3. Die Cardinals: Die Kyler-Murray-Show als Sinnbild
Der Auftritt der Cardinals in Las Vegas war bis in die zweite Hälfte eine erschreckende Fortsetzung eines desolaten Auftritts in der Vorwoche: Ohne Plan, ohne Juice, ohne Mut oder wenigstens Wut im Bauch. Ohne Physis und ohne erkennbaren Willen.
Es waren Spieler wie Greg Dortch und Eno Benjamin, die dem Team neue Energie gaben. Defensiv stabilisierte sich der Pass-Rush.
Es war aber vor allem Kyler Murray, der dieses Team in der zweiten Hälfte wiederbelebte und das Spiel an sich riss. Murray lief den Ball deutlich mehr in der zweiten Hälfte, er improvisierte, er kreierte Plays und brachte ein Team, das zur Halbzeit tot wirkte, zurück und man muss davon ausgehen, dass ohne Murrays Qualitäten insbesondere was das selbständige Kreieren außerhalb von Plays angeht, die Cardinals nicht ansatzweise in dieses Spiel zurückgekommen wären. Es war das erste Mal in der NFL-Geschichte, dass ein Team mit mindestens 20 Punkten im Rückstand und ohne eigene Punkte zur Halbzeit das Spiel am Ende noch gewann.
Während die Tatsache, dass Murray sie in dieses Spiel zurückbrachte, den Cardinals Mut für die Zukunft ihres Franchise-Quarterbacks auch aus mentaler Perspektive machen darf, war es doch ein Spiel, das ein Stück weit sinnbildlich für die Probleme dieses Kaders standen. Die Hilfe von außen fehlte - in mehrfacher Hinsicht. In puncto Coaching, aber auch in puncto Roster-Building.
Wir kennen am Ende des Tages nie alle Details; mehr noch, wir kennen kaum Details, wenn es um die Entscheidungen von GMs und Teambesitzern geht. Die Cardinals sind ein gutes Beispiel dafür: Vermutlich waren die Vertragsverlängerungen von unter anderem Kyler Murray, D.J. Humphries und Jalen Thompson bereits im Frühjahr eingeplant, und die Menge an Geld, das für jene Garantien draufgeht, hat Teambesitzer Michael Bidwill einer potenziell aggressiven Free Agency einen Riegel vorschieben lassen.
Womöglich hat auch ein Umdenken in der generellen Roster-Building-Strategie stattgefunden. Dahingehend, dass man bewusst auf junge, selbst gedraftete Spieler setzt - wie etwa Rashard Lawrence, Zach Allen, Michael Dogbe und Victor Dimukeje in der Front, oder Marco Wilson auf Cornerback -, während man sich mehr auf zusätzliche Draft Picks über die Compensatory Formel fokussiert. Auch diesen Schluss würde die diesjährige Offseason unterstützen.
Was es auch genau war, das Endresultat wirkt mindestens mal für den Moment planlos. Denn während Teams wie die Chargers, Bengals, Dolphins oder Eagles All-In gehen und versuchen, um ihre noch günstigen Quarterbacks ein Titelfenster zu öffnen, sind die Cardinals gerade dabei, das vorletzte Jahr, in dem Murray noch vergleichsweise günstig ist, zu verschwenden - mit einem Team, dessen Zusammensetzung immer wieder Rätsel aufgibt.
Arizonas Offense: Sehr stark abhängig von den Playmakern
Zumindest offensiv lässt sich, was die Spielphilosophie angeht, eine klare Identität erkennen: Arizona steht und fällt mit der individuellen Qualität seiner Passing-Offense, und das geht Hand in Hand mit der Offense, die die Cardinals spielen. Auch wenn sich Kingsbury über die Jahre merklich an die NFL angepasst hat, ist es nach wie vor eine Receiver-lastige Air-Raid-ähnliche Offense, die weniger über Komplexität und Vielseitigkeit - oder generell: das Scheme - punktet, und stattdessen vor allem schnell sein will.
