Die Green Bay Packers setzen auf Matt LaFleur, und hoffen, dass dessen Version der Shanahan-Offense Aaron Rodgers zu alter Stärke verhelfen kann. Aber was macht diese Offense eigentlich aus? Und wieso gibt es in Green Bay erneut Potenzial für offensive Spannungen?
Man kann die diesjährige Offseason von Aaron Rodgers bislang in zwei Kategorien unterteilen: Bier und Matt LaFleur.
Jeder Packers-Fan - und auch sonst jeder - weiß inzwischen, dass das schnelle Abkippen eines Bieres nicht gerade Rodgers' Kernkompetenz ist; im Gegensatz zu Offensive Tackle David Bakhtiari, der in dieser Disziplin offensichtlich ganz exzellent ist.
Ungleich wichtiger für den sportlichen Erfolg der Green Bay Packers in den nächsten Jahren ist die zweite Kategorie, mit der alles dominierenden Frage: Wie gut kommen Rodgers und der neue Head Coach Matt LaFleur miteinander aus? Zwischenmenschlich, aber auch was Scheme- und Play-Calling-Fragen angeht?
"Aaron und ich hatten einige sehr gute Gespräche und wir werden noch sehr viele weitere Gespräche haben", erklärte LaFleur jüngst gegenüber Mike Silver von NFL.com, nur um das zentrale Thema gleich anzuschließen: "Eine Sache, die wir ausarbeiten müssen, sind die Audibles an der Line of Scrimmage. Wir werden ein System spielen, das ich erstmals vor zehn Jahren unter Kyle Shanahan in Houston gelernt habe; und wir hatten nie einen Quarterback, der die komplette Freiheit hat, um Plays an der Line zu verändern; so ist diese Offense nicht aufgebaut."
Aber, und dessen ist sich LaFleur bestens bewusst, "wir reden von Aaron Rodgers. Er hatte bisher sehr viele Freiheiten in dieser Hinsicht, und das zurecht. Die Frage lautet also: Wie bringen wir das auf einen gemeinsamen Nenner und kommen an einen Punkt, an dem wir ihn in die bestmögliche Position für Erfolg bringen?"
Matt LaFleur: Die neue Packers-Offense
Tatsächlich ist das eine ganz zentrale Frage, denn auch um Rodgers selbst ist eine kontroverse Diskussion entbrannt. Bei allem Elite-Potenzial, das er nach wie vor hat, rief er selbiges über die letzten vier Jahre zu inkonstant ab und bei aller berechtiger Kritik an Ex-Coach Mike McCarthy gilt auch festzuhalten: Rodgers spielt, teilweise fraglos bedingt durch Verletzungen, ebenfalls eine Rolle in der seit einigen Jahren inkonstanten und gerne auch mal frustrierenden Packers-Offense.
Über die letzten beiden Jahre hat Green Bay zusammengerechnet 13 Spiele gewonnen, weniger Siege in zwei aufeinanderfolgenden Jahren hatten die Packers zuletzt 2005 (4) und 2006 (8). Nach jener 2005er Saison übernahm McCarthy den Head-Coach-Posten von Mike Sherman, und als McCarthy im Dezember infolge einer blamablen Heimniederlage gegen Arizona noch vor Saisonende gefeuert wurde, erwarteten viele einen sehr erfahrenen Nachfolger wie etwa Josh McDaniels, der auf größter Bühne seine Qualitäten bewiesen hat.
Die Packers gingen in eine andere Richtung. Matt LaFleur hat erst ein NFL-Jahr als Offensive Coordinator mit Play-Calling-Verantwortung vorzuweisen, und das war die durchwachsene Saison in Tennessee letztes Jahr. Dennoch bringt er eine klare Philosophie und einen klaren Ansatz mit, auf dem bei anderen Teams derzeit ebenfalls mit großem Erfolg aufgebaut wird: Die West Coast Offense in der Shanahan-Ausprägung.
Zwischen 2008 und 2016 hat LaFleur - ein einjähriges Intermezzo bei Notre Dame 2014 ausgenommen - durchgehend mit und unter Kyle Shanahan sowie innerhalb dieser Offense mit den jeweiligen Quarterbacks gearbeitet. Es folgte ein Jahr in Los Angeles mit Sean McVay, der in Grundzügen ebenfalls eine Version der gleichen Offense spielt, ehe er 2018 nach Tennessee ging.
