Mit Jameis Winston und nun auch Andy Dalton sind zwei weitere Quarterbacks vom Markt - Quarterbacks, die potenziell auch den New England Patriots hätten weiterhelfen können. Doch in Foxboro scheint man die Füße still zu halten und stattdessen Youngster Jarrett Stidham die große Chance geben zu wollen. Stabilität im Zeichen einer sehr instabilen Offseason - womöglich der richtige Weg? Oder hätten die Patriots mehr in die Nachfolge von Tom Brady investieren müssen? Die SPOX-Redakteure Marcus Blumberg und Adrian Franke diskutieren.
Marcus Blumberg: Die Patriots lassen sich traditionell nur schwer in die Karten schauen. In dieser Offseason allerdings scheinen sie zumindest in Sachen Quarterback keine allzu verwegene Taktik an den Tag zu legen. Die Indizien sprechen ganz klar für ein Szenario, das vorsieht, dass Jarrett Stidham als Starter in die Saison 2020 gehen wird. Offiziell werden auch Brian Hoyer Chancen eingeräumt, den Job zu ergattern, aber letztlich kann es eigentlich nur der Youngster sein.
Besagte Indizien sind: Die Patriots haben keine Anstrengungen unternommen, einen Veteran-Quarterback zu verpflichten. Mit Jameis Winston wurde offenbar nicht gesprochen, ebenso wenig mit dem kürzlich entlassenen Andy Dalton, der bekanntlich in Dallas untergekommen ist. Bliebe noch Cam Newton, der aber scheinbar auch kein Thema ist, selbst wenn Bill Belichick sich in der Vergangenheit durchaus lobend über den MVP von 2015 geäußert hatte.
Hinzu kommt, dass auch im Draft nichts unternommen wurde, um einen Quarterback abzugreifen. Sicherlich war keiner der Topleute in Reichweite, aber es ist auch nicht bekannt, dass Trade-Bemühungen nach oben unternommen wurden. Vielmehr ließ man zum Beispiel einen Jordan Love links liegen und tradete schlicht aus der ersten Runde raus. Anschließend wurden mit Brian Lewerke und J'Mar Smith noch zwei Undrated Rookie Free Agents verpflichtet, aber beide dürften über den Camp-Body-Status nicht hinauskommen - höchstens noch auf der Practice Squad landen.
Die Patriots scheinen der Meinung zu sein, dass Stidham - oder theoretisch noch Hoyer - die Lösung für 2020 ist. Und das kommt nicht von ungefähr. Stidham machte bereits im Vorfeld der vergangenen Saison einen guten Eindruck. In den Offseason-Camps und schließlich dem "echten" Training Camp zeigte er gute Ansätze, ebenso in der Preseason. Und dem Vernehmen nach entwickelte er sich hinter Tom Brady im Laufe der Saison sehr gut und zeigte vor allem eine grundlegend gute Technik.
Patriots: Stidham trainierte sehr häufig mit den Startern
Sicherlich ist das alles nicht viel wert, wenn er es dann nicht auch aufs Feld bringt. Und keiner weiß zum jetzigen Zeitpunkt, ob er das hinbekommt. Trainingsweltmeister gibt es viele, aber nur wenige setzen ihr Potenzial dann auch im Wettbewerb um. Insofern gehen die Patriots freilich großes Risiko. Aber sie wissen dieses natürlich besser einzuschätzen als der Rest von uns.
Was den Patriots sicher Hoffnung machen wird, ist die Tatsache, dass Stidham für einen (Rookie-)Backup im Vorjahr verhältnismäßig häufig mit den Startern trainieren durfte. Brady blieb dem Offseason-Programm fern und war innerhalb der Saison häufig dermaßen angeschlagen, dass er auch zahlreiche Trainingseinheiten nicht voll mitmachte oder gänzlich verpasste. Diese Reps entfielen auf Stidham, der dabei offensichtlich Eigenwerbung betrieb.
Abgesehen davon befinden wir uns in einer wahrlich einzigartigen Situation im Jahr 2020. Die Coronavirus-Pandemie zwingt die Teams zu massiven Einschränkungen. Das komplette Offseason-Programm findet entweder virtuell oder bei manchen Teams schlicht gar nicht statt. Vor dem Training Camp, sollten wir ein solches überhaupt in halbwegs normaler Form bekommen, wird es also keine gemeinsamen Einheiten auf dem Platz geben. Hätten die Patriots einen neuen QB dazu geholt, hätte der nicht nur das verhältnismäßig komplizierte Playbook lernen müssen, er wäre auch noch in eine Situation gekommen, in der er die Kollegen nicht mal über einen längeren Zeitraum auf dem Platz kennengelernt hätte.
Stidham dagegen kennt den Großteil der Kollegen in der Offense, bekommt sogar Center David Andrews, der die Saison 2019 mit einem Blutgerinnsel in der Lunge verpasste, zurück. Und er zeigte zumindest in der Preseason gutes Verständnis mit jungen Wide Receivern wie Jakobi Meyers, der mit Brady eher nicht zurechtkam. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die Patriots weder einen QB noch einen Wide Receiver gedraftet haben - ohne Offseason-Programm bleibt schlicht nicht genügend Zeit, um die zentralen Positionen der Offense gewissermaßen einzuarbeiten.
imago imagesPatriots: N'Keal Harry bestes Argument gegen neue Skill-Player 2020
Das beste Beispiel lieferten die Patriots im Vorjahr selbst, als der eigentlich hochveranlagte Erstrundenpick N'Keal Harry schon in der Offseason und im Camp mit Verletzungen zu kämpfen hatte und nie wirklich in Tritt kam, weil das Spielverständnis im System fehlte. Entsprechend klein war seine Rolle, als er dann doch fit wurde.
