Neben dem schon seit einer Weile verletzten Cliff Avril fehlten Seattle auch Kam Chancellor und Cornerback Richard Sherman - mutmaßlich ist die Saison für beide verletzungsbedingt beendet. Jarran Reed musste ebenfalls kurzfristig passen und noch beim ersten Drive zog sich Rookie-Cornerback Shaquill Griffin eine Gehirnerschütterung zu. Es waren unter dem Strich zu viele Tiefschläge für die Seahawks-Defense.
Atlanta, seinerseits ohne Devonta Freeman, war nämlich blitzartig auf Betriebstemparatur. Die Falcons marschierten angetrieben von einem glänzend aufgelegten Matt Ryan (19/27, 195 YDS, 2 TD) sofort das Feld runter, Coleman fand aus kürzester Distanz die Endzone. Seattles erster Drive endete mit einer schnellen und hässlichen Interception von Russell Wilson (26/42, 258 YDS, 2 TD, INT), wenige Plays und eine Beinahe-Interception von Ryan später fing Mohamed Sanu auf spektakuläre Art und Weise den zweiten Touchdown.
Es entwickelte sich ein tolles, ein rasantes Spiel mit harten, fairen Hits und zwei Teams im Angriffsmodus. Das Problem aus Seahawks-Sicht: Neben den neuen Problemen in der ausgedünnten Defense waren auch die altbekannten Probleme omnipräsent. Die Offensive Line hatte riesige Schwierigkeiten mit Atlantas Pass-Rush, was früh auch zu einem Defensiv-Touchdown führte: McKinley schlug Wilson den Ball aus der Hand, Clayborn trug ihn in die Endzone.
Trotzdem sahen die Fans in Seattle phasenweise einen Shootout, und das lag einmal mehr an Wilsons enormer individueller Qualität. Sehr gute Returns von Lockett sowie ein Kickoff-Return-Fumble der Falcons halfen den Seahawks zusätzlich, es dauerte bis in die zweite Halbzeit, ehe die Defenses die Partie besser in den Griff bekamen. Dann aber wurde es doch nochmal dramatisch: Als Atlanta gerade mit zehn Punkten in Führung gegangen war, legte Wilson einen 49-Sekunden-TD-Drive hin, ehe ein Richardson-Sack bei Third Down Atlantas Drive beendete. Seattle hatte so mit knapp zwei Minuten auf der Uhr eine Chance auf den Ausgleich - der 52-Yard-Field-Kick von Blair Walsh sieben Sekunden vor dem Ende aber war zu kurz.
Die wichtigsten Statistiken
Seattle Seahawks (6-4) - Atlanta Falcons (6-4) 31:34 (7:14, 10:10, 6:7, 8:3) BOXSCORE
- Sehr gute Ballverteilung auf beiden Seiten. Seattle hatte sieben Receiver mit je mindestens zwei Catches und mindestens zehn Yards, bei den Falcons fingen acht Spieler je mindestens einen Pass. Jimmy Graham (7 REC, 58 YDS, TD) wird dennoch immer mehr der Fixpunkt in Seattles Passspiel.
- Atlanta war im Run Game hartnäckig, hatte gegen Seattles Front aber wenig Erfolg. 43 Rushing-Yards und ein Touchdown standen für Tevin Coleman bei 20 Runs zu Buche. Terron Ward (6 ATT, 31 YDS) hatte spät im Spiel dann einige gute Momente.
- Das Run Game der Seahawks schien - wieder einmal - einen neuen Starter zu haben: Mike Davis durfte vor Eddie Lacy (der nach drei Minuten im 2. Viertel erstmals auf dem Platz stand) und J.D. McKissic ran und hinterließ einen sehr guten Eindruck. Musste dann aber im dritten Viertel mit einer Leistenverletzung raus. Und so standen am Ende enttäuschende 50 Rushing-Yards außerhalb von Wilson (7 ATT, 86 YDS, TD). Seattle kommt im Run Game schlicht auf keinen grünen Zweig.
- Matt Ryan hat jetzt in 29 aufeinanderfolgenden Spielen einen Touchdown-Pass geworfen, es ist die längste aktive Serie. Den Rekord hält Drew Brees mit Touchdown-Pässen in 54 aufeinanderfolgenden Spielen. Auf der anderen Seite war Russell Wilsons erster Touchdown-Pass bereits der fünfte TD zu Jimmy Graham innerhalb der 5-Yard-Line in dieser Saison, der Liga-Topwert. Wilson selbst ist seit heute Abend der zehnte Quarterback aller Zeiten mit über 3.000 Rushing-Yards in der NFL.
- Für Seattle war es erst das vierte Mal in der gesamten Pete-Carroll-Ära, dass die Seahawks im ersten Viertel mindestens 14 Punkte kassiert haben.
Die Stimmen zum Spiel
Pete Carroll (Head Coach Seahawks): "Wir hatten auf beiden Seiten des Balls viele Gelegenheiten. Leider haben sie unsere Turnover ausgenutzt, so dass wir die ganze Zeit einem Rückstand hinterher gerannt sind. Aber wir haben ein gutes, kämpferisches Spiel gegen ein hochtalentiertes Team abgeliefert."
Dan Quinn (Head Coach Falcons): "Wir wussten, dass das ein harter Kampf wird. Wir hatten gehofft, dass wir das Run Game besser ins Rollen bringen würden, als es uns gelungen ist. Aber die Toughness, die wir heute gezeigt haben, zeigt unsere Identität als Team."
Der Knackpunkt: Der 29-Yard-Pass zu Julio Jones
Beide Teams hatten gerade gepuntet und Seattles Defense hatte die Falcons gut sieben Minuten vor dem Ende mit acht Punkten in Rückstand erneut in ein langes Third Down gebracht. Doch Ryan war zur Stelle: Ein toller 29-Yard-Pass auf Julio Jones, der auf der rechten Seite eben Jeremy Lane und nicht Richard Sherman gegen sich hatte. Dieser Pass erlaubte es Atlanta, nochmals ordentlich Zeit von der Uhr zu nehmen und via Field Goal zu erhöhen. Ebenfalls erwähnenswert: Sieben Sekunden vor der Halbzeitpause versuchte Seattle einen äußerst fragwürdigen Field-Goal-Fake statt eines 35-Yard-Kicks, der scheiterte. Drei Punkte, die Seattle spät im Spiel empfindlich fehlten - genau wie eine Timeout, die Pete Carroll nach einem relativ deutlichen Drop von Doug Baldwin kurz zuvor für eine Challenge verschwendet hatte.
Das entscheidende Duell: Atlantas Front vs. Seattles Line
Was die Falcons gerade erst gegen Dallas gezeigt haben, setzte sich in Seattle fort: Grady Jarrett, Adrian Clayborn und Co. zerlegten Seattles Offensive Line und machten jeglichen Rhythmus in Seattles Offense zunichte. Es war ein maßgeblicher Grund dafür, dass die Hawks erneut kein Run Game hatten - und dass Wilson im Passspiel so oft tief in die Trickkiste greifen musste.
Der Star des Spiels: Desmond Trufant
Jarrett und Clayborn sowie Dontari Poe (5 Pressures) dominierten in der Front, Keanu Neal teilte harte Hits aus - und Trufant war der Lockdown-Corner, der das Defensiv-Bild komplettierte. Schnappte sich einen Pick und einen Fumble und verteidigte auch gegen Jimmy Graham einige Male sehr gut. Ließ bei sechs Targets nur drei Receptions für 28 Yards zu und verzeichnete einen Run-Stop.
Der Flop des Spiels: Vic Beasley
Neben der bereits erwähnten Seahawks-Line fiel Beasley mehrfach negativ auf. Nur ein Tackle-Assist und in seiner Rolle als Quarterback-Spy gegen Russell Wilson weitestgehend überfordert. Nicht nur mit Blick auf die Offensive Line, die ihm gegenüber stand, kein guter Auftritt für Atlantas athletischen Pass-Rusher.
Die Taktik-Tafel
- Atlantas Offensive Coordinator Steve Sarkisian hatte seit Saisonbeginn einen schweren Stand - das Erbe von Kyle Shanahan war denkbar undankbar. Über die erste Saisonhälfte hatte Sarkisian auch seine liebe Mühe, doch schon in der Vorwoche waren einige positive Tendenzen erkennbar. Und das setzte sich fort: Die Falcons zeigten einen guten Rhythmus im Play-Calling, mischten Run Game mit Play Action, No-Huddle mit guter Ballverteilung im Passspiel, schafften Räume für die Underneath-Routes über das Scheme und setzten erneut Dontari Poe als Run-Blocker in der Redzone ein. Selbst die Running Backs wenigstens vereinzelt wieder ins Passspiel eingebunden.
- Wie schon im Duell im vergangenen Jahr setzten die Falcons Aufstellungen mit mehreren Tight Ends ein, um Seattles Defense zum Reagieren zu zwingen. Aus Heavy Formations mit drei Tight Ends - so kam auch der Touchdown auf Toilolo im dritten Viertel zustande - versuchte Sarkisian zudem, Julio Jones als X-ISO-Receiver in Position zu bringen. Spielte Atlanta andere Formationen, nutzte Seattle insbesondere bei langen Third Downs mehrfach die Dime-Defense. Kaum Erfolg hatte Atlanta beim Outside Zone Run Game. Wie schon so oft in den vergangenen fünf Jahren war Seattles Defense dafür zu schnell und zu athletisch.
- Die Seahawks auf der anderen Seite setzten früh wieder auf Empty Backfield und Spread Formations. Vor allem J.D. McKissic wurde dabei als Matchup-Spieler genutzt und bewegte sich häufig via Pre-Snap-Motion aus dem Backfield heraus in den Slot oder auch auf eine Outside-Position. Wilson suchte dann Jimmy Graham regelmäßig, wenn der Eins-gegen-Eins-Matchups mit Linebackern hatte.
- Insgesamt aber fragt man sich noch immer, was Seattles offensive Identität ist. Das Run Game bleibt über weite Strecken quasi nicht existent, Wilson ist für fast alles verantwortlich. Auch gegen Atlanta wirkte es wieder eher wie eine Aneinanderreihung von einigen spektakulären Plays einzelner Spieler - meist Wilson - als wie ein konkreter Offensiv-Plan. Dabei hatten die Falcons große Probleme, die Scrambles von Seattles Quarterback zu stoppen.