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Hört auf Joe Flacco!
"Wir sind ein 2-6-Team und wir haben Angst davor, im Two-Minute-Drill ein Fourth Down auszuspielen. Wen interessiert es, ob wir den Ball mit 1:40 Minuten auf der Uhr verlieren? Sie haben das Field Goal ja auch so geschafft. Nochmal: Wir stehen bei zwei Siegen und sechs Niederlagen und es hat sich so angefühlt, als hätten wir Angst davor, das Spiel zu verlieren."
Ausgerechnet Joe Flacco! Der sonst so ruhige, in sich gekehrte Quarterback fand nach der Niederlage seiner Broncos bei den Colts ungewohnt deutliche Worte.
Es ging um die Szene kurz nach der Two-Minute-Warning. Die Broncos, mit einem Punkt in Führung, standen an der 43-Yard-Line bei 3rd&5. Denver lief zuerst gegen eine zugestellte Box aus der Shotgun, ohne Raumgewinn - und puntete dann bei Fourth-and-Five. Im Gegenzug legten Brissett und die Colts 56 Yards in sieben Plays aufs Feld und kickten das spielentscheidende Field Goal.
"In Field-Goal-Reichweite zu kommen ist nicht so schwer", fuhr Flacco fort. "Man bringt seine Defense einfach in diese schlechten Situationen, und ich dachte mir: 'Was haben wir zu verlieren? Warum können wir in einigen dieser Situationen nicht aggressiv sein?' So ging es mir heute häufiger."
Es waren nicht nur deutliche Worte, es war auch eine präzise zutreffende und äußerst gerechtfertigte Kritik. Man hat zwei Chancen - wenn man das Fourth Down ausspielt -, um fünf Yards zu überbrücken und das Spiel essenziell zu beenden. Wie um alles kann man hier auf die Idee kommen, dass man eine bessere Chance hat, das Spiel zu gewinnen, wenn man den Colts den Ball zurück gibt, anstatt dass man selbst mit der eigenen Offense versucht, in zwei Anläufen fünf (!) Yards zu überbrücken?
Anders gefragt: Warum sind die Coaches in der NFL so frustrierend ängstlich, während sie gleichzeitig glauben, dass sie "sicher" agieren?
Andy Reid: Wieso Rodgers den Ball geben?
Und ja, man kann jetzt entgegnen, dass Flacco ja selbst Teil des generellen sportlichen Problems ist. Das stimmt auch, doch macht es die ganze Sache nur noch schlimmer: Insbesondere, wenn man der Außenseiter ist, ist aggressives In-Game-Coaching umso wichtiger, um die eigene Siegchance zu erhöhen. Wer individuell schon unterlegen ist, hilft dem Favoriten, wenn er ihn nicht einmal auf dieser Ebene herausfordert.
In die gleiche Richtung ging auch Andy Reid am Sonntagabend gegen die Packers. Gleich zwei Mal nahm er seine selbst ohne Mahomes gut funktionierende Offense bei einem kurzen Fourth Down vom Feld und gab den Ball zurück in die Hände von Aaron Rodgers. Besonders desolat war die zweite der beiden Entscheidungen.
5:13 Minuten vor dem Ende mit sieben Punkten in Rückstand hatte Kansas City nach unnötig konservativem Play-Calling ein Fourth-and-Three an der eigenen 40-Yard-Line. Und statt jetzt hier auf die eigene Offense, das eigene Play-Calling und das eigene Waffenarsenal zu vertrauen, hisste Andy Reid die weiße Flagge, puntete den Ball zu den Packers und seine Offense sah das Feld an diesem Abend nicht mehr wieder.
Die Offense ist selbst ohne Mahomes ohne jeden Zweifel der stärkere Part dieses Teams - in welcher Welt macht es für dieses Chiefs-Team Sinn, das Spiel in der alles entscheidenden Phase in die Hände der eigenen Defense gegen Aaron Rodgers zu legen? Das hat nichts mit "auf Sicherheit spielen" oder "nicht zu aggressiv werden" zu tun.
Das ist einfach kein Coaching, um zu gewinnen, und hier sollte auch nicht die dann gerne aufkommende Frage in der Richtung "wie aggressiv sollte man sein?" gestellt werde. Es ist schlicht kein Coaching, mit dem man dem eigenen Team die bestmögliche Chance auf den Sieg gibt. Punkt.
