Als Roger Federer im letzten Jahr das Australian-Open-Halbfinale gegen Novak Djokovic verlor, da hatte er noch längst nicht den schlimmsten Moment seiner Dienstreise auf den Roten Kontinent erlebt. Einen Tag später, noch in Melbourne, wollte Federer seinen beiden Zwillingstöchtern gerade das Badewasser einlassen, da schoss ihm bei einer unglücklichen Bewegung der Schmerz ins Knie. Es war der Moment, der ihn eine ganze Saison kostete.
Federers gerissener Meniskus wurde operiert, er versuchte danach ein Comeback, aber er kam nie richtig auf die Beine und in Schwung. Nur sieben Turniere spielte er 2016, und als er in Wimbledon im Halbfinale ausschied, gegen Milos Raonic, beendete er kurzerhand die Saison. Die "Seuchensaison", wie Federer sie später nannte.
"Das hätte ich nicht mal in meinen wildesten Träumen erwartet"
Es war keine Koketterie, kein Understatement, auch keine Irreführung seiner Gegner, als Federer vor den Grand-Slam-Festspielen 2017 in Melbourne sagte, er sei schon froh, "wenn ich zwei, drei Spiele gewinne und ein bisschen Matchpraxis kriege." Was ihm dann blühen sollte, der vielleicht sensationellste Grand-Slam-Siegeszug seiner sowieso schon außerordentlichen Karriere, kam ihm immer noch "absolut surreal" vor, als er am Donnerstagabend auf dem Centre Court stand - er, der gefeierte, umjubelte, stolze erste Finalist dieses Turniers. Der 7:5, 6:3, 1:6, 4:6, 6:3-Gewinner im mitreißenden Schweizer Duell gegen Stan Wawrinka. "Ganz ehrlich, das hätte ich nicht mal in meinen wildesten Träumen erwartet", sagte Federer in der Rod Laver Arena, "es ist schwer zu begreifen."
Doch es waren keine alternativen Fakten, keine Fake News - es war die nackte Wahrheit, dass der 35-jährige "Maestro" ausgerechnet in einem Moment, als niemand auf ihn als möglichen Titel-Helden gesetzt hatte, er selbst eingeschlossen, nun die Chance auf den langersehnten 18. Majorpokal besitzt. Nur noch einer kann Federer dieses aus einem Alptraum geborene Traumcomeback letztlich verderben - der Sieger des zweiten Halbfinals zwischen dem mallorquinischen Fighter Rafael Nadal und dem eleganten Bulgaren Grigor Dimitrov.
Tatsächlich war so nicht auszuschließen, dass die Retrowelle bei diesem verrückten Grand-Slam-Festival noch einen finalen Höhepunkt erlebte, mit einer Neuaufführung eines Klassikers eher aus dem letzten Jahrzehnt, mit dem ewiggrünen Zweikