Die NFL befindet sich im Wandel: Offenses dominieren das Geschehen, und das längst nicht nur aufgrund von Regeländerungen in den letzten zehn Jahren. Vielmehr lassen sich einige klare Tendenzen erkennen, die den Trend erklären - und für Defense-Fans gibt es eine schlechte Nachricht: Eine baldige Änderung ist nicht in Sicht.
Wenn man sich eine Football-Redewendung suchen würde, die in ihrer öffentlichen Nutzung konstant dem Zahn der Zeit widerstanden hat, dann ist es: "Offense wins Games, Defense wins Championships" - die Offensive mag einzelne Spiele entscheiden, Titel aber werden mit der Defensive gewonnen.
Und diese These konnte man auch oft genug belegen: Auf Pittsburghs Steel Curtain in den 70ern folgte die dominante Bears-Defense in den 80ern sowie die Ravens zu Beginn der 2000er und schließlich Seattles Legion of Boom sowie parallel die Broncos. Dominante Defenses waren für diese Teams der Schlüssel für Super-Bowl-Triumphe. Die Seahawks-Machtdemonstration im Super Bowl 2013 gegen Denvers Offense, die in der Regular Season alle Rekorde gebrochen hatte, ist vielleicht das beste Beispiel.
Doch diese Zeiten scheinen eine gefühlte Ewigkeit her zu sein. Die letzten beiden Super Bowls waren Shootouts mit nur phasenweise defensiver Beteiligung, in diesem Jahr spielten erstmals überhaupt die vier Top-Scoring-Offenses auch in den beiden Championship Games. Während die einzigen beiden Defenses, die man dieses Jahr als "dominant" hätte bezeichnen können - Baltimore und Chicago - in der Wildcard-Runde zuhause verloren.
Weiter noch: Diese Saison produzierte die meisten Yards pro Play (5,6), das im Schnitt höchste Passer Rating (92,9) und die zweitmeisten Punkte pro Spiel (46,7) in der NFL-Geschichte. Bereits 2016 waren in der Championship Runde vier Teams, die in puncto DVOA klar von ihren Offenses getragen wurden - und mit Pittsburgh und New England durchschnittliche, sowie mit Atlanta und Green Bay schlechte Defenses hatten. Letztes Jahr gab es dann zwischen den Eagles und Patriots den Super Bowl mit den zweitmeisten Punkten aller Zeiten.
Keines der vier Championship-Teams dieses Jahr hatte eine Top-10-DVOA-Defense, das hat es seit Beginn der Datenerfassung 1989 nicht gegeben.
Die Gleichgewichte haben sich verschoben. Es ist eine Entwicklung, die genauso erklärbar wie nachweisbar ist.
Touchdown-Boom: NFL-Coaches werden aggressiver - endlich
Zwei Aspekte stechen statistisch schnell ins Auge: Teams sind besser darin geworden, Touchdowns statt Field Goals zu erzielen - 1.371 Touchdowns sind ein neuer Regular-Season-Rekord -, und ein maßgeblicher Aspekt dabei ist die Tatsache, dass sich Teams mehr Gelegenheiten dafür geben. Das Stichwort: Aggressivität im Coaching.
Statistik-Experten weisen immer deutlicher darauf hin, dass es sich langfristig lohnt, die allermeisten 4th&1- und auch die meisten 4th&2-Situationen auszuspielen, sofern man sich nicht gerade innerhalb der eigenen 25-Yard-Line befindet. Über einen längeren Zeitraum betrachtet ist die Erfolgsquote höher als das Risiko.
Im sehr lange sehr konservativen Coaching-Ansatz in der NFL reichte das aber natürlich nicht für ein Umdenken; dafür mussten schon die (für NFL-Verhältnisse) notorisch aggressiven Eagles mit ihrem Ansatz im Vorjahr erst den Super Bowl gewinnen.
Und schon war das Umdenken sichtbar. 23 Teams haben in der abgelaufenen Saison 15 oder mehr 4th Downs ausgespielt, ein Rekordwert. Mit den Chargers (8) blieb nur ein einziges Team unter zehn ausgespielten Fourth Downs.
Und das vor allem mit Erfolg: 13 Teams hatten diese Saison eine Fourth-Down-Erfolgsquote von mindestens 60 Prozent, ein enormer Wert. Das Ergebnis? Mehr längere Drives, mehr Touchdowns statt Field Goals.
NFL Third und Fourth Down Statistiken:
Saison | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 | 2016 | 2017 | 2018 |
Teams mit mindestens 15 ausgespielten Fourth Down Attempts | 11 | 14 | 13 | 15 | 16 | 17 | 16 | 23 |
Teams mit mindestens 60% erfolgreichen Fourth Down Conversions | 5 | 10 | 9 | 4 | 6 | 8 | 5 | 13 |
Teams mit mindestens 40% 3rd Down Conversion Percentage | 10 | 12 | 11 | 17 | 14 | 14 | 12 | 15 |
Passend dazu stieg auch die Touchdown-Percentage in der vergangenen Saison an; 4,8 Prozent sind der höchste Wert seit 1970 und ein Anstieg um fast einen ganzen Prozentpunkt seit 2008 (3,9 Prozent).
Das geht nahtlos über in einen anderen Aspekt, der die Offense-Explosion erklärt: Offenses sind in vielen Bereichen merklich effizienter geworden.
NFL Yards pro Pass Statistiken:
Saison | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 |
Yards pro Pass | 6,8 | 6,9 | 6,9 | 6,9 | 7,0 | 7,0 | 7,2 | 7,1 | 7,1 | 7,2 | 7,3 | 7,2 | 7,0 | 7,4 |
Adjusted Net Yards pro Pass | 5,3 | 5,4 | 5,5 | 5,7 | 5,6 | 5,7 | 5,9 | 5,9 | 5,9 | 6,1 | 6,3 | 6,2 | 5,9 | 6,3 |
Die 7,4 Yards pro Pass in der gerade beendeten Regular Season waren der höchste Wert seit 1965. Das ist ein Grund dafür, dass 2018 insgesamt 15 Teams im Schnitt mehr als 5,6 Yards pro Offensive Play verzeichneten - fast doppelt so viele wie 2017 (8), mehr als in irgendeiner anderen Saison der zehn Jahre davor (Durchschnitt in diesem Zeitraum: 10,5).
Das ist nicht einfach nur durch Regeländerungen erklärbar, die die Offense bevorteilen, oder durch Quarterbacks, die den Ball blitzartig loswerden. In der vergangenen Saison warfen lauf PFF nur sieben Quarterbacks (Minimum: 150 Dropbacks) in 55 Prozent der Fälle den Ball innerhalb von 2,5 Sekunden nach dem Snap. Es ist der niedrigste Wert seit 2013 (6).
Darüber hinaus standen nur neun Quarterbacks in über 70 Prozent ihrer Dropbacks nicht unter Druck. Das sind mehr als 2017 (6), aber weniger als 2016 (10). Es ist ein durchschnittlicher Wert, blickt man auf die vergangenen Jahre. QBs haben also auch nicht mehr Zeit in der Pocket.
NFL Offense-Explosion: die Überlegenheit des Schemes
Nein, die Antwort für die offensive Explosion ist - neben der Aggressivität im Play-Calling generell - vor allem in den offensiven Schemes zu finden.
Hier können die Antworten ganz unterschiedlich ausfallen: Die Saints waren stark darin, aus unheimlich vielen verschiedenen Formationen und Personnel-Groupings Yards nach dem Catch zu kreieren. Die Patriots forcieren Mismatches besser als nahezu jedes andere Team, die Play-Designs der Rams ähneln einander so stark, dass sie sehr schwer zu lesen sind. Die Chiefs nutzen Motion und Misdirection besser als alle anderen und forcieren so ihre Wunsch-Matchups.
Die oberste Konsequenz daraus? Offene und dadurch einfache Würfe.
Gemäß Next Gen Stats warfen in der gerade beendeten Regular Season nur noch vier Quarterbacks (Minimum: 150 Dropbacks) 20 Prozent oder mehr ihrer Pässe in sogenannte "enge Fenster" (der Verteidiger ist maximal ein Yard entfernt): Rosen (Cardinals), Driskel (Bengals), Fitzpatrick und Winston (Buccaneers). Dass die Bucs hier doppelt vertreten sind, ist übrigens kein Zufall, sondern zeigt den Scheme-Zusammenhang.
2017 fielen noch neun Quarterbacks in die gleiche Kategorie - und 2016 gleich 17!
Offene Elemente helfen auch dem Running Game
Dabei sind Teams, und auch das verdeutlichen die Top-Offenses der laufenden Spielzeit, offener geworden. Offener für größere College-Einflüsse, offener für simple Elemente wie den Jet Sweep, den Shovel Pass und dergleichen.
Aber auch offener im wahrsten Sinne des Wortes: Team öffnen die komplette Breite und Länge des Feldes mit mehr Spread-Offense-Elementen sowie mehr 3-Receiver-Sets und sind daher effizienter als in jeder anderen Saison seit der Beginn der ESPN-Datenerfassung.
Das übrigens öffnet auch Räume für das Run Game, nicht umgekehrt.
11-Personnel (ein Running Back, ein Tight End, drei Wide Recever) ist die dominante NFL-Formation in der heutigen Offense, der Liga-Schnitt ging hier im Vergleich zu 2017 (59 Prozent der offensiven Snaps) und 2016 (60 Prozent) in dieser Saison nochmals deutlich nach oben (65 Prozent).
