Nick Saban zählt zu den legendärsten Coaches der jüngeren Football-Geschichte. Der 69-Jährige gewann mit LSU und Alabama insgesamt sieben Championships, er coachte in 27 Bowl Games und hat deutlich über 300 Spiele als Head Coach auf dem Buckel. Saban hat in seiner langen Karriere fast alles gewonnen und fast alles erlebt.
Die Entscheidung, die Saban am 8. Januar 2018 traf, dürfte jedoch selbst für den Coach der Crimson Tide eine bislang unbekannte Erfahrung gewesen sein: Im National Championship Game gegen Georgia - dem größten Spiel des Jahres - entzog Saban seinen Startern, den Spielern, die Alabama zuvor bis ins Finale geführt hatten, in der Halbzeit das Vertrauen. Weil seine Offense den Ball kaum bewegt bekam, schickte Saban in der zweiten Hälfte eine Handvoll Freshmen aufs Feld.
Statt Jalen Hurts verantwortete Tua Tagovailoa als Quarterback die Offense der Crimson Tide, an seiner Seite die Youngster Jerry Jeudy, Henry Ruggs III, Najee Harris und DeVonta Smith. Es wirkte wie eine Verzweiflungstat von Saban. Doch sie war von Erfolg gekrönt.
Alabama kämpfte sich von einem 0:13-Rückstand zurück, erreichte die Overtime und erzielte dort schließlich den entscheidenden Touchdown: Tagovailoa fand Smith bei einem Second-and-26 mit einem spielentscheidenden Touchdown-Pass über 41 Yards in der Endzone. Es war der Beginn des meteorhaften Aufstiegs von Tagovailoa, vom Backup zu einem der größten Talente des Landes.
Was damals noch niemand ahnte: Der Comeback-Sieg der Crimson Tide markierte auch den ersten spektakulären Auftritt des Spielers, der später die wahrscheinlich beste Saison eines College-Receivers aller Zeiten spielen sollte: DeVonta Smith.
DeVonta Smith: "Meine Arbeit hier ist noch nicht getan"
Dabei sprach vor rund einem Jahr noch wenig dafür, dass Smith für seine Rekord-Saison überhaupt nochmal an den Tuscaloosa-Campus zurückkehren würde. In drei Jahren hatte er 118 Pässe und 23 Touchdowns gefangen, mit 14 Touchdowns 2020 sogar einen neuen Schulrekord aufgestellt.
Smith hatte das National Championship Game gewonnen, mit seinem 41-Yard-Touchdown war er sogar der Held bei dem Triumph gewesen. Zahlreiche seiner Weggefährten, darunter Jeudy, Ruggs und Tagovailoa, verließen in diesem Sommer zudem die Schule und machten sich auf, auch in der NFL zu Stars zu avancieren.
Doch Smith wollte bleiben: "Meine Arbeit hier ist noch nicht getan. Ich kann sie nur vollenden, wenn ich noch ein weiteres Jahr bleibe", erklärte der Wide Receiver.
Smith wollte einen weiteren nationalen Titel gewinnen. Einen Titel, bei dem er Starter und zentraler Bestandteil der Offense war, keine Notfalloption im Falle eines verzweifelten Rückstands. Es verdeutlicht Smiths Wesen als hochehrgeiziger Wettkämpfer und harter Arbeiter. Ein Wesen, das er bereits seit Jugendtagen in sich trug.
DeVonta Smith: Jerry Rice 2.0
Auf der High School war Smith bereits knapp 1,85 Meter groß, brachte aber nur etwas mehr als 60 Kilogramm auf die Waage. Seine Arme und Beine wirkten zerbrechlich wie Zahnstocher - mehr noch als heute, wo Smith zwischen seinen muskelbepackten Teamkollegen nach wie vor heraussticht und sich so den Spitznamen "Slim Reaper" einhandelte.
Seine Mitspieler machten sich damals über die schmächtige Statur des Youngsters lustig. Doch Smith versteckte sich nicht, er sah eine Herausforderung: Fortan machte Smith jedes Mal, wenn er seine Reflektion in einem Spiegel oder einem Fenster sah, zehn Liegestütze. So berichten es ehemalige Mitspieler und Coaches. Vor jedem Training kamen 100 weitere Liegestütze hinzu.
"Weil er so schmächtig gebaut ist, nehmen ihn viele Gegner auf die leichte Schulter. Doch DeVonta mag es so, denn kurz darauf hat er sechs Catches und 200 Yards", verrät sein ehemaliger High-School-Coach Zephaniah Powell. "DeVonta war für uns Jerry Rice 2.0. Auch Jerry war nicht der Stärkste, nicht der Schnellste, nicht der Größte. Doch auf dem Footballfeld war er technisch einwandfrei."
