NFL: Die Offense der New England Patriots analysiert: Wie eine Schachtel Pralinen

Von Adrian Franke
31. Januar 201808:11
Die Offense der New England Patriots besticht durch ihre Vielseitigkeit - und ein komplexes Systemgetty
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Vor dem Super-Bowl-Kracher zwischen den New England Patriots und den Atlanta Falcons (Montag, 0.30 Uhr live auf DAZN) dominiert das Matchup der Falcons-Offense gegen die Pats-Defense die Schlagzeilen. New Englands Offensivabteilung fliegt im Vergleich dazu fast ein wenig unter dem Radar - dabei sind Tom Brady, Julian Edelman und Co. ebenfalls brandheiß. Wieder einmal. Doch woher kommt die schematische Dominanz der Patriots-Offense, in der Brady scheinbar jeden zum Star-Receiver machen kann?

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So ziemlich jeder kennt den Film "Forrest Gump" - und vermutlich noch mehr kennen das berühmteste Zitat daraus: "Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen - man weiß nie, was man bekommt."

Dieser simple Satz hat einen unbestreitbaren Wahrheitsgehalt. Und er ist übertragbar. Das dachte sich auch Martellus Bennett, seit dieser Saison Tight End der Patriots, als er Anfang Oktober erklärte: "Unser Game Plan ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt."

Seitdem ist zumindest eine Praline, und eine exquisite noch dazu, nicht mehr in der Schachtel: Die Verletzung von Rob Gronkowski sorgte zunächst für offene Fragen, der Tight End ist das fleischgewordene individuelle Mismatch in New Englands Offensive. Bradys reine Zahlen gingen seither tatsächlich auch ein wenig nach unten - doch der Effekt auf die gesamte Offense war mehr als überschaubar.

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Und das ist nicht zufällig so: Die Patriots sind seit Jahren das beste Team in der NFL, wenn es darum geht, sich mit möglichst wenig Qualitätsverlust an äußere Umstände anzupassen. Das wird vor allem offensiv immer wieder deutlich, wenn Brady einen weiteren Receiver scheinbar über Nacht zum X-Faktor macht - zu sehen zuletzt im Championship Game mit Chris Hogan. Neben Bradys Klasse liegen die Ursachen darin in einem seit Jahren ausgeübten und verfeinerten Scheme, für das der Rest der Liga nach wie vor Antworten sucht.

"Ein Hybrid aus allen Systemen"

"Ich habe in vielen verschiedenen Offenses gespielt. Das System der Patriots ist ein Hybrid aus all diesen Systemen", verriet Brian Hoyer, von 2009 bis 2011 in New England und in dieser Saison Teilzeit-Quarterback der Bears, bereits vor einem Jahr. "Es ist sehr komplex, aber wenn man Spieler hat, die es gut ausführen können, ist es das beste System. Und wenn man dann noch in dieser Offense den besten Quarterback aller Zeiten hat? Naja ..."

Optionen über Optionen:

Wer sich mit dem Offense-Getriebe der Patriots beschäftigt, stolpert schnell regelmäßig über die gleichen Schlagwörter: Option Routes, Choice Routes, Alert-System - was auch direkt einen der beiden zentralen Aspekte in New Englands Offensive abdeckt. Denn ein maßgeblicher Unterschied zwischen der Patriots-Offense und den allermeisten anderen NFL-Offenses ist die Möglichkeit, vor dem Snap und während des Spielzugs als Team auf das Verhalten der Defense zu reagieren.

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So hat der Receiver bei einer Choice Route etwa meist die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Verteidigt sein Gegenspieler eher nach innen, läuft er seine Route nach außen und umgekehrt. Bei einer Option Route liest er die Defense, und reagiert, je nachdem ob es eine Zone- oder eine Man-Coverage ist. So könnte er dem Quarterback gegen eine Zone-Coverage etwa den kurzen Pass anbieten, gegen eine Man-Coverage dann je nach Gegenspieler und Formation der Defense nach links oder rechts ziehen.

