Lange war das Quarterback-Karussell auffallend ruhig - und dann kam der große Knall: Russell Wilson geht per Trade zu den Denver Broncos, die Seattle Seahawks drücken damit den Neustart-Knopf. Doch wie lässt sich die Seahawks-Perspektive erklären? Und was sagt das über den weiteren Quarterback-Markt und den Draft aus?
Außerdem: Warum die Entscheidung jetzt auch zur Legacy-Frage für Pete Carroll und John Schneider wird - und ist die Kompensation aus Seahawks-Sicht überhaupt fair?
Fünf Fragen zum spektakulären Trade kurz vor dem Start der Free Agency.
1. Was bedeutet der Trade für die Seahawks?
Ist das ein guter Trade für die Seahawks? Nein. Nein, weil es nie ein guter Trade ist, wenn man einen Top-10-Quarterback, der noch immer auf einem hohen Level spielt, abgibt.
Umso weniger in einem Jahr, in dem der Draft wenig auf der Position hergibt und die nächste Quarterback-Lösung nicht in Sicht ist. Das muss man an der Stelle grundsätzlich klarstellen.
Die nächste Frage wäre dann: Hätten die Seahawks mehr bekommen können?
Aus Seahawks-Perspektive hätte ich drei Erstrunden-Picks gefordert; zwei Erstrunden-Picks - einer davon Nummer 9 Overall, sowie zwei Zweitrunden-Picks, von denen einer Pick Nummer 40 im diesjährigen Draft sein wird, sind nicht ganz der gleiche Wert. Aber es ist auch keine Katastrophe.
In Kombination mit insbesondere Noah Fant - Shelby Harris ist ein solider Defensive Tackle, aber eben auch schon 30 Jahre alt, und Drew Lock ist ein Backup-Quarterback - hat Denver zwar einen guten Deal gemacht, aber die Seahawks haben hier immer noch halbwegs fairen Value zurückbekommen.
Seattle hat hier nicht am Trade-Tisch die Hosen ausgezogen bekommen, dennoch ist komplett nachvollziehbar, warum Seahawks-Fans an diesem Trade nichts Ermutigendes sehen. Einen Top-10-Quarterback abzugeben ohne einen Nachfolger in der Hinterhand führt unweigerlich dazu, dass man ins große Ungewisse geht.
Und dass man potenziell für lange Zeit sportlich irrelevant sein wird.
Die Seahawks sparen 11 Millionen Dollar an Cap Space, und das obwohl sie 26 Millionen Dollar Dead Cap im Zuge des Trades auf sich nehmen. Die zweithöchste Dead-Cap-Summe aller Zeiten, getoppt nur von den 33,8 Millionen, die Philadelphia schluckte, als die Eagles Carson Wentz nach Indianapolis tradeten.
Seattles Kader brauchte einen Rebuild
Also, wo liegt das "Aber"? Es war zunächst einmal kein guter Trade für die Seahawks - aber?
Die Realität mit Blick auf Seattles Kader war auch vor dem Wilson-Trade düster. Es gab kaum Building-Blocks, also Spieler, um die man über die nächsten 3, 4 Jahre und womöglich darüber hinaus etwas aufbauen kann. Metcalf, Jamal Adams, Jordyn Brooks - da endet die Liste vermutlich auch schon, und nur einer dieser drei Spieler besetzt eine Premium-Position.
Seattle hatte über die letzten Jahre wenige Ressourcen, und das hätte sich zumindest in puncto Draft-Kapital ohne den Wilson-Trade auch in diesem Jahr fortgesetzt. Dafür waren die Baustellen zahlreich, nicht nur perspektivisch.
Die Offensive Line ist ein Problem, der Pass-Rush ist nicht gut, mehrere Starter in der Secondary werden Free Agent und Spieler wie Bobby Wagner und Tyler Lockett sind auf dem absteigenden Ast, oder kurz davor. Wagner wurde kurz nach dem Trade entlassen, Lockett soll Berichten zufolge per Trade zu haben sein.
Wie realistisch war es, dass man um Wilson nochmal einen Championship-Kader zusammenbauen würde?
Es ist überraschend, dass der 70-jährige Pete Carroll diesem Weg zugestimmt hat und, dass er jetzt einen Rebuild in Seattle anführen wird. Doch vielleicht kamen sie in Seattle zu dem Schluss, dass ein Neustart alternativlos ist - und dass der nicht mehr mit Wilson stattfinden wird. Dass man Wilson nicht in absehbarer Zeit 50 Millionen im Jahr bezahlen will, während Wilson selbst Seattle zu weit weg vom Contender-Status sah.