Process over Results!
Und dann ist da noch ein ganz anderes Phänomen: Das Stellen des Resultats über den Prozess.
Nur weil uns die Analytics inzwischen - natürlich wird das im Spiel für die Coaches, die es nutzen, jeweils dann für das einzelne Team, den Gegner und die jeweilige Situation angepasst - ziemlich genau sagen können, in welchen Szenarien man ein Fourth Down ausspielen sollte und in welchen nicht, heißt das nicht, dass man jedes Fourth Down dann auch automatisch in ein First Down umwandelt. So funktioniert es natürlich nicht, das sollte jedem klar sein.
Brian Burke hat bereits vor Jahren entsprechende Modelle entwickelt, die mit steigender offensiver Effizienz noch aggressiver geworden sind. Coaches, die in diesen Situationen auf Analytics hören und sich auch im Spiel beraten lassen - und das ist längst keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil - sind besser ausgestattet, was die generelle Herangehensweise angeht. Ein Third Down kann so beispielsweise schon ganz anders angegangen werden, wenn man weiß, dass man das Fourth Down ausspielen wird.
Wir müssen im Sport damit aufhören, eine Entscheidung als falsch darzustellen, nachdem das gewünschte Ergebnis ausgeblieben ist. Kliff Kingsbury lag genau richtig damit, das kurze Fourth Down an der eigenen 30-Yard-Line in New Orleans auszuspielen. Die Cardinals waren ein massiver Underdog bei einem Titelanwärter und es war abzusehen, dass die eigene Defense die Saints früher oder später nicht mehr stoppen kann. New Orleans hatte in diesem Spiel 510 Yards bei 72 Plays, puntete nur zwei Mal und das Spiel war zu diesem Zeitpunkt vor allem so eng, weil die Saints ein Field Goal verschossen und den Drive vor der Halbzeitpause vermasselt hatten.
Arizona musste offensiv punkten um eine Chance zu haben, und Kingsbury tat genau das, was Reid und Denvers Vic Fangio nicht taten: Er gab seinem Team die bestmögliche Chance. Vielleicht nicht mit dem anschließenden Play-Call, aber mit der generellen Entscheidung. Dass Arizona dann das First Down nicht schaffte, macht die grundsätzliche Entscheidung nicht falsch - das ist ein kolossaler Denkfehler, der im Sport so oft als bequeme "Analyse" angewandt wird. Überspitzt formuliert: Stimmt das Ergebnis, war die Entscheidung richtig. Mit Verlaub: Schwachsinn.
Harbaugh und die Ravens
Die Cardinals hatten bis zu dieser Szene in der laufenden Saison fünf Fourth Down ausgespielt und allesamt zum First Down umgewandelt. Und das heißt natürlich nicht, dass Kingsbury mit seiner Entscheidung fünf Mal richtig und ein Mal falsch lag. Der Punkt ist: Coaches sind seit Jahren viel zu ängstlich was Fourth Down Conversions angeht. Und statt sich (inzwischen gar nicht mehr so) neuen Erkenntnissen zu öffnen, sehen wir Woche für Woche, wie Coaches ihre Siegchancen verkleinern, während sie denken, dass sie auf Nummer sicher gehen.
Die Ravens sind hier sicher auf der anderen Seite des Spektrums das positivste Beispiel, und vorneweg Baltimores Spiel in Kansas City zeigte, wie man in puncto In-Game-Coaching eine solche Partie angehen sollte. Coach John Harbaugh stellte anschließend klar, dass es ein "Possession Game" und kein "Field Position Game" war.
Anders gesagt: Die explosive Chiefs-Offense 30 Yards weiter hinten starten zu lassen, kann sich innerhalb eines Plays in Rauch auflösen. In so einem Spiel geht es darum, das Maximum aus den eigenen Possessions zu holen. Genau wie für Arizona in New Orleans am Sonntag.
In der Vorwoche gegen die Seahawks gab es den krassen Kontrast zwischen den Ravens, die bei Fourth Down in der Red Zone auf Touchdown gingen und den Seahawks, die im Wind und im Regen auf ein langes Field Goal setzten, statt die kurze Fourth-Down-Conversion zu versuchen.