Niemand sagt, dass Stidham zwangsläufig der Quarterback der nächsten zehn Jahre in New England ist. Doch die Patriots sind in aller Regel gut darin, sich auf die besonderen Gegebenheiten einer jeden Situation einzustellen. 2020 birgt große Herausforderungen und Belichick und Co. sind offenbar der Meinung, dass Stidham in der aktuellen Lage die bestmögliche Lösung ist.
Adrian Franke: Zwei Argumente sind schwer zu wiederlegen: Ja, Stidham kennt die Offense und die Receiver besser als jeder Quarterback, den New England jetzt hätte verpflichten können - und angesichts einer mutmaßlich sehr ungewöhnlichen Saisonvorbereitung, welche die NFL-Teams erwartet, ist das ein potenzieller Faktor.
Der andere Punkt: Kein Team und kein Reporter kann Stidhams Entwicklung ansatzweise so gut einschätzen wie die Patriots. Womöglich hat er sich während seiner Rookie-Saison um ein Vielfaches gesteigert? Und vielleicht ist er bereits 2020 ein veritabler Starter? Aber hier beginnt dann der Kritik-Part: Ob er 2020 ein veritabler Starter sein wird, wissen wir alle erst, wenn er seine ersten NFL-Spiele absolviert hat - und das schließt ganz klar die Patriots mit ein.
In meinen Augen ist New England immer noch ein Team mit Playoff-Potenzial. Die Defense hat mit Van Noy und Collins zwei wichtige Spieler in der Front verloren, bekommt aber mit Kyle Dugger und Josh Uche aus dem Draft auch zwei neue Matchup-Waffen für Belichick. Die Secondary sollte noch immer zum Besten gehören, was die NFL zu bieten hat und Belichick selbst ist auch weiterhin gerade auf der defensiven Seite über jeden Zweifel erhaben.
Patriots-Offense: Was kann man realistisch erwarten?
Auf der anderen Seite des Balls sollte die Offensive Line stabiler daherkommen - aber das Waffenarsenal ist und bleibt ein potenzielles Problem. Schon letztes Jahr hatte New England damit zu kämpfen, dass Brady entweder schnell Druck hatte, welcher das Play beendete, oder aber - und das deutlich gravierender - zwar durch die Pocket navigierte, aber schlicht keiner seiner Receiver sich freilaufen konnte.
Diese Problematik ist immer noch zu erkennen, auch mit zwei neuen Tight Ends im Team. Was die Frage aufwirft: Wie weit kann ein junger, unerfahrener Quarterback, der als ziemliches Projekt in die NFL kam, eine Offense mit so einigen Fragezeichen bringen - nachdem Tom Brady letztes Jahr hier erhebliche Probleme hatte?
Oder anders gefragt: Was für einen Sprung müsste Stidham über ein Jahr gemacht haben, damit die Offense besser aussieht als letztes Jahr und so durchaus mögliche, vielleicht auch nur vereinzelte, Rückschritte der Defense auffangen kann?
Patriots: Ein riskantes Spiel mit der Zeit
Denn der Punkt hier für mich ist: Passiert das nicht, reden wir potenziell von einer sehr wackligen Patriots-Offense, und wo letztes Jahr vieles zusammenpasste - die dominante Defense, ein sehr freundlicher Schedule gerade zu Beginn der Saison - gibt es dann vielleicht mehr 10:17-, 9:14- und 6:10-Pleiten als eben knappe Siege.
2020 würde so zum Übergangsjahr werden, während die Defense nicht jünger wird, Edelman bald 34 Jahre alt ist - und Belichick ist auf Kurs, der älteste NFL Head Coach aller Zeiten zu werden. Sollten die Pats nächstes Jahr einen Quarterback draften, hätte Belichick diesen Titel bereits seit zwei Jahren inne, wenn dieser Quarterback seinen Rookie-Vertrag zu Ende gespielt hat.
Ich verstehe es, Stidham eine Chance zu geben, insbesondere, wenn er sich im Training so stark präsentiert hat, wie teilweise kolportiert wird. Ich kritisiere die Patriots auch gar nicht dafür, dass sie keinen de-facto-Starter geholt haben. Aber wenn man sieht, für was Winston bei den Saints und Dalton bei den Cowboys unterschrieben haben und dass Cam Newton eben immer noch auf dem Markt ist, lautet die Kritik dann eher: Warum nicht mal eine Alternative holen?
Warum nicht eine Alternative holen, die zunächst als Sicherheitsnetz fungiert, falls Stidham der Aufgabe doch nicht gewachsen ist? Und im Idealfall mit der möglichen Belohnung, dass man eine mittelfristige Quarterback-Lösung gefunden haben könnte? Das wären für mich Low-Risk-High-Reward-Verpflichtungen gewesen.
So gehen die Pats ultimatives Risiko auf der wichtigsten Position.