Die Seahawks haben eine konsequente Entscheidung getroffen
Wenn man an diesen Punkt kommt, dann war es aus Seahawks-Perspektive konsequent, jetzt diesen Schritt durchzuführen. Wilsons Trade-Value wird vermutlich nicht mehr größer über die nächsten Jahre, und der falsche Ansatz wäre es in beide Richtungen gewesen, wenn man eine halbgare Lösung gewählt hätte.
Also: Wilson zu behalten, aber dann nicht aggressiv um ihn herum zu investieren, und so im oberen Mittelmaß festzusitzen - oder eben zu dem Schluss zu kommen, dass man mit diesem Kern keinen Titel mehr gewinnt, aber nicht gewillt sein, den harten Cut auch durchzuführen.
In beiden Fällen hätte Seattle über die nächsten zwei bis drei Jahre vermutlich acht, neun, vielleicht mal elf Spiele gewonnen, aber wäre nicht Teil des Contender-Kreises gewesen.
Mit Wilson wären diese Jahre signifikant positiver gewesen als ohne ihn, das ist klar, und mit einem Top-10-Quarterback hat man immer zumindest eine Chance. Aber wenn Wilson tatsächlich weg wollte, und gleichzeitig die Verantwortlichen in Seattle zu dem Schluss kamen, dass der Rebuild unvermeidbar ist?
Dann liegt eine Konsequenz in dieser Entscheidung, die zumindest für eine bessere Selbsteinschätzung der eigenen Situation spricht, als wir das in vergangenen Jahren in Seattle gesehen haben.
2. Was bedeutet der Trade für die Broncos?
Trevor Siemian, Paxton Lynch, Brock Osweiler, Case Keenum, Joe Flacco, Drew Lock, Brandon Allen, Jeff Driskel, Brett Rypien, Teddy Bridgewater.
Das ist die Liste der Starting-Quarterbacks, welche die Broncos seit dem Ende der Peyton-Manning-Ära angeführt haben. Wir sprechen dabei über einen Zeitraum von sechs Jahren.
Kaum ein Team war über diese Zeit so sehr auf der Suche nach einem neuen Quarterback, kaum ein Team unternahm so viele Anläufe. Sei es hoch im Draft wie mit Lynch und Lock, mit Veterans wie Flacco, Keenum und Bridgewater, oder mit kompletten Wildcards wie Brandon Allen und Trevor Siemian.
Es ist dementsprechend kein Zufall, dass die Broncos schon im Vorjahr, als Aaron Rodgers' Unzufriedenheit in Green Bay schließlich an die Oberfläche kochte, als der heißeste Favorit auf einen potenziellen Rodgers-Trade galten.
Dieses Spielchen setzte sich dann prompt in dieser Offseason fort. Rodgers ließ sich Zeit mit seiner Entscheidung, während Denvers neuer Head Coach Nathaniel Hackett aus Green Bay kam und dort eine sehr gute Beziehung zu Rodgers hatte. Rodgers' Entscheidung soll letztlich auch zwischen Denver und Green Bay gefallen sein.
Broncos öffnen ein Titelfenster
Am Ende wurde es Russell Wilson für die Broncos, doch die generelle Marschrichtung ist klar: In Mile High hatten sie genug von der Quarterback-Verzweiflung.
Genug davon, einen guten - und in Teilen sehr guten - Kader Jahr für Jahr zu verschwenden, ohne dass dabei Zählbares herauskam, weil man auf der wichtigsten Position zu schwach besetzt war.
Dieser Move ist genau das, was ich selbst so häufig predige: Teams sollten immer auf der Suche nach einem Quarterback-Upgrade sein. Und wenn ein Top-10-Quarterback verfügbar ist, während man selbst im kompletten Niemandsland auf der Position unterwegs ist, dann sollte man alle Hebel in Bewegung setzen, um diesen Quarterback zu bekommen.
Das haben die Broncos mit Rodgers versucht, und sie haben es mit Wilson versucht, und dafür kann man sie nur beglückwünschen.
AFC West: Die stärkste Division in der NFL
Dieser Trade öffnet ein Titelfenster für die Broncos. Denver hat einen exzellenten, jungen Receiver-Room, mit Jeudy, Sutton, Hamler und Tim Patrick.
