Die Diskrepanz der Qualität zwischen den beiden Mannschaftsteilen Offense und Defense ist wohl nirgendwo in der NFL größer als in Denver: Bei der größten Problemstelle, der Quarterback-Position, wurde zwar ein Machtwort gesprochen - allerdings noch lange keine Lösung gefunden. Während all dem hat ein Deutscher die große Chance, sich einen Namen in einer der besten Defensiven der Liga zu machen.
Trevor Siemian ist der Starting-Quarterback der Denver Broncos 2017. Soviel ist seit Montagabend bekannt. Damit entscheidet sich die Franchise für den Siebtrundenpick des 2015er-Draftjahrgangs - und gegen den Erstrundenpick des 2016er-Jahrgangs. Erneut.
Ein Grund dafür ist die Erfahrung, Siemian startete schon in der vergangenen Saison in 14 Spielen. Ein weiterer Grund ist die bisherige Saisonvorbereitung inklusive der Preseason. "Gemessen an dem, was wir von den Jungs verlangt haben, hat Trevor die konstanteren Leistungen abgerufen", erklärte Head Coach Vance Joseph.
Der Grund ist vor allem aber Siemians direkter Konkurrent selbst: Paxton Lynch.
Lynch bleibt weit hinter den Erwartungen
Der 23-Jährige ließ den Coaches nach der Vorbereitung gar keine andere Wahl, als sich gegen ihn zu entscheiden. Und die Entwicklung des 26. Picks des 2016er-Drafts, auch wenn er abermals eine neue Offense lernen muss - auf Siemian trifft immerhin das Gleiche zu - dürfte in Mile High für einige enttäuschte Mienen gesorgt haben.
Gerade das jüngste Preseason-Spiel gegen die San Francisco 49ers war für Lynch die Chance, sich zu empfehlen. Die Coaches versuchten, ihn über eine Vielzahl von kurzen Pässen Selbstbewusstsein aufbauen zu lassen. Doch es sollte nichts helfen.
Die neu-strukturierte Niners-Defense hielt Lynch in 14 Dropbacks bei 32 Yards. Nur zwei seiner neun Completions hatten einen Ertrag von über fünf Yards. Mängel im Timing, dem Erkennen von freien Receivern und der Antizipation von Blitzes haben in Denver für ähnlich viele Fragezeichen über die Hoffnung auf ihren Franchise-Quarterback gesorgt, wie seine persönliche Einschätzung zur Leistung nach dem Spiel: "Ich denke, ich habe mich ganz gut angestellt."
Funktioniert Win-Now auch mit Quarterback-Fragen?
Einen dürfte das Szenario ganz besonders ärgern: Broncos-Geschäftsführer John Elway persönlich war es schließlich, der sich im Draft klar für Lynch ausgesprochen hatte. Nach einem Jahr der Anpassung an das Pro-Level sollte der über zwei Meter große Texaner gerade die ersten Schritte als Starter und Anführer einer Offense machen, welche die letzten beiden Jahre auf Position 29 und 22 in der Kategorie Quarterback-Efficiency abgeschlossen hatte.
Stattdessen verliert Lynch zum zweiten Mal in Folge das Preseason-Duell gegen einen einstigen Siebtrundenpick, der insgesamt schlicht ruhiger und konstanter wirkt. Die "Win-now"-Broncos legen das Zepter, zumindest für den Moment, also erneut in die Hände des Starting-Quarterbacks mit dem geringsten Cap-Hit (2017: 628.000 Dollar) der Liga. Dem Quarterback, dem sie bereits letztes Jahr ihr Vertrauen ausgesprochen haben.
Dabei, und das verdeutlicht die Diskrepanz zwischen den beiden Mannschaftsteilen, muss der Quarterback in Denver gar keine Wundertaten vollbringen. In einem Team, das mit Von Miller, Aqib Talib, Chris Harris Jr., Darian Stewart, T.J. Ward und Derek Wolfe auf der anderen Seite des Balles eine elitäre Rolle einnimmt, stellt sich die Frage: Wie gut muss die Offense sein, damit die Broncos wieder erfolgreich sind?
Offense stoppt Broncos vor Playoffs 2016
Ganz ähnliche Voraussetzungen gab es bereits in der letzten Spielzeit. Während Denvers Defense zum Großteil dieselbe war, die noch im Februar den Super Bowl gewonnen hatte und das auch 2016 laut der DVOA-Metrik als die beste Defense der NFL bestätigten konnte, war es Siemians Aufgabe, offensiv lediglich möglichst wenige Fehler zu machen.
Das Touchdown-Interception-Verhältnis stand bei 18:10, die Completion-Percentage bei 60 Prozent und das Quarterback-Rating bei 55,8. Die Offense war schlecht bei Third Downs, lieferte zu wenige Plays über 20 Yards und produzierte kaum Drives, die länger als fünf Minuten dauerten - in diesen Kategorien war man unter den schlechtesten fünf Teams der Liga. Hier wird klar, wie stark die Gruppe von Defensive-Coordinator Wade Phillips war, um Denver in einer der stärksten Divisions bis zum Schluss im Playoff-Rennen zu halten.
Es scheint fast, als ob Siemian in einem Super-Bowl-Kaliber-Team erneut nur durchschnittliche Leistungen abrufen muss. Denvers Mannschaft ist vor allem defensiv schlichtweg so stark besetzt.
Oder doch nicht? Wie viel Durchschnitt auf der Quarterback-Position kann eine Elite-Defense auf der anderen Seite tatsächlich kompensieren?