Wenig Zeit zwischen den Snaps, dadurch klare Matchups für den Quarterback und die Idee, dass die eigenen Receiver häufiger ihre Matchups gewinnen - eine Idee, die Vorteile bieten kann. Doch auch ein Ansatz, der die Offense eindimensional und statisch macht. Und eben abhängig davon, dass die individuelle Qualität der eigenen Receiver extrem hoch ist. Das hilft auch, zu erklären, warum DeAndre Hopkins quasi nicht zu ersetzen ist in dieser Offense.
Die Nachteile wirken hier aber zunehmend groß auf dem NFL-Level, auf dem es meist riskant ist, maßgeblich auf größere, eigene individuelle Qualität zu setzen. Irgendwann wird man ausrechenbar. Wenn Hopkins zurückkehrt, hat Arizona mit ihm, Marquise Brown, A.J. Green, Rondale Moore und Zach Ertz ein starkes Arsenal, mit Spielern wie Greg Dortch oder Rookie Trey McBride dahinter. Aber man muss eben individuell dominieren, und das ist ein wackeliges Kartenhaus.
Und dennoch unterstreicht die Offense bei genauerem Hinsehen das große Problem der Cardinals: Einzig Kyler Murray und Left Tackle D.J. Humphries wurden in der aktuellen Starting-Offense selbst gedraftet. Das macht die Unit alt, sehr bald werden mehrere Starter in der O-Line ersetzt werden müssen. Es sorgt dafür, dass dem Kader die Tiefe fehlt und dass man sich noch immer auf Spieler wie Green verlassen muss, der mehrere Big Plays gegen die Raiders liegen ließ.
Hier könnte man die Team-Analyse an sich auch beenden:
- Arizonas Offense ist abhängig davon, dass die Receiver individuell dominieren und Murray auf einem konstant hohen Level spielt und selbst kreiert. Das ist schwer, über eine gesamte Saison aufrechtzuerhalten und ist für mich ein maßgeblicher Faktor in den Late-Season-Kollapses. Das ist eine direkte Kritik an Kliff Kingsbury.
- Die Defense derweil hat mit ihrem aktuellen Personal extrem wenige Optionen, da hier so viele Baustellen immer berücksichtigt werden müssen. Weil hier zwar mehr Talent identifiziert, aber nicht Talent sinnvoll zusammengebaut wurde. Das ist eine direkte Kritik an Steve Keim.
Keim lebt seit Jahren von einzelnen guten Trades und Veteran-Moves. Doch er hat nicht gezeigt, dass er ein Team mit einer Identität planen oder gar zusammenbauen kann. Kingsbury hat zumindest gezeigt, dass er Murray bei dessen Entwicklung helfen kann und dass er mit Play-Designs punkten kann. Ohne den nächsten Schritt in seinem Scheme und in seinen Game Plans wird das aber nicht reichen.
Denn dann bekommt man das, was die Cardinals als Team insgesamt aktuell darstellen: Eine Reihe individueller Talente - oder eben Play-Calls -, ohne dass das Gesamtergebnis besser wäre als die reine Summe der Einzelteile.
Arizona und die Faszination mit Hybrid-Verteidigern
Jalen Thompson, Budda Baker, Markus Golden, Zaven Collins, Byron Murphy, Isaiah Simmons - vermeintlich -, Rashard Lawrence und Zach Allen sind Starter auf dieser Seite des Balls, alle wurden selbst gedraftet. Mit Marco Wilson und Ex-UDFA Dennis Gardeck gehören noch zwei weitere selbst "gefundene" Talente aktuell ins Starting-Lineup.
Doch auch hier gibt es ein übergreifendes Problem, welches viel Draft-Kapital gekostet hat und welches die Identitätsproblematik unterstreicht und mit bewirkt: Die Cardinals hatten über die letzten Jahre immer wieder diese Obsession mit Hybrid-Verteidigern. So richtig los ging das mit Deonne Bucannon, der an der Speerspitze der "ein Safety, der Linebacker spielt"-Welle vor einigen Jahren stand.