LaFleurs Prägung ist also klar, genau wie seine Erfahrung in der täglichen Arbeit mit Quarterbacks. Die Kombination kam in Green Bay offenbar glänzend an, weiter noch: LaFleur hat aus erster Hand miterlebt, wie man einen erfahrenen Quarterback auf die Offense einschwört. Als er Shanahan 2015 nach Atlanta folgte, war Matt Ryan angeblich zunächst nicht begeistert von der neuen Offense. Ryan und Shanahan sprachen sich danach aus und versuchten besser zu verstehen, was für den jeweils anderen funktioniert. LaFleur steht jetzt vor einer ähnlichen Aufgabe.
Aaron Rodgers und die Freiheit an der Line of Scrimmage
Als Anfang April die große Bleacher Report Story über das interne Zerwürfnis zwischen Rodgers und McCarthy rauskam - eine Story, die von Rodgers wenig später überdeutlich dementiert wurde - stach aus rein sportlicher Sicht ein Aspekt ganz besonders heraus: Quellen berichteten von einer "alarmierenden" Anzahl an Plays, die Rodgers an der Line of Scrimmage geändert haben soll; bis zu ein Drittel der von McCarthy angesagten Spielzüge soll so nicht umgesetzt worden sein.
Vielleicht stimmt diese Zahl, vielleicht auch nicht. Die Quintessenz aber steht außer Frage: Rodgers hatte über die vergangenen Jahre immense Freiheiten auf dem Feld.
Als er vor einigen Tagen mit Mike Silver sprach, machte er daraus auch kein Geheimnis: "Ich denke nicht, dass jemand will, dass ich elf Jahre Erfahrung im Lesen von Defenses abschalte. Das ist nicht arrogant gemeint, aber es ist eine Tatsache: Es gibt nicht viele Spieler in der NFL, die an der Line of Scrimmage das machen können, was ich über die vergangenen Jahre gemacht habe. Tom Brady natürlich, Peyton Manning konnte das. Drew Brees kann es. Mahomes wird es können. Ben Roethlisberger sagt seit Jahren die 2-Minute-Offense selbst an. Es gibt nicht viele, und das ist nur die Kirsche auf der Torte von dem, was ich für diese Offense leisten kann."
Rodgers legt, sollte das an diesem Punkt noch nicht klar geworden sein, großen Wert auf seine Freiheiten auf dem Feld. Doch der springende Punkt mit Blick auf die neue Offense ist der: Wenn LaFleur davon spricht, dass er mit Shanahan nie einen Quarterback hatte, der komplette Freiheiten an der Line of Scrimmage genoss, dann ist das kein Urteil über die Quarterbacks, die er hatte; vielmehr ist es eine Anspielung auf die Offense selbst.
Die Kyle Shanahan Offense
"Wenn man von tatsächlichen "Audibles" spricht, dann ist das wohl so", führte er weiter aus, "das gab es bei uns nicht. Wir legen viel Wert darauf, Konzepte zu haben, mit denen man auf jede Defense Antworten parat hat. Vielleicht ist es nicht immer die ideale Antwort, aber es gibt eine Antwort."
In der Shanahan- und jetzt auch der LaFleur-Offense sieht der Standard zumeist so aus: Der Quarterback bekommt zwei verschiedene Play-Calls angesagt, und je nachdem, was die Defense präsentiert, kann er den einen oder den anderen Spielzug an der Line of Scrimmage ansagen, und auch diese Entscheidung erfolgt gemäß klar definierter Vorgaben. Er hat in der Regel jedoch nicht die Freiheit, auf ein komplett anderes Play umzustellen.
Der Grund dafür ist die Tatsache, dass die Offense auf "Sequenzen" in den Play-Designs aufbaut. Heißt: Bestimmte Play-Calls erfolgen mit der Absicht im Hinterkopf, in einer ähnlichen Situation eine ähnliche Formation aufs Feld zu schicken mit einem Spielzug, der ähnlich aussieht - aber die Defense letztlich anders attackiert, als es beim ersten Mal der Fall war. Davon würde einiges verloren gehen, wenn die Play-Designs nicht eingehalten werden.
Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist der erste Drive von LaFleurs Titans-Offense gegen die Jaguars in Woche 14 der vergangenen Saison.