Und: Teams werfen hieraus nicht nur für 7,1 Yards pro Pass, sondern laufen auch für 4,9 Yards pro Run, mit den Rams als Musterbeispiel dafür, wie man taktisch ein effizientes Run Game kreiert.
Play Action, First Down - und defensive Inkonstanz
Dazu gehört auch das Play Action Game. Hier markierte die 2018er Saison ebenfalls einen Spitzenwert: Zehn Quarterbacks hatten eine Play-Action-Quote von mindestens 25 Prozent (Minimum: 80 Play-Action-Dropbacks), 2017 waren es drei weniger - und 2016 knackte einzig und allein Matt Ryan in der Offense von Kyle Shanahan diese Marke. Seit 2012 kamen nur ein Mal (2013) ebenfalls zehn Quarterbacks auf diese Quote.
Teams merken zudem nach und nach, dass Passing bei First Down sinnvoller ist. Bei 53 Prozent der First Downs wurde in der vergangenen Regular Season im Schnitt geworfen (für 7,7 Yards pro Pass), ein deutlicher Anstieg zu 2017 (47 Prozent, 7,4 Yards pro Pass). Auch das Passing bei Second Down ist prozentual angestiegen und wurde effizienter.
Kombiniert man
- die gestiegene Aggressivität,
- die Teams, die aus den vorhandenen Analytics die richtigen Schlüsse für ihr Play-Calling ziehen,
- das schematische Produzieren von einfachen Yards mit auf den Liga-Schnitt gesehen relativ konstanter Pass-Protection,
- eine Öffnung der Offense durch Spread-Elemente und 3-Receiver-Sets,
dann bekommt man einen Fahrplan für vergleichsweise konstanten offensiven Wachstum.
Defensiv dagegen? Deutlich schwieriger.
Defensive Konstanz von Jahr zu Jahr ist um ein Vielfaches schwieriger zu erreichen, als auf der anderen Seite des Balls - zu viele einzelne Faktoren spielen je eine gleichgroße Rolle. Im Gegensatz zur Offense, wo insbesondere der Quarterback eine exponierte Stellung hat.
Das bedeutet nicht, dass Defenses unbedeutend werden. Ihre Rolle könnte sich aber weiter wandeln: Wer kann Big Plays kreieren? Wer kann den Quarterback auf die Art unter Druck setzen, die ihm am wenigsten liegt? Wer kann seine - im Idealfall - High-Scoring-Offense bestmöglich ergänzen?
Man könnte den eingangs zitierten Spruch für die unmittelbare Zukunft auch einfach umdrehen, wenn man sich die Lehren dieser Saison genau anschaut: Die Defensive kann sehr wohl einzelne Spiele gewinnen. Um eine Chance auf den Titel zu haben, braucht es aber die Offense.
Super Bowl: Gewinnt die Defense noch Titel?
Die Frage ist nicht, ob Offense oder Defense die entscheidende Kraft auf dem Weg zu einem Titel ist - es ist die Offense. Die Frage ist eher: Kann eine dominante Defense noch den Weg zum Titel ebnen? Gibt es in der näheren NFL-Zukunft überhaupt so etwas wie eine konstant dominante Defense?
"Ich habe keine Ahnung", gab 49ers-Cornerback Richard Sherman jüngst zu. "Ich glaube nicht, dass die Liga das wirklich noch haben will. Der Liga geht es eher um offensiven Football, und den bekommt sie auch. Eine besondere Defense zu haben, die konstant so stark spielt, wird sehr schwer."
Damit hat Sherman nicht Unrecht, und es ist kein Zufall, dass die Regular-Season-Duelle der Patriots gegen die Chiefs sowie der Chiefs gegen die Rams zwei der Top-Spiele in puncto Einschaltquote waren.
Für Cowboys-Defensive-Coordinator Rod Marinelli ist aber auch klar: "Man darf das nicht als Ausrede benutzen, denn noch erlauben sie es uns, den Gegner zu tackeln. Ich habe immer an defensive Geschwindigkeit geglaubt, und das hängt mit dem Tackeln und den Hits zusammen. Es gibt nach wie vor Lücken, die müssen wir ausnutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass es ein physisches Spiel wird. Und dabei müssen wir schlau sein: (keine) Helmet-to-Helmet-Hits, wie attackieren wir den Quarterback, solche Dinge. Das versuchen wir auch, den Jungs beizubringen."
Es sei "definitiv noch möglich", auch mit der Defensive zu gewinnen, ist sich Broncos-Linebacker Todd Davis sicher. "Ich denke nicht, dass Spiele 54:51 ausgehen müssen, wirklich nicht. In meinen Augen kann man Teams immer noch stoppen, wenn man die Receiver eng deckt und stark in Man Coverage ist. Man kann Offenses wirklich noch stoppen."
Die Defenses der Patriots und der Rams werden im Super Bowl versuchen, genau das zu erreichen - um so den jüngsten Super-Bowl-Scoring-Trend zu unterbinden.