All das muss in Sekundenbruchteilen erkannt und verarbeitet werden, und dabei müssen der Quarterback und der Receiver die Defense jeweils richtig und somit auch übereinstimmend lesen. Passiert das nicht, gibt es mitunter gravierende Missverständnisse und Fehler. Zu sehen in dieser Saison mehrfach bei den Houston Texans, die ebenfalls auf ihre Variation der Patriots-Offense setzen, zwischen Brock Osweiler und DeAndre Hopkins.

"Was man von anderen Spielern hört, die von anderen Teams kommen, ist, dass die Offense irgendwie anders ist, beispielsweise von der Terminologie her. Dazu kommen die Option Routes. Dafür müssen Receiver und Quarterback voll auf der gleichen Wellenlänge sein", erklärte auch Patriots-Tackle Sebastian Vollmer bereits im November gegenüber SPOX. "Das kann kompliziert sein und das kann auch ein wenig Zeit sowie gemeinsames Training brauchen."

Der Quarterback muss dabei nicht nur während des Spielzugs das Verhalten der Defense schnell erkennen, und in den richtigen Spielzug ummünzen - die Patriots gehen häufig mit zwei verschiedenen angesagten Spielzügen aus dem Huddle. Je nachdem, wie sich die Defense dann aufstellt, kann Brady durch ein Wort seine komplette Offense den entsprechend anderen Spielzug ausführen lassen. Das ist das Alert-System, das sind die Kernstücke der Patriots-Offense.

Das Erhardt-Perkins-System:

New Englands Offensive ist so mental fast anspruchsvoller als physisch und kann jederzeit in alle Richtungen weiterentwickelt werden. Seine Wurzeln allerdings hat das System in den 1970er Jahren. Unter dem defensiv geprägten Head Coach Chuck Fairbanks durften die Offensiv-Coaches Ron Erhardt und Ray Perkins ihr eigenes System entwickeln. Ihr Ziel: Ein Quarterback-freundliches Scheme, das auf einem starken Running Game basiert.

Der letzte Aspekt ist heute so nicht mehr gegeben, andere zentrale Elemente aber bestehen nach wie vor: Die gleichen Passspielzüge können aus diversen Gruppen ausgeführt werden - egal, ob ein Running Back, Receiver oder Tight End den Slot besetzt, oder welcher Receiver den Outside-Posten einnimmt. Auch dadurch sieht New Englands Offense manchmal so komplex und vielschichtig für eine Defense aus.

"Ich sehe es nicht als Neuerfindung einer Offense", brachte es Perkins einst auf den Punkt. "Es waren mehrere Coaches, die spät am Abend zusammen saßen, und etwas ausgetüftelt haben, um Spielern dabei zu helfen, erfolgreich zu sein." Und so gibt es weitere maßgebliche Unterschiede gegenüber anderen Offense-Grundsystemen, wie etwa der West Coast Offense. Das Erhardt-Perkins-System baut nicht auf den klassischen Route Tree, bei dem jeder mögliche Laufweg eines Receivers eine Zahl bekommt.

Stattdessen gilt jeder Spielzug als eigenes Konzept und hat einen eigenen Namen, kann aber eben aus diversen Aufstellungen gespielt werden. "Im Prinzip hast du immer wieder den gleichen Spielzug", führte Perkins weiter aus, "du hübschst ihn einfach ein wenig auf, damit er anders aussieht."

Das kann man sich vereinfacht so vorstellen: Jede Position (Slot Receiver, Outside Receiver und so weiter) hat - unabhängig davon, welcher Spieler diese Position gerade besetzt - für ein bestimmtes Konzept eine Route. Ein klassischer Play-Call von Brady kann also aus zwei Worten bestehen: Das eine Wort erklärt den Receivern auf der linken Seite ein Konzept, das andere denen auf der rechten Seite. Das gibt der Offense eine enorme Vielfalt und die Möglichkeit, jederzeit auf jede Defense zu reagieren - zumal jeder Receiver dann innerhalb des Spielzugs noch über Option und Choice Routes verschiedene Möglichkeiten hat.

