SPOX: Sie haben in Ihrer Karriere Offense und Defense trainiert und waren auf beiden Seiten des Balls für das Play-Calling verantwortlich. Wie sieht das defensiv aus? Wie entscheidet man die ganz simplen Dinge, also etwa wann man blitzt, wann man Man oder Zone Coverage spielt und dergleichen? Geht es nur um den Spielfluss? Um Down und Entfernung zum neuen First Down?
Reinebold: Das ist immer eine Kombination aus vielen Faktoren. Liegen wir vorne oder zurück? Wie viel Zeit ist noch auf der Uhr? Wie groß ist der Punkte-Abstand zwischen beiden Teams? All das und noch viel mehr beeinflusst dein Play-Calling. Dann muss man auch auf die Details schauen. Ein weiteres Beispiel: Dein Cornerback ist gerade beim Punt 60 Yards das Feld runter gerannt, um den Return zu stoppen. Direkt beim ersten Spielzug danach ist er in Man Coverage und sein Gegenspieler läuft eine tiefe Post Route, doch der Pass kommt nicht an. Also läuft der Cornerback zurück an die Line of Scrimmage. In diesem Szenario ist es unwahrscheinlich, dass du als Coach erneut Man Coverage ansagst - ganz einfach weil dieser Cornerback in diesem Moment ziemlich ausgepowert ist.
SPOX: Da kann es dann auch schnell mal kompliziert werden, was das Play-Calling angeht ...
Reinebold: Ja, diese Dinge muss man immer im Blick haben, genau wie Verletzungen. Ich erinnere mich noch an ein Spiel in der NFL Europe, als wir stark limitierte Kadergrößen hatten. Es war eines dieser verrückten Spiele, in dem ich insgesamt fünf Defensive Backs verloren habe. Einer unserer Linebacker musste schließlich als Cornerback aushelfen. Was also haben wir gemacht? Wir haben viel Cover 2 spielen und ihn die Flat (ein kurzer Laufweg in Richtung der Seitenlinie, d. Red.) decken lassen, damit er nicht einen Wide Receiver über das ganze Feld verfolgen muss. Man muss flexibel sein und darf nicht einfach stur den im Training einstudierten Plan verfolgen. Man muss sich anpassen können.
SPOX: Wie flexibel ist man auf der defensiven Seite des Balls? Wie viele Plays hat man im Spiel parat? Werden sie analog zu den Offense-Plays auch in unterschiedliche Kategorien unterteilt?
Reinebold: Grundsätzlich ist es defensiv der gleiche Prozess. Man hat seine First-and-Ten-Calls, wir hatten in Kanada etwa immer ein Zone- und ein Man-Play bereit, genau wie einen Pressure- und einen All-Out-Pressure-Call. Darin im Detail gab es all die situationsbedingten Plays, also etwa für Two-Minute-Drives und solche Sachen. Wir haben das so unterteilt: "First and Ten", "Second und drei oder weniger Yards zum First Down", "Second und 3-7", "Second und 7-11" und "Second and Long". (In der CFL wird mit drei, nicht mit vier Downs gespielt, Anm. d. Red.). Dabei habe ich mir von Coach Trestman und der West-Coast-Idee etwas für die Defense abgeschaut und einige Situationen vorher geskriptet.
SPOX: Wie muss man sich das vorstellen?
Reinebold: Wir sagten uns bespielsweise vorher, dass wir beim ersten Second-and-long-Versuch "Nickel 2 Men" spielen. In meinen Augen war das wirklich hilfreich, denn wenn wir den Game Plan zusammenstellten wussten die Spieler, was sie in puncto Play-Calling erwartet. Ich habe etwa drei oder vier Calls pro Situationen so geskriptet. Dabei muss man natürlich aufpassen, dass man einen richtigen Mix findet, um nicht für die Offense ausrechenbar zu werden.
SPOX: Play-Scripting für die Defense ist aber eigentlich eher ungewöhnlich, oder?
Reinebold: Das ist es, ja. Ich erhielt den Impuls, als ich unter Marc Trestman arbeitete und unser Linebacker-Coach, der zuvor schon mit Mike Martz in St. Louis, mit Lovie Smith in Chicago und mit Leslie Frazier in Minnesota gearbeitet hat, sagte, dass wir das defensiv ebenfalls machen sollten. Ich hatte vorher nie wirklich darüber nachgedacht, aber wir haben es ausprobiert und es hat uns sehr geholfen.
SPOX: Ist das heute verbreitet? Nutzen viele Defensive Coordinators Play-Scripting?
Reinebold: Ich glaube, dass zunehmend mehr Coaches damit anfangen. Aber gleichzeitig denke ich - und das ist nur schlicht meine Meinung - dass Coaches in der Defensive etwas mehr auf ihr Gefühl bauen als die Offensiv-Coaches. Natürlich braucht jeder gute Play-Caller das Gefühl für den Spielfluss, das kommt nur mit der Zeit. Als ich für June Jones arbeitete, konnte er an der Seitenlinie stehen - übrigens der schlechteste Platz, um sich einen guten Überblick zu verschaffen - und nach einem Spielzug genau sagen, was alle 22 Spieler auf dem Platz gerade gemacht haben. Das war unglaublich, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Aber das kam eben mit jahrelanger Erfahrung, erst selbst als Spieler und dann nach tausenden Play-Calls an der Seitenlinie.
