohne Gegnereinwirkung. Benjamin blieb mit sichtlich großen Schmerzen liegen und hielt sich das Knie, wenig später war klar: Kreuzbandriss, Saisonaus.
Kaum ein Team war derart von einem einzelnen Receiver abhängig wie die Panthers von Benjamin. 73 Catches, 1.008 Yards und neun Touchdowns standen in Benjamins Rookie-Saison zu Buche, plötzlich ging Carolina mit einem der, auf dem Papier, schwächsten Receiver-Corps der Liga in die Regular Season.
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Der Blick der Öffentlichkeit richtete sich aber schnell auf eine andere Position - den Quarterback und damit die Frage: Wie würde Cam Newton ohne seinen mit Abstand besten Wide Receiver klar kommen? Würde Cam einen Schritt zurückmachen? Wie weit kann dieses Panthers-Team jetzt überhaupt noch kommen? Mittlerweile dürften sich viele der voreiligen Kritiker verwundert die Augen reiben.
Das Statement von Seattle
Rund zwei Monate nach jener verhängnisvollen Trainingseinheit stand Carolina wieder vor einer schwierigen Aufgabe. Die Panthers lagen in Seattle kurz nach dem Start des Schlussviertels mit 14:23 und wenig später mit 20:23 zurück, die Hawks brauchten den Sieg dringend. Doch der letzte Vorhang war noch nicht gefallen.
Newton führte seine Offense mit mehreren Big Plays von der eigenen 20-Yard-Line tief in die Hälfte der Seahawks, wo er einen Fehler in der Coverage zum 26-Yard-Touchdown-Pass auf Greg Olsen ausnutzte. Es war der Game-Winner, der Carolina zu einem Statement verhalf: Diese Panthers sind widerstandsfähig, giftig und abgezockt. Und vieles davon beginnt mit Newton selbst.
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Über die ersten vier Spiele war Newton für alle (!) Panthers-Touchdowns direkt verantwortlich: Sieben Touchdown-Pässe und zwei TD-Runs ebneten den Weg (zugegeben, gegen schwache Gegner) für den perfekten Start. Newton trifft nach wie vor längst nicht immer die richtige Entscheidung oder wirft immer den perfekten Wurf, zu sehen in der ersten Hälfte gegen die Seahawks. Doch hält er die Fehlerquote dabei niedrig und sein Team im Spiel - all das, während er die Offense zu weiten Teilen im Alleingang trägt.
In Carolinas No-Huddle-Offense gibt Offensive Coordinator Mike Shula Newton vor einem Spielzug die Offensiv-Formation und darauf basierend mehrere Plays durch. Doch davon ausgehend ist es an Newton selbst, die Defense zu lesen, letzte Umstellungen vor dem Snap und Feinjustierungen vorzunehmen. "Wir geben Cam die Gelegenheit, Entscheidungen basierend auf dem, was er sieht, zu treffen", bestätigte Coach Ron Rivera, "und er macht das großartig."
Cams holpriger Start
Newton macht das nicht nur "großartig", er macht das auch hinter einer maximal durchschnittlichen Offensive Line, sowohl was Run Blocking als auch was Pass Protection angeht. Und er macht es nicht nur als unumstrittener Anführer der Offense, sondern auch als einer der klaren Leader innerhalb des ganzen Teams. Keine Selbstverständlichkeit und gerade bei Newton über längere Zeit ein sensibles Thema.
Gegen Ende seiner Rookie-Saison 2011 machte Newtons Körpersprache an der Seitenlinie den Mitspielern bereits Sorgen, so dass ihn die Offensive Linemen Jordan Gross und Ryan Kalil direkt zur Rede stellten. Oftmals saß er alleine auf der Bank, das Handtuch über den Kopf hängend und scheinbar isoliert vom Rest des Teams.
Newton selbst berichtete später positiv von dem Gespräch: "Ich habe die schlechte Tendenz, meine Gefühle im Spiel offen zu zeigen. Das muss ich ändern und ich arbeite daran. Diese Jungs erinnern mich immer wieder daran, dass ich im vierten Viertel der gleiche Leader sein muss wie im ersten Viertel. Du kannst sauer sein und vielleicht ist jeder andere auch sauer. Aber als Quarterback musst du die Contenance wahren." Dennoch dauerte es, ehe Newton die Worte seiner Mitspieler wirklich verinnerlicht hatte.
Ärger von Steve Smith
In der Folgesaison wurde er im Spiel gegen die New York Giants, Carolina lag klar zurück, im vierten Viertel aus dem Spiel genommen. Wieder ließ er seinen Frust sichtbar freien Lauf und setzte sich weit weg vom Rest des Teams, scheinbar schmollend, auf die Bank. Receiver Steve Smith nahm sich seinen Quarterback damals noch an der Seitenlinie zur Brust und erklärte anschließend, dass er sich keine Sorgen um Newtons Leistungen auf dem Platz mache - sondern eher um dessen Entwicklung als Mann und als Leader.