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In Perfektion auf den Rasen gebracht, kann die Kombination aus Spiel-Konzepten und Änderungen während des Plays jede Defense in schlechte Matchups zwingen sowie schlicht überfordern. Das war im AFC Championship Game mehrfach zu sehen, als die junge Steelers-Secondary mehr als einmal Receiver scheinbar vergaß. Die Vielfalt aus einer extremen No-Huddle-Offense war zu viel für ein passiv agierendes Steelers-Team, ein Schicksal, das womöglich auch der jungen Falcons-Defense droht.

Auf Tape fällt immer wieder auf, wie häufig New England aus sehr ähnlichen oder sogar den gleichen Formationen heraus agiert, um dann jedoch verschiedene Spielzüge auszuüben. Ein Beispiel hierfür ist der "Hoss F-Juke"-Spielzug, ein Konzept, das New England gegen Pittsburgh extrem häufig anwandte.

NFL-Analyst Ted Nguyen hat es mit Blick auf das Steelers-Spiel ausführlicher analysiert, zusammengefasst: "Hoss" ist ein Konzept für zwei Receiver, von denen der Outside-Receiver entweder eine Comeback-Route oder eine Route nach außen und der Inside-Receiver eine Seam-Route über die Mitte läuft. "F-Juke" bedeutet, dass der Slot-Receiver eine Option Route läuft. Je nach Coverage zieht er nach links oder nach rechts.

Dieses Konzept oder zumindest einzelne Elemente daraus nutzte New England gegen Pittsburgh mehrfach, und als die Steelers etwa ihre Coverage stärker auf den mehrfach komplett freien Hogan fokussierten, reichten kleine Umstellungen aufseiten der Pats, um beispielsweise auf der anderen Seite des Feldes einen freien Receiver über das Scheme zu kreieren.

Viele Waffen, neue Muster

New England ist dabei enorm erfolgreich aus 3-Receiver-Sets: Mit drei Wide Receivern auf dem Platz führten die Patriots die NFL in Yards pro Passversuch klar an (8,3 Yards). Kein anderes Team ist aus dieser Aufstellung heraus effizienter. Gleichzeitig bringt New England auch stets neue Elemente ins Spiel. Gegen Pittsburgh etwa agierten die Pats 19 Mal aus 10-Personnel (ein Running Back, vier Receiver) heraus - in der gesamten Saison bis dahin hatte es diese Aufstellung bei New England ganze zehn Mal gegeben.

Die personelle Vielfalt:

Ermöglicht werden solche auf den Gegner abgestimmten Umstellungen durch die personelle Vielfalt. Die Pats haben mit LeGarrette Blount einen Hammer zwischen den Tackles, scheuen sich aber auch nicht, Dion Lewis hier aufzubieten. Beide - bevorzugt natürlich Lewis - stellen sich aber auch als Receiver auf, wo RB-Kollege James White hauptsächlich zu finden ist.

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Edelman und Hogan sind extrem gut darin, die Defense richtig zu lesen und Lücken zu finden: Edelman gelangen in dieser Saison 486 Yards nach dem Catch (vierter Platz ligaweit), darüber hinaus führte er die Pats in Targets (49), Catches (28), Yards (431) und First Downs (25) bei Third Down an. Hogan verzeichnete 20,9 Yards pro Catch, wenn fünf Receiver fünf oder mehr Defensive Backs gegenüber standen - also bei auf beiden Seiten offensichtlichen Passing Downs.

Dazu kommen physischere, insbesondere auch in der Red Zone wichtigere Ziele, wie Martellus Bennett oder der kurz vor den Playoffs verpflichtete Michael Floyd. "Es ist toll, es macht die Vorbereitung für den Gegner so viel schwieriger", schwärmte jüngst auch Backup-Quarterback Jimmy Garoppolo, der die Saison in Abwesenheit des gesperrten Brady als Starter beginnen durfte. "Man weiß nie, welcher Back, welcher Receiver, welcher Tight End als nächstes aufgestellt wird. Es ist ein angenehmes Gefühl für einen Quarterback."