"Er war ein Spieler, der immer offen sein konnte, ganz egal gegen wen er gespielt hat", erinnert sich Billy Napier, Smiths Receiver-Coach bei Alabama. "Selbst als ganz junger Spieler konntest du deine besten Cover-Spieler gegen ihn stellen und er lief sich trotzdem frei."
DeVonta Smith: Einsätze in Special Teams und der Defense
Bei den Crimson Tide ersetzte er seine täglichen 100 Liegestütze durch 100 Catches an der Jugs-Maschine. Zusätzlich zum regulären Training selbstverständlich. Ehemalige Weggefährten beschreiben Smith als Arbeitsmaschine und als Teamspieler.
Als er in seiner Freshman-Saison kaum Snaps mit der Offense spielen durfte, bat er darum, als Gunner in den Special Teams zum Einsatz zu kommen. In den Trainings nahm Smith teilweise sogar die Rolle eines Cornerbacks ein, um möglichst viel auf dem Feld stehen zu können.
"Er ist wahrscheinlich der härteste Junge, den ich jemals trainiert habe", zeigt sich sein ehemaliger Coach Anthony Gordon beeindruckt. "Die meisten Jungs wollen nicht in der Defense spielen, weil du dort weniger glänzen kannst und sehr zäh sein musst. Doch er hat seinen Körper eingesetzt und Gegenspieler umgehauen. Er versucht dir deinen Kopf abzureißen."
"Ich denke, es zeigt, was für eine Persönlichkeit er ist, was für ein Wettkämpfer er ist, was für ein Teamspieler er ist", lobt auch Saban. "Er ist wahrscheinlich einer der selbstlosesten Spieler, die ich jemals coachen konnte."
DeVonta Smith: Märchen-Vorstellung im Championship Game
Tatsächlich stand Smith die größte Zeit seiner College-Karriere nicht im Mittelpunkt. Lange musste er sich das Rampenlicht mit Jeudy und Ruggs teilen. Selbst nach seiner Saison mit mehr als 1200 Yards und 14 Touchdowns galt nicht Smith, sondern sein Teamkollege Jaylen Waddle als der spektakulärste Receiver der Crimson Tide.
Folglich ging Smith keineswegs als Heisman-Kandidat, nicht mal als Geheimfavorit oder Außenseiter auf den Award in die vergangene Saison. Innerhalb von nur drei Monaten spielte sich der "Slim Reaper" jedoch in die Schlagzeilen und an die Spitze aller Ranglisten des prestigeträchtigsten College-Awards.
Der 22-Jährige beendete sich Saison mit 1856 Receiving Yards, 23 Receiving Touchdowns und 117 Receptions. Jeder der Werte zählte zu den besten, die jemals in den Power Five Conferences erreicht wurden.
Im National Championship Game zeigte Smith die nächste Märchen-Vorstellung: Der Receiver verbuchte zwölf Catches, 215 Yards und drei Touchdowns - alle in der ersten Halbzeit - und führte Alabama somit nahezu im Alleingang zum Sieg über Ohio State.
DeVonta Smith: Der beste Spieler der College-Saison
Als erster Receiver seit 30 Jahren wurde Smith am Saisonende mit der Heisman Trophy ausgezeichnet, erstmals wurde ein Pass-Catcher zum AP Player of the Year gewählt. Darüber hinaus gewann Smith den Maxwell Award, den Walter Camp Award, den Biletnikoff Award und den Hornung Award. Als erster Spieler überhaupt räumte Smith in einer Saison alle Auszeichnungen ab. Es gab somit keine Zweifel: Der beste Spieler der College-Saison hieß DeVonta Smith.
Smith kommt als Alabamas Rekordhalter in Receiving Yards und Touchdowns in die NFL. Seiner College-Karriere ist ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher.
Als Nummer-eins-Receiver gilt er in den meisten Mock Drafts und Receiver-Rankings allerdings dennoch nicht. Ja'Marr Chase von LSU steht in den meisten Ranglisten noch über Smith, selbst Teamkollege Waddle wird teilweise vor dem Heisman-Gewinner gesehen.
Smith scheint vor seinem Wechsel zu den Profis somit einmal mehr unterschätzt zu werden. Sofern der bisherige Verlauf seiner Karriere ein Indiz für seinen Erfolg in der NFL ist, dürfte er sämtliche Skeptiker jedoch schon bald eines Besseren belehren.
Alabama: Die besten Wide Receiver unter Nick Saban
Spieler | Yards | Touchdowns |
DeVonta Smith | 3750 | 43 |
Amari Cooper | 3453 | 31 |
Calvin Ridley | 2781 | 19 |
Jerry Jeudy | 2742 | 26 |
Julio Jones | 2653 | 15 |
Jaylen Waddle | 1695 | 17 |