Elways Coaching-Decisions sorgen für Überraschung
In der Offseason musste John Elway mehrere personelle Änderungen in seinem Coaching-Staff vornehmen. Head Coach Gary Kubiak wurde - etwas überraschend - durch bereits erwähnten ehemaligen Dolphins-Defensive Coordinator Joseph ersetzt. Überraschend deshalb, weil sich Teams bei der Head-Coach-Suche nicht selten eher darauf konzentrieren, die schwächere Hälfte des Teams zu verbessern.
Defensive Coordinator Wade Phillips wanderte hingegen in Richtung Los Angeles ab und wurde von Elway durch den letztjährigen Defensive-Backs-Coach Joe Woods ersetzt. Dabei war bereits klar, dass Woods am System nichts ändern würde, hatte er mit Phillips doch bereits in Houston zusammengearbeitet. Personell hingegen gab es doch ein wenig Handlungsbedarf. Wenn auch unfreiwillig.
Denn nach dem Rücktritt von DeMarcus Ware war die Nachfolgerolle eigentlich bereits klar an den aufstrebenden Shane Ray vergeben. Ray fällt allerdings aufgrund eines Bänderrisses im Handgelenk noch wochenlang aus. Auch Shaq Barrett hat aufgrund von Hüftbeschwerden große Teile der Vorbereitung verpasst, wenngleich er infolge seiner Reaktivierung in den aktiven Kader am Dienstag zumindest noch auf Week 1 hoffen darf.
Von Miller: Kasim Edebali "war großartig"
All das ist die Riesengelegenheit für einen aus deutscher Sicht sehr interessanten Mann. Es ist die Gelegenheit für Kasim Edebali, sich in der Rolle gegenüber von Von Miller für weitere Aufgaben zu empfehlen. Und dieser hat offenbar bereits gute Eindrücke vom Hamburger Linebacker sammeln können: "Er war großartig", so der All-Pro über das Training Camp Edebalis.
Die Broncos hatten Edebali im März unter Vertrag genommen, nachdem dieser in jedem der 48 aufeinanderfolgenden Spiele zum Einsatz kam, seit er 2014 als Undrafted Free Agent bei den New Orleans Saints anheuerte. Trotz seiner acht Sacks und 53 Tackles in dieser Zeit verzichteten die Saints auf ihn. Denver sicherte sich seine Dienste für 1,2 Millionen Dollar - eine Investition, die bereits Früchte zu tragen scheint:
"Er spielt sehr konstant", beschreibt Coach Joseph seinen neuen Linebacker. "Er spielt hart und ist natürlich ein sehr guter Rusher. Darum haben wir ihn verpflichtet. Seit den Verletzungen von Shane und Shaq wirkt er noch engagierter."
"Jeder kennt die Broncos Defense", sagt Edebali selbst. "Wenn du einmal hier bist, dann geht es richtig zur Sache. Ich habe mich sehr darüber gefreut, ein Teil davon zu sein." Ein gutes Training Camp und ein bleibender Eindruck in den nächsten zwei Preseason-Spielen werden für Edebalis Versuch, langfristig ein Teil der 3-4-Front zu werden, maßgeblich ausschlaggebend sein.
Denvers O-Line saniert - Charles bereit
Und sonst? Die Broncos haben ihre löchrige Offensive Line aus der abgelaufenen Spielzeit runderneuert. Wie Coach Joseph jüngst erklärte, hat der 2017er Erstrundenpick Garrett Bolles wenig überraschend den Job als Starting-Left-Tackle gewonnen.
Die Free Agents Ron Leary (Right Guard) und Menelik Watson (Right Tackle) haben ihren Platz in der Line ebenfalls so gut wie sicher. Auf Center wird Denver mit Matt Paradis auflaufen, der am Samstag gegen die Green Bay Packers erstmals in dieser Saison Preseason-Snaps spielen wird und in der Vorsaison überzeugte.
Das einzige Fragezeichen der Line bleibt die Left-Guard-Position. Hier streiten sich Max Garcia und Allen Barbe, welcher via Trade aus Philadelphia gekommen ist. "Die beiden werden sich die Spielzeit in der ersten Halbzeit teilen", kündigte Joseph an.
Auch Veteran Jamaal Charles, der nach eigenen Angaben wieder bei voller Stärke ist, "wird eine Menge Spielzeit erhalten". Auf Running Back stehen in Denver allerdings harte Entscheidungen an: Neben Charles stehen derzeit auch C.J. Anderson, Devontae Booker, der beeindruckende Rookie De'Angelo Henderson und die Veteranen Stevan Ridley und Juwan Thompson in Lauerstellung. Bernard Pierce hingegen wurde bereits am Montag entlassen und durch Stanley Williams ersetzt.
Alle Augen auf Trevor Siemian
In der vielleicht besten Division der NFL muss Denver allerdings in erster Linie auf einen weiteren Entwicklungsschritt von Trevor Siemian hoffen. Das weiß auch Coach Joseph: "Wir haben zwei Receiver mit All-Pro-Format. Wir haben die Probleme der Offensive Line repariert. Jetzt brauchen wir einen Quarterback, der kontinuierlich auf hohem Level spielt."
Kann Siemian nicht der Quarterback sein, der eben auf kontinuierlich gutem Niveau spielt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass die Defense um Von Miller und Co. - deren größtes Fragezeichen die Run-Defense bleibt - erneut auf Football im Januar verzichten muss.
Denver würde sich dann dieselben Fragen wie in diesem Frühling stellen - und den Draft womöglich unter ganz anderen Gesichtspunkten angehen, als noch die diesjährige Ausgabe.