In der Folge funktioniert New Englands Offensiv-Scheme selbst für Patriots-Verhältnisse extrem gut, New England kann mit diesem Personal verschiedene Spieler effektiv auf verschiedenen Positionen aufstellen. Und durch das Zusammenspiel der Route-Kombinationen wird Atlantas junge Defense Probleme bekommen, vor allem wenn es darum geht, Spieler in der Zone Coverage von einem Verteidiger zum anderen zu übernehmen und zu übergeben.

Run Game und die O-Line:

Von Selbstzufriedenheit ist allerdings, ganz Patriots-typisch, keine Spur. "Wir hätten gerne den Ball noch besser gelaufen", erklärte Head Coach Bill Belichick etwa nach dem Sieg über Pittsburgh. Tatsächlich standen nur 57 Rushing-Yards bei 2,1 Yards pro Run zu Buche - in der Regular Season hatte New England noch die ligaweit drittmeisten Rushing-Versuche pro Spiel (30,1) sowie 19 Rushing-Touchdowns.

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Mit ihrem Power Run Game könnten die Pats auch Atlantas zwar schnellem, aber physisch schlagbaren Linebacker-Corps Probleme bereiten. Atlantas Defense hat sich zwar gesteigert, ließ aber in der Regular Season dennoch die sechstmeisten Yards pro Run (4,5) zu.

Und auch Atlantas Pass-Rush gehört nicht zu den gefährlicheren der Liga. Im Championship Game gegen die Packers blitzten die Falcons überraschend viel, eigentlich ist es eine Defense, die kaum auf Blitzes setzt. Gegen New England ein Drahtseilakt, denn auch in der Offensive Line sind die Patriots deutlich verbessert.

Während die Patriots im Vorjahres-Championship-Game in Denver noch vier Sacks, 16 QB-Hits und Druck bei 45 Prozent von Bradys Dropbacks zuließen, ist die Offensive Line vor allem außen mit zwei starken Tackles deutlich stabiler. "Ein Segen für unser Team", freute sich auch Brady selbst. "Letztes Jahr war da wirklich eine Herausforderung. Wir hatten einige schwerwiegende Verletzungen und mussten viel umstellen. In dieser Saison hatten wir viel Stabilität. Das hilft jeder Offensive Line."

Zusammenfassung

  • New Englands Offensiv-Scheme ist grundsätzlich einfach, in der Ausführung aber äußerst komplex. Doch Receiver, Tight Ends und Running Backs verfügen über die nötige Vielfalt und die Spielintelligenz, um die Offense teilweise perfekt auf den Rasen zu bringen. Das erlaubt es den Pats, vor dem Snap aber auch in Sekundenbruchteilen während eines Plays auf den Gegner zu reagieren - ein wesentlicher Grund dafür, dass nicht selten Receiver komplett frei sind und Brady so häufig offene Passwege sieht.
  • Mit der schnellen No-Huddle-Offense, Route-Kombinationen über die Mitte und den vielfältigen Möglichkeiten dieser Offensive wird New England die junge Falcons-Defense enorm herausfordern. Kommunikations- und Abstimmungsfehler, wie schon in der ebenfalls jungen Steelers-Secondary, wären keine Überraschung.
  • Ebenfalls wenig überraschend wäre es, wenn die Patriots zumindest phasenweise in die gegensätzliche Richtung gehen, und Atlantas schnelle, aber nicht allzu physische Inside Linebacker mit LeGarrette Blount und Double-Team-Blocks attackiert.
  • Die größte Schwäche, die New England offensiv in dieser Saison gezeigt hat, gab es in der Divisional-Runde gegen Houston zu sehen: Die Texans ließen ihre Outside-Pass-Rusher die schwächere Mitte der Pats-O-Line attackieren, und das mit Erfolg: Die beiden Guards und der Center ließen in diesem Spiel zusammengerechnet vier Pressures, zwei Hits und zwei Sacks zu.
  • Auf der anderen Seite ein möglicher Vorteil: Die Pats haben bereits vor zwei Jahren im Super Bowl gegen die Defense von Falcons-Coach Dan Quinn (damals noch Defensive Coordinator der Seahawks) gespielt - einige Elemente daraus sind auch jetzt klarer Bestandteil in Atlanta.

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