Die Offensive Line ist solide, Right Tackle wird hier die Priorität in der Offseason sein. Und man hat einen starken defensiven Kern, um Spieler wie Simmons, Surtain und Chubb - mit Gerüchten über eine Rückkehr von Von Miller am Horizont.
Es wird spannend sein zu sehen, wie Hackett seine offensive Philosophie mit Wilson kombiniert, denn Wilson ist kein Quarterback, der einfach in jede Offense passt. Aber die Broncos haben jetzt ein Titelfenster geöffnet, und sorgen mit diesem Trade zudem dafür, dass die AFC West die mit Abstand stärkste Division in der NFL ist.
3. Was bedeutet der Trade für Russell Wilson?
Wilson hatte über die vergangenen beiden Jahre immer wieder mal durchsickern lassen, dass er mit einigen Dingen unzufrieden ist. Wie etwa, als er am Rande des Super Bowls im Vorjahr kein Geheimnis daraus machte, dass er sich mehr Investitionen in die Offensive Line wünscht.
Wilson sagte damals öffentlich, dass er "frustriert" ist. In den Tagen nach dem Super Bowl schrieb ich darüber, ob die Seahawks sich jetzt Sorgen machen müssen. Dass Wilson, so wie andere Quarterbacks auch, gemerkt hat, welchen Einfluss er ausüben und welchen Druck er öffentlich aufbauen kann - und dass sich die Seahawks aber auch die Frage stellen müssen, inwieweit sie Wilson in Prozesse und Kaderentscheidungen involvieren wollen.
Wie viel Einfluss sie ihm geben wollen, wie sehr sie die nächsten Jahre an Wilson und seinen unkonventionellen Spielstil knüpfen wollen. Wie gefährlich es werden könnte, wenn Seattle Wilsons klar geäußerte Signale ignoriert.
Wilson bekommt die Chance, die er wollte
Nach dieser Saison dann hat Wilson kein Öl mehr ins Feuer gegossen. Im Gegenteil, er sagte nach außen hin all die "richtigen" Dinge - dass er ein Seahawk bleiben wolle, dass er mit Seattle noch einen Titel gewinnen wolle - und schaltete dann nach außen hin weitestgehend auf Funkstille.
Doch einige Berichte aus Seattle legen nahe, dass nicht nur die Seahawks die Zeichen der Zeit Richtung Neustart interpretierten - sondern auch Wilson selbst. Michael-Shawn Dugar, Seahawks-Reporter für The Athletic, berichtete das.
Jetzt bekommt er seine Chance. Und wir wissen, dass es eine Chance ist, die Wilson auch als solche wahrnimmt - schließlich musste er dank seiner No-Trade-Klausel diesem Trade zustimmen.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich Wilsons Gedankengang dabei herzuleiten. Wo bei Seattle viele Baustellen und wenige Ressourcen das Thema dieser Offseason waren, haben die Broncos über die letzten Jahre einen starken Kader aufgebaut, auf beiden Seiten des Balls. Wilson kann jetzt zeigen, dass er noch immer ein Elite-Quarterback ist - und das wird er auch müssen, angesichts der Konkurrenz innerhalb seiner Division und auch, wenn man einen Schritt weiterdenkt, innerhalb der AFC.
Mit Mahomes, Herbert, Allen, Jackson, Burrow und Co. hat die AFC aktuell das Quarterback-Übergewicht im Vergleich der beiden Conferences. Der Weg in die Playoffs und Richtung Super Bowl wird für Wilson also nicht gerade leichter, auch wenn er in ein ohne Frage stärkeres Team kommt als das, welches er in Seattle hinter sich lässt.
4. Was bedeutet der Trade für den Quarterback-Markt?
Noch am Dienstag hatte ich darüber geschrieben, dass das Quarterback-Karussell auf den ersten Domino wartet - und dass sich alles zäher entwickelt als gedacht.
Das änderte sich, als Aaron Rodgers verkündete, in Green Bay bleiben zu wollen. Keine drei Stunden später war der Wilson-Trade publik. Der erste Dominostein war gefallen, und Nummer zwei folgte unmittelbar danach.
Die Vermutung liegt mehr als nahe, dass die Broncos über die letzten Wochen in den Gesprächen hinter den Kulissen zweigleisig gefahren sind. Wohlwissend, dass am Ende vielleicht nur einer - oder auch keiner - der beiden künftigen Hall-of-Fame-Quarterbacks verfügbar sein wird.