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Es ging so weit, dass sich Newton gegen Ende der 2012er Saison einen Ruf als Diva "erarbeitet" hatte. Berichte, wonach er beim Pro Bowl Autogrammwünsche bewusst ignoriert und Ray Lewis verbal angegangen habe machten die Runde. Bei seiner Combine vor dem Draft hatte Newton bereits erklärt, dass er sich "nicht nur als Football-Spieler, sondern auch als Entertainer und Ikone" sehe - Worte, die ihm jetzt um die Ohren flogen.
Und doch: Fortschritte waren erkennbar. Newton bewahrte auf dem Platz genau wie an der Seitenlinie kontinuierlicher einen kühlen Kopf. Zum Start der 2013er Saison erklärte er auffallend pragmatisch: "Ich spiele eine Position, in der du automatisch ein Leader bist. Ob du das willst oder nicht." Mit dem Wechsel von Smith nach Baltimore 2014 sowie der Entlassung von DeAngelo Williams wurde Newton noch stärker in die Verantwortung gezwungen - und er nahm die Rolle an.
Newton: "Stolz auf meine Leader-Rolle"
"Ich fühle mich immer wohler und bin stolz auf meine Rolle als Leader", erklärte Newton Anfang August und fügte hinzu: "Ich lege dafür keinen Schalter um und bin dann plötzlich "Leader Cam" oder "Spaß Cam"." Wer den mittlerweile 26-Jährigen beobachtet merkt, dass er diese verschiedenen Aufgaben inzwischen vielmehr natürlich ausfüllt. Newton steht in permanentem Austausch mit seinen Receivern, organisiert Offseason-Aktivitäten und -Workouts und nimmt sich selbst als erstes in die Verantwortung.
"Cam spielt gut, aber er leistet auch gute Arbeit was die komplette Vorbereitung angeht. Er macht all das, was es braucht, um eine bestmögliche Ausgangsposition zu haben. Er arbeitet hart und hat einen guten Draht zu den Jungs um ihn herum. Es ist toll, das zu sehen", stellte Carolinas Quarterbacks-Coach Ken Dorsey vor einigen Tagen erst klar.
Auch in der Pocket hat sich Newton weiterentwickelt - gegen Philadelphia Sonntagabend ist das sicherlich nötig. Die Eagles verfügen, wie die Panthers selbst, über eine brandgefährliche Front Seven, die Carolinas O-Line das Leben schwer machen wird. Gegen Philadelphia gilt es für Newton also einmal mehr, trotz schwieriger Umstände zu bestehen und sein Team auf dem Weg in Richtung Playoffs zu halten.
"Es geht darum, dafür zu sorgen, dass er sich nicht wohl fühlt", betonte Eagles-Defensive-End Fletcher Cox: "Wir müssen ihn immer und immer wieder erwischen, auch wenn sie einen Laufspielzug versuchen. Ich denke, das wird für Frust bei ihm sorgen. Und dann machen alle Quarterbacks verrückte Dinge."
Wohin fliegt der Adler?
Doch die Defense ist nicht Philadelphias Sorgenkind - die Offense kränkelt vielmehr. Die Eagles stellen nach wie vor die schwächste Offensive Line was Run Blocking angeht und die Turnover von Quarterback Sam Bradford bleiben ebenfalls ein konstantes Problem. "Wenn ich wüsste woran es liegt, würde ich aufhören, Picks zu werfen. Damit hatte ich bisher in meiner Karriere noch nie wirklich Probleme, also ist das auch neu für mich. Aber wir werden das reparieren, ich werde das reparieren", versprach der 27-Jährige unter der Woche.
Der Sonntagabend, nachdem Philly gerade am vergangenen Wochenende mit dem Sieg über die Giants die Tabellenführung in der NFC East übernommen hat, würde sich für die notwendige Reparatur anbieten - mit Josh Norman wartet einer der besten Cornerbacks der bisherigen Saison auf Bradford. Wie sein Receiver-Corps in Carolina aber aussehen wird, ist noch unklar: Nelson Agholor und Riley Cooper fallen wohl erneut aus, defensiv fehlt Linebacker Kiko Alonso mutmaßlich noch für mindestens ein Spiel.
Auch Linebacker-Kollege DeMeco Ryans (Oberschenkel) ist angeschlagen. Mychal Kendricks dagegen könnte nach Verletzungspause zurückkehren und Coach Chip Kelly weiß, wie wichtig seine Linebacker gegen Newton sein werden - denn die Entwicklung des einstigen Nummer-1-Draftpicks ist auch Kelly nicht verborgen geblieben: "Er ist ein kompletter Quarterback und auch brandgefährlich, wenn er mit dem Ball läuft. Das ist das Besorgniserregende."