Man kann dann auch schnell herausfiltern, welche Coaches bereit sind, sich zu ändern - und welche nicht. Harbaugh hatte vor einigen Wochen eine sehr deutliche Pressekonferenz zu dem Thema, Eagles-Coach Doug Pederson hat bereits vor zwei Jahren bestätigt, dass er während das Spiel läuft über sein Headset jederzeit mit einem Analytics-Experten sprechen kann und sich dementsprechend beraten lässt. Auch Kingsbury war nach der Niederlage in New Orleans hier unmissverständlich.
Mike Zimmer und die Frage: Wieso so einseitig?
Und dann gibt es Coaches wie Mike Zimmer. Die Vikings hatten im Spiel gegen Washington bei eigener 16:9-Führung ein Fourth-and-One an der eigenen 34-Yard-Line erfolglos ausgespielt. Es war die richtige Entscheidung, auch wenn die Redskins die QB-Sneak mit ihrer Interior Defensive Line stoppten.
Zimmers Kommentar zu der Situation anschließend lautete, dass es "wahrscheinlich die dümmste Entscheidung war, die ich getroffen habe, seit ich hier bin". Ein einziges Mal würde ich das gerne von einem Coach hören, nachdem sein Kicker ein 52-Yard-Field-Goal verschossen hat, weil der Coach ein kurzes Fourth Down in der gegnerischen Hälfte nicht ausspielen wollte. Oder nachdem man ein Spiel verloren hat, weil man im Rückstand in der Schlussphase den Ball zurück gibt, statt Fourth Down zu riskieren (ein Gruß an dieser Stelle auch an Bruce Arians und die Buccaneers).
Ein Fourth Down auszuspielen kann schief gehen, genau wie ein Field-Goal-Versuch. Das per se sagt uns aber erst einmal überhaupt nichts darüber, ob die eine oder andere Entscheidung richtig war.
Der Umgang mit Fourth Down spielt in dieser Kritik eine Rolle, genau wie etwa die Herangehensweise was Two-Point-Conversions und dergleichen angeht. Ein Beispiel: Wer mit 14 Punkten hinten liegt und dann einen Touchdown erzielt, sollte immer auf die 2-Point-Conversion gehen - gelingt sie, kann man das Spiel mit einem weiteren "normalen" Touchdown gewinnen. Gelingt sie nicht, kann man mit einem weiteren Touchdown und 2-Point-Conversion immer noch ausgleichen.
Auf Unentschieden und Overtime zu spielen ist der falsche Weg, genau wie auf ein langes Field Goal zu spekulieren, statt die Gewinnchancen seines Teams zu erhöhen. Das hat Matt Nagy am Sonntag gegen die Chargers erfahren müssen, auch wenn er sich anschließend bemerkenswert stur zeigte.
Ich applaudiere Flacco für seine Aussage, immerhin hat er damit seinen Head Coach öffentlich kritisiert. Er weiß natürlich, dass seine langfristige Zukunft nicht in Denver liegt, doch zu so einer Aussage mitten in der Saison gehört nichtsdestotrotz Mut. Und er liegt mit seiner Aussage genau richtig.
Coaches in der NFL sind konservativ und ängstlich, und das vielerorts in einem Ausmaß, dass genau der gegenteilige Effekt von dem, was sie glauben, zu erreichen, eintritt: Statt "auf Sicherheit" zu gehen und die vermeintlich weniger risikoreiche Variante zu wählen, verringern sie mit ihrem konservativen Denken die Siegchancen des eigenen Teams.
Das gilt auch für den Umgang mit dem Run Game, diese Woche war das Managen von Drives aber besonders eklatant. Fans, das wäre zum Abschluss noch wichtig, sollten nicht den Fehler machen, die Entscheidungen der Head Coaches oder die Aussagen eines Kommentators in diesen Momenten nicht zu hinterfragen, nur weil zweifellos jeder Coach mehr Ahnung von Football allgemein hat als jeder von uns.
Die Lücke zwischen Teams wird in dieser Hinsicht über die nächsten Jahre sehr schnell sehr viel größer werden, und das wird sich mittel- und langfristig auch ganz konkret in Siegen und Niederlagen bemerkbar machen.