Welche Quarterbacks rücken jetzt in den Fokus?
Doch was werden die nächsten Schritte sein? Welches sind überhaupt die nächsten Dominosteine, die für Teams noch interessant sind - und die tatsächlich verfügbar sind?
Jimmy Garoppolo, der nach einem Eingriff an seiner rechten Schulter bis in den Juni vermutlich nicht werfen wird, noch am ehesten.
Doch ist die Situation ähnlich wie im Vorjahr, nachdem Stafford vom Markt war: Die Alternativen sind signifikant schwächer. Letztes Jahr wechselten dann Carson Wentz und Sam Darnold per Trade, wie verzweifelt sind Teams in diesem Jahr?
Auf Spieler wie Garoppolo, oder dann auf dem Free-Agency-Markt Jameis Winston, Marcus Mariota, Mitch Trubisky und Co. werden sich Teams wie die Carolina Panthers oder die Washington Commanders jetzt vermutlich dennoch stürzen.
Washington und Carolina weiter auf der Suche
Insbesondere Washington soll gerade bei Wilson mitgeboten haben und scheint händeringend einen Veteran zu suchen. Ist das jetzt der Top-Kandidat für Garoppolo? Und was machen die Panthers, bei denen Matt Rhule stark angezählt ist? Setzen sie wirklich auf Darnold und einen Rookie daneben? Das ist schwer vorstellbar.
Auch Pittsburgh soll Interesse an Rodgers gezeigt haben. Bei den Steelers herrscht zwar nicht der gleiche Druck wie in Carolina, doch dieses Team ist in vielen Teilen bereit, um jetzt anzugreifen. Wird hier am Ende ein Rookie das Zepter übernehmen? Pittsburgh könnte ein klarer Kandidat sein, um eine solide Übergangslösung - Mariota, Winston etwa - zu verpflichten, um dann den aggressiven Move für Malik Willis im Draft hinzulegen.
Vielleicht ist die Tatsache, dass Rodgers letztlich nicht verfügbar war und Wilson dann schnell vom Markt geholt wurde, das richtige Signal für ein Team wie die Vikings, um über einen Trade des eigenen Starters nachzudenken. Denn der Preis dürfte in den kommenden Tagen eher hoch gehen.
5. Was bedeutet der Trade für den Draft?
Die Seahawks hätten eigentlich den Nummer-10-Pick im diesjährigen Draft gehabt - doch im Zuge des Trades für Jamal Adams gehört dieser Pick noch den New York Jets.
Stattdessen picken sie jetzt an Position 9, und gehören offiziell zu den Teams, die auf Quarterback-Suche sind.
Es ist keine starke Quarterback-Klasse; eine Situation wie im Vorjahr, als die ersten drei Picks allesamt Quarterbacks waren, wird es dieses Jahr sicher nicht geben. Vielmehr scheint die zweite Hälfte der Top 10 ein guter Spot für den ersten Quarterback-Pick zu sein.
Die Seahawks sind jetzt exakt in der Reichweite, um den ersten Quarterback im diesjährigen Draft auszuwählen.
Wird das der Plan der Seahawks sein? Das ist komplett offen.
Legacy-Entscheidungen für Carroll und Schneider
Dass Drew Lock in diesen Deal involviert ist, könnte nahelegen, dass Seattle Lock als Übergangslösung sieht, und die Quarterback-Entscheidung erst einmal auf die lange Bank schieben will. Man könnte dazu einen günstigen Veteran wie etwa Mariota ins Boot holen, und den Draft aus Quarterback-Perspektive erst einmal ignorieren
Vielleicht werden sie aber auch einen Quarterback in der Top-10 draften, um ihn dann erst einmal auf die Bank zu setzen.
In jedem Fall hat jetzt ein Team, das im vergangenen Draft drei (!) Picks tätigte, und nur einen davon in den Top-130-Picks, und das zuletzt 2012 in der Top-15 pickte, nicht nur einen Top-10-Pick, sondern auch perspektivisches Draft-Kapital.
Wie die Seahawks diesen Rebuild jetzt angehen, sehr spannend zu beobachten. Es wird uns einiges über Pete Carroll und John Schneider verraten.
Und es wird, nach den frühen Erfolgen in der Wilson-Ära, gefolgt von fragwürdigen Kader-Entscheidungen und einer Playoff-Bilanz von 3-5 seit der Super-Bowl-Niederlage gegen die Patriots, ihre Legacy jetzt mit prägen.