Haason Reddick war das bisher vermutlich prominenteste Beispiel, ein Hybrid-Linebacker, bei dem Arizona mehrere Jahre brauchte, ehe man merkte, dass Reddicks beste Rolle einfach die eines Edge-Rushers ist. Ohne Hybrid-Rolle, dafür stark in Stunts- und Blitz-Designs involviert. Kurz nach seinem Breakout ließen die Cardinals ihn via Free Agency ziehen.
Isaiah Simmons war zu diesem Zeitpunkt bereits im Kader. Dieser ultra-flexible College-Superstar-Verteidiger, der sich bei Clemson einen Namen damit gemacht hatte, dass er zahlreiche Positionen nicht nur mit hoher Frequenz, sondern auch auf einem hohen Level gespielt hatte. Und die große Frage war: Kann er das auch in der NFL? Was genau kann er in der NFL sein?
Simmons sollte zunächst Inside Linebacker spielen, wo er sich erwartungsgemäß schwer tat. Ein Spieler, der im College das Spiel kaum einmal so nah an der Line of Scrimmage in der Box lesen musste, sollte das plötzlich auf dem NFL-Level machen, wo Offenses nochmal deutlich komplexer und durch die Bank weg schneller und athletischer sind. Das konnte nicht gut gehen.
Isaiah Simmons als warnendes Beispiel?
Im zweiten Jahr stabilisierte er sich etwas, und doch: Inside Linebacker ist nicht seine Paraderolle. Die bisherige Saison legt jedoch auch nahe, dass er im Raum gegen Tight Ends einfach nicht die Short-Area-Quickness hat, um hier standzuhalten. Auch wenn Defensive Coordinator Vance Joseph nach einem desolaten Auftritt in Woche 1 gegen die Chiefs nochmal nahelegte, dass Simmons für diese Rolle gedraftet wurde.
Doch was genau ist dann Simmons' ideale Rolle? Slot-Corner ist es noch weniger als diese Tight-End-Matchup-Position. Womöglich eher die eines tieferen Safeties, der vor allem als Blitzer in die Box gezogen wird? Sehen wir Simmons womöglich auch als Edge-Rusher, parallel zur Transformation von Reddick? Hätte seine Karriere eine andere Entwicklung eingeschlagen, hätte man Simmons direkt als Safety tiefer im Raum eingesetzt? Und kann er so oder so überhaupt der Spieler sein, um den herum man eine NFL-Defense aufbaut?
Die Idee, dass Simmons eine Art "Derwin James Plus" werden kann, scheitert schlicht und ergreifend daran, dass er nicht die Agilität hat, um in der NFL primär in der Box zu covern. Gegen die Raiders wurde er prompt zum Backup degradiert, und Ezekiel Turner versuchte sich daran, Darren Waller in der Red Zone zu covern. "Natürlich" war es dann Simmons, der den finalen, spielentscheidenden Fumble forcierte.
Doch wie viele dieser Hybrid-Spieler können in der NFL wirklich einen defensiven Gameplan prägen, weil sie je nach Matchup mehrere verschiedene Rollen auf einem hohen Level bekleiden können?
Allzu viele fallen mir hier nicht ein, und das wiederum ist eine weitere symptomatische Beobachtung bezüglich des Roster Buildings der Cardinals: Die permanente Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau und das hohe Picken von Outlier-Prospects, statt intensiv auf Premium-Positionen wie Edge-Rusher und Corner zu gehen, hat eine Defense entstehen lassen, die genauso auf der Suche nach einer klaren Identität ist wie mehrere einzelne Bestandteile innerhalb der Defense.
Und das ist ein Sinnbild dafür, wo das Roster-Management und in Teilen auch das Coaching diesen Kader hingeführt hat: Zu einem Team, das seinen Quarterback gefunden hat, das einige gute Spieler hat - doch dessen individuelle Teile viel zu häufig nebeneinander und nicht miteinander arbeiten.