NFL GamepassDie vier hier abgebildeten Plays kamen innerhalb von fünf Spielminuten und gerade einmal sieben Plays zustande. Es gab noch eine weitere sehr ähnliche Formation, aus welcher Mariota einen Quarterback-Sneak spielte.
Die Quintessenz: Die Formationen sind nahezu identisch. Ein In-Line postierter Tight End oder Receiver auf der rechten Seite der Line of Scrimmage, ein Receiver je außen auf jeder Seite und ein H-Back vor dem Running Back im Backfield.
NFL GamepassDoch die Plays bauen aufeinander auf. Beim ersten Beispiel lässt LaFleur einen Stretch-Run mit einem Lead-Blocker spielen. Ein normaler Run in dieser Offense, den man in Green Bay ohne Frage ebenfalls sehen wird.
Nur drei Plays später kommt Tennessee in einer ähnlichen Grundformation raus; der H-Back im Backfield macht erst via Pre-Snap-Motion einen kleinen Schritt zur Seite. Was für die Defense im ersten Moment wie ein weiterer Run bei First Down aussieht, ist tatsächlich ein Passkonzept mit fünf Routes und einer offenen Completion Underneath zu Dion Lewis.
NFL GamepassZu diesem Zeitpunkt hat LaFleur bereits drei Plays aus einer sehr ähnlichen Grundformation und mit einigen Überschneidungen im Play-Design spielen lassen. Er weiß somit auch erste Tendenzen, wie die Defense auf bestimmte Dinge reagiert.
Es folgt das Big Play dieses Drives. Die Defense sieht zunächst Blocks, die auf einen weiteren Outside-Run hindeuten könnten, mit Blockern die in Richtung des Linebacker-Levels arbeiten; ganz wie beim ersten dargestellten Spielzug.
Allerdings erhält Lewis den Ball nicht per Handoff, sondern mit einem kurzen Screen. Der linke Outside-Receiver räumt die Seite frei und Lewis holt 29 einfache Yards raus.
NFL GamepassDas letzte Play der Reihe erfolgt direkt nach Lewis' langem Catch-and-Run. Die Titans kommen in der Red Zone erneut mit der gleichen Formation raus, dieses Mal ist es Derrick Henry im Backfield. Hinter seinem Lead-Blocker und erneut mit der Hilfe von zwei Offensive Linemen, die sich schnell auf das Linebacker-Level arbeiten, läuft Henry 14 Yards bis zur 5-Yard-Line.
Zwei Versuche später stand Tennessee in der Endzone.
Packers: Eine neue Offense - eine neue Chance?
Es ist nur eines von vielen Beispielen, die das erklären, was LaFleur meint. Seine Offense basiert im Kern auf einem Outside Zone Blocking-Scheme - 204 der 453 Titans-Runs letztes Jahr gingen auch tatsächlich nach "außen", während Green Bay bevorzugt innen, zwischen den beiden Guards, lief -, und darauf aufbauend einem ausgedehnten Play-Action- und Screen-Passing-Game.
All diese Dinge sind darauf ausgelegt, dem Quarterback die Arbeit zu erleichtern. Das ist ein Trend, der sich zunehmend durchsetzt; insbesondere die Kansas City Chiefs waren im Vorjahr ein Musterbeispiel dafür, Patrick Mahomes mit einfachen Completions und Yards nach dem Catch via Play-Design unter die Arme zu greifen - sodass seine individuellen Fähigkeiten eher noch obendrauf kommen, statt dass sie elementar für die Offense werden, wie es in Green Bay in den vergangenen Jahren so häufig der Fall war.
Dazu gehören etwa Run Pass Options und natürlich auch Play Action. Ein Pass-Mittel, das dem Quarterback die Arbeit signifikant erleichtert und für gewöhnlich deutlich effizienter ist als das reguläre Passing - und dennoch in Green Bay in den vergangenen Jahren fast stiefmütterlich behandelt wurde.
Aaron Rodgers' Play Action Quote:
Saison | Play-Action-Anteil (Liga-Platz) | TD/INT bei Play Action |
2018 | 20,1% (Platz 28) | 6/1 |
2017 | 18,1% (Platz 27) | 3/0 |
2016 | 16,4% (Platz 25) | 7/1 |
2015 | 15,6% (Platz 30) | 3/2 |
Hinweis: Nur Quarterbacks mit mindestens 50 Play-Action-Dropbacks in den jeweiligen Jahren wurden berücksichtigt. Alle Zahlen stammen von Pro Football Focus.
