Seit 2005 wurde im NFL Draft in jedem Jahr mit Ausnahme von 2012 ein Defensive Lineman in den Top-5 ausgewählt, in den vergangenen fünf Jahren ging jedes Mal ein Pass-Rusher innerhalb der ersten fünf Picks vom Board, vier Mal sogar schon in den Top-3.
2020 wird sich dieser Trend trotz einer insgesamt nicht allzu beeindruckenden Pass-Rusher-Klasse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fortsetzen. Der Grund dafür: Chase Young.
Young spielte 2019 eine Saison für die Geschichtsbücher: Der Junior kam auf 46 Tackles, 21 Tackles for Loss, 7 forcierte Fumbles, 16,5 Sacks und 58 Pressures. Herausragende Zahlen, die auf diesem Level landesweit unerreicht blieben - und das obwohl Young zwei Spiele gesperrt verpasste, nachdem er sich von einem Familienfreund Geld geliehen hatte, was einen Verstoß gegen die Regularien der NCAA darstellte.
Nie zuvor hatte ein Spieler an der renommierten Ohio State University in einem Jahr so viele Sacks sammeln können wie Young, der nach der Saison nicht nur zum besten Edge Defender und besten Verteidiger auf dem College-Level gewählt wurde, sondern sogar im Rennen um die Heisman-Trophäe bis zum Ende vorne mit dabei war. Als einer von nur neun Defensivspielern seit 1982 wurde Young tatsächlich für den Award nominiert und landete letztlich auf Platz vier. Die drei Plätze vor ihm belegten ausschließlich Quarterbacks.
Chase Young: Dominant auf der Highschool und dem College
Doch Youngs College-Zeit war nur ein weiteres Kapitel in seinem von purer Dominanz geprägten Football-Leben: Auf der Highschool verbuchte Young in seinem Senior-Jahr 118 Tackles und 19 Sacks, angeführt vom vielleicht besten Highschool-Spieler des Landes verlor die DeMatha Catholic High School kein einziges Saisonspiel.
Mehr als 40 Colleges warben schließlich um die Dienste des Supertalents, darunter Programme wie das der überaus erfolgreichen Alabama Crimson Tide von Nick Saban. "Hier geht es mehr um die Familie", begründete Young später seine Entscheidung für Ohio State. "Ich habe mich hier besonders gewollt gefühlt."
Es war eine Entscheidung, die Young nicht bereuen sollte: Gemeinsam mit Nick Bosa avancierte er bereits als Sophomore zum Albtraum einer jeden gegnerischen Offensive Line. Vollständig ging Youngs Stern allerdings erst im darauffolgenden Jahr, in dem er Woche für Woche einem Quarterback nach dem anderen das Leben zur Hölle machte, auf - und das obwohl jede Schule ihren Gameplan bereits komplett auf den Überathleten der Buckeyes zuschnitt.
Jahr | Spiele | Tackles | Tackles for Loss | Sacks | Hits | Hurries | Forced Fumbles |
2017 | 9 | 18 | 5 | 3,5 | 0 | 14 | 1 |
2018 | 13 | 34 | 14,5 | 10,5 | 14 | 50 | 1 |
2019 | 12 | 46 | 21 | 16,5 | 7 | 31 | 7 |
Chase Young: "Ich weiß, dass ich der Beste bin"
"Egal was wir versuchen, er macht uns fertig. So hat es sich angefühlt", beschrieb Indiana-Coach Tom Allen das geradezu hilflose Gefühl gegnerischer Offenses gegenüber ESPN. "Es ist wie in einem Action-Film: Du hast einen Plan, wie du mit diesem Ding, das du nicht zerstören kannst, fertig wirst, du denkst, du hast es geschafft und dann - Boom! - läuft er plötzlich durch die Flammen durch."
"Wir haben alles versucht", verriet auch Wisonsins Offensive Coordinator Joe Rudolph. "Wir haben die Verteidiger im Training die ganze Woche einen Schritt weiter vorne (Offsides) aufgestellt, um ihn zu imitieren. Anders ging es nicht."
"Wir sind alle davon ausgegangen, dass er sich zum Draft anmelden wird, aber als er es dann wirklich getan hat, haben wir eine kleine Party gefeiert", so Allen. "Ich hoffe, es kommen nicht noch mehr solche Typen wie er." Und Nebraskas Offensive Line Coach Greg Austin verriet: "Ich bin so froh, dass er ein Jahr früher gegangen ist."