SPOX: Dabei kann es selbstverständlich auch bei den besten und erfahrensten Coaches mal schiefgehen. Wie reagiert man, wenn mitten im Spiel Probleme auftreten?
Reinebold: Dazu kann ich eine Geschichte erzählen. Ich habe vor einer Weile mal USC (University of Southern California, d. Red.) besucht und mich dort mit dem Offensive Coordinator getroffen. Er hatte eine Tabelle an der Wand hängen, darauf standen alle Plays der Offense. Dabei hob er die hervor, die er während der Woche nutzen wollte, mit einer kleinen Zahl daneben hervor: Die drückte aus, wie häufig der jeweilige Spielzug im Training durchgeführt worden war. Ich habe ihn gefragt, warum er das macht, und er erklärte mir: "Falls es im Spiel nicht wirklich gut läuft, will ich sicherstellen, dass ich zu den Plays zurückgehen kann, die unsere Jungs unter der Woche am häufigsten einstudiert haben. Ich will nicht einfach zufällig Plays auswählen und hoffen."
SPOX: Aber es geht doch auch darum, im Training die richtige Mischung aus Wiederholung einzelner Plays und dem Einstudieren neuer Plays zu finden, oder? Andernfalls läuft man Gefahr, ausrechenbar beziehungsweise limitiert zu werden ...
Reinebold: Ich will es mal so sagen: Verschiedene Wege führen zum Ziel. Wenn man sich beispielsweise ein Run-and-Shoot-Team (eine Offensiv-Philosophie, in der meist vier Receiver Routes laufen, die sie während des Plays an die Aktionen der Defense nahezu frei anpassen können, d. Red.) anschaut: Ich hatte das Glück, mit zwei der besten Run-and-Shoot-Coaches aller Zeiten zusammen zu arbeiten: Mouse Davis, der sie mehr oder weniger erfunden hat, und June Jones, der sie perfektioniert hat. Innerhalb dieser Offense gibt es wirklich sehr, sehr wenige Plays.
SPOX: Und "sehr wenige" heißt ...?
Reinebold: Wir sprechen von weniger als zehn Pass-Routes und vielleicht vier oder fünf Run Plays. Aber darauf bauten so viele Anpassungen und Abwandlungen während des Plays auf, dass das Geheimnis zum Erfolg hier klar war: Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Nur so konnten die Spieler auf dem Platz ihre Routes richtig anpassen und haben die Dinge gleich gelesen.
SPOX: Was ist die Alternative?
Reinebold: Es gibt auch eine andere Denkweise, in der man vereinfacht gesagt versucht, sich im Vorfeld genau zurecht zu legen, wie man konkret auf eine Defense reagiert. Davon war ich allerdings noch nie ein großer Fan, denn das zwingt dich in eine Art Ratespiel und du musst viel Zeit darauf verwenden, wie du bestimmte Formationen konterst. Und dann gegebenenfalls Spielzüge ansagen, welche die ganze Woche über nicht einstudiert wurden. Das kann vor allem für junge Spieler sehr schwer sein.
SPOX: Zum Abschluss: Gab es in Ihren Augen ein bestimmtes offensives System oder einen Stil, der in Ihren Augen besonders schwer zu verteidigen war?
Reinebold: Sobald eine Offense eindimensional wird, kann es defensiv schnell ziemlich einfach werden. Teams, die also Qualitäten im Passspiel und im Run Game haben, sind immer am schwierigsten, wenn es um Game Planning und Scheming geht. Daher bin ich auch immer so fasziniert von den Patriots: Man sieht im Prinzip die gleichen Konzepte aus verschiedensten Formationen und Aufstellungen. Alle Pass-Konzepte basieren auf den Run-and-Shoot-Prinzipien, die Routes werden also während des Plays an das Verhalten der Defense angepasst. Wenn man den Patriots defensiv Run-freundliche Formationen gibt, dann laufen sie 35 Mal. Aber wenn man Tom Brady Gelegenheiten für Eins-gegen-Eins-Duelle in der Secondary gibt, werfen sie den Ball auch 50 Mal. Teams die dazu in der Lage sind, und das vor allem auch noch aus verschiedenen Personnel Groups umsetzen können, sind sehr schwer zu verteidigen.
SPOX: Inwieweit kommt hier in Ihren Augen ein mobiler Quarterback ins Spiel? Wie schwierig ist das für einen Defensive Coordinator?
Reinebold: Das bringt definitiv eine weitere Dimension ins Spiel. Spricht man mit NFL-Jungs, dann glauben sie immer noch, dass man Spiele aus der Pocket heraus gewinnen muss. Aber wenn ein Quarterback auch aus dieser ausbrechen und Spielzüge ausdehnen kann wie etwa Aaron Rodgers - das macht es schwer. Er ist meiner Meinung nach der beste Quarterback, den es aktuell gibt.
SPOX: Was macht ihn so besonders?
Reinebold: Die Tatsache, dass er außerhalb der Struktur eines Plays Pässe anbringen kann. Er läuft auch mit dem Ball, wenn er muss, hat die Augen aber immer auf seine Receiver gerichtet. Das übt einen enormen Druck auf die Defense aus, denn wenn man verhindern will, dass er losläuft, wirft er den Ball über dich. Bleibt man in Coverage, kann er 15 oder mehr Yards rausholen. Es sind die Jungs, die sich aus schwierigen Situationen befreien und Plays ausdehnen können, die einem das Verteidigen wirklich erschweren.