Zum Vergleich: In der vergangenen Saison rangierten die Quarterbacks von McVay (Goff/35,8 Prozent Play Action), LaFleur (Mariota/31,3 Prozent) und Shanahan (Mullens/25,7 Prozent) allesamt in der Top-10, was Play-Action-Nutzung angeht. Was die Quantität angeht, waren die Top-2-Pass-Optionen der Titans bei First Down letztes Jahr: Run Pass Options und Rollout Play Actions.
Danach kamen Varianten eines Comeback/Clear-Konzepts, ein Play-Action-Passspielzug, bei dem der Quarterback in der Pocket bleibt.
Hier gibt es ein Beispiel dieses Play-Designs, und auch hier fällt wieder auf, dass die Formation sich sehr ähnlich gestalten kann, wie die Formationen aus der Beispiel-Reihe vom Jaguars-Spiel.
Auch das Einbinden von Running Backs ins Passspiel ist ein simples, aber effizientes Mittel. Hier war Kansas City letztes Jahr ebenfalls der ligaweite Maßstab, während Green Bay hier eher im Mittelfeld rangierte. Bei langen Second Downs (sieben oder mehr Yards bis zum First Downs) ließ LaFleur letztes Jahr mit Abstand am häufigsten Screens spielen, bevorzugt zu den Running Backs.
"Diese Offense zieht die Defense mit ihren Formationen und Pre-Snap-Motions in die Breite", zeigte sich Rodgers gegenüber Mike Silver sogar ein Stück weit begeistert, "und testet die Disziplin der Defense. Es gibt so viel Motion und Reverses und Fake Reverses. Das erlaubt dir, die Defense horizontal zu attackieren und öffnet so die Bahn für einige Downfield-Gelegenheiten. Ich denke, es ist eine Offense, in die ich noch Kreativität einfließen und ihr meinen Stempel aufdrücken kann."
LaFleur und Rodgers: Die Herausforderung
Die größte Anpassung für Rodgers findet somit womöglich an der Line of Scrimmage und unmittelbar nach dem Snap statt. Ein großer Teil von Rodgers' Spiel ist es, Defenses vor dem Snap zu lesen und entsprechende Änderungen vorzunehmen. Vertraut er LaFleur genug, um sich hier stärker einzuschränken und mehr auf die ihm vorgegebenen Play-Calls zu vertrauen?
Und wie kommt er damit zurecht, dass er in den Play Action Designs deutlich häufiger nach dem Snap der Defense den Rücken zukehren wird und somit komplett vom Play Design abhängig ist, da er eine späte Umstellung der Defense etwa nicht sofort sieht? Klar ist auch, dass LaFleurs Play-Calls schnell funktionieren müssen; andernfalls droht Unruhe, womöglich von Rodgers selbst, womöglich von außen. Packers-Legende Brett Favre erklärte jüngst bereits, dass man Rodgers "sein Spiel spielen lassen und ihn dabei nicht stören soll".
Die Packers haben über die letzen beiden Jahre 18 von 32 Spielen verloren. Rodgers verpasste zwar 2017 neun Spiele, wo aber fraglos jeder Packers-Fan zustimmen wird: Die Ergebnisse waren zuletzt schlicht nicht gut genug, dafür dass man noch immer einen der talentiertesten Quarterbacks aller Zeiten hat.
Die komplett verlorene vergangene Saison war offensiv stark auf das offensichtlich zerschnittene Tischtuch zwischen McCarthy und Rodgers zurückzuführen und es wurde immer offensichtlicher, dass Rodgers den Play-Calls nicht vertraute. Wenn sich das mit LaFleur ändert, und Rodgers sein mehrfach geäußertes Lob über die Shanahan-Offense auch im September noch bestätigt, könnte es ein sehr spannendes Duo werden.
"Ich denke, es wird großartig", ist LaFleur jedenfalls optimistisch. "Es macht Spaß mit ihm. Man kann sehen, wie viel Spaß er auf dem Platz hat und wir hatten mehrere gute Gespräche. Ich denke, wir werden gemeinsam besser. Wir werden ein noch besseres Gefühl füreinander entwickeln, aber bisher macht es auf jeden Fall viel Spaß."