Young ist sich seines speziellen Talents durchaus bewusst: Bei der Combine ließ er alle athletischen Tests in dem Wissen, ohnehin eine hohe Draft-Position garantiert zu haben, aus, er selbst sieht sich als den besten Spieler der gesamten Draft-Klasse - QB-Supertalent Joe Burrow inklusive. "Ja, auf jeden Fall", antwortete der Youngster erst kürzlich auf eben diese Frage von ESPN. "Ich weiß das ich der Beste bin, definitiv."
NFL: Ist Coverage wichtiger als Pass-Rush?
Man kann diese Aussagen von Young einordnen, wie man möchte. Klar ist allerdings, dass der 21-Jährige mit dieser Meinung keineswegs alleine dasteht. In zahlreichen NFL Draft Big Boards ist Young und nicht der voraussichtliche Nummer-eins-Pick und Heisman-Gewinner Joe Burrow auf Platz eins gelistet. Young gilt als das sicherste Talent im gesamten Draft, viele sehen in ihm einen praktisch garantierten Pro Bowler und All-Pro.
Und dennoch existieren rund um den teilweise als Jahrhunderttalent gefeierten Pass-Rusher und seine voraussichtliche Draft-Position aufgeregte Diskussionen: Youngs Qualitäten auf dem Football-Feld sind unbestritten. Welchen Wert diese Qualitäten im Jahr 2020 aber tatsächlich für eine NFL-Franchise haben, allerdings nicht.
Von Miller und Khalil Mack gelten aktuell als die besten Edge Rusher der NFL, der Erfolg ihrer Teams über die vergangenen Saisons ist allerdings überschaubar. In den vergangenen drei Jahren zogen Miller und Mack nur einmal in die Playoffs ein, ihre Teams weisen über diesen Zeitraum kumuliert eine negative Bilanz auf.
Darüber hinaus stellte Pro Football Focus zuletzt in gleich mehreren Studien Ergebnisse vor, die darauf hinwiesen, dass Coverage für den Erfolg einer Defense in der heutigen NFL wichtiger ist als Pass-Rush. Teams wie die New England Patriots, die Baltimore Ravens und die Buffalo Bills zählten zudem dank starker Secondaries und trotz eher durchschnittlichem Pass-Rush in der Vorsaison zu den besten Defenses der NFL.
Young könnte somit tatsächlich der beste Pass-Rusher der Liga und einer der stärksten Spieler auf seiner Position in diesem Jahrtausend werden und den Erfolg des eigenen Teams und der eigenen Defense dennoch eher marginal beeinflussen.
NFL Draft: Washington Redskins wollen wohl Chase Young
Aktuell deutet allerdings kaum etwas darauf hin, dass die Washington Redskins sich Youngs Dienste mit dem zweiten Pick des Drafts entgehen lassen werden: Bereits in den vergangenen drei Jahren wählte das Team in der ersten Draft-Runde stets einen Defensive Lineman, 2017 Jonathan Allen, 2018 Da'Ron Payne und 2019 Montez Sweat, aus, ein besonderer Fokus auf der Secondary liegt in Washington somit offensichtlich nicht vor.
Darüber hinaus scheint auch der neue Head Coach Ron Rivera nicht allzu angetan von der Idee, den zweiten Pick des Drafts, und damit vermutlich auch Young, abzugeben und sich im Gegenzug mehr Picks zu sichern. "Wenn du Spieler A nicht nimmst und stattdessen Spieler D nimmst, dann muss Spieler D genau so gut sein wie Spieler A", erklärte Rivera seine Philosophie im Vorfeld des Drafts. "Wenn Spieler A 10 Jahre für dich spielen wird, Spieler D aber vielleicht nicht, hast du dann wirklich einen Mehrwert erzielt oder nur einen Haufen Picks bekommen?"
"Man muss sagen können, dass der nächste Spieler, den man nehmen wird, einen hohen Einfluss haben wird. Und genau danach suche ich", so der Coach weiter. "Ich glaube, genau das brauchen wir: Einen Spieler, der zu uns kommt und unser Team von Grund auf ändern kann."
Aktuell deutet alles darauf hin, dass Young dieser Spieler sein soll. In diesem Fall würde Washington ein gigantisches Talent und einen nahezu garantierten zukünftigen Pro Bowler bekommen. Ob dieser Spieler allerdings tatsächlich "das Team von Grund auf ändern" kann, wie Rivera es sich erträumt? Das wird erst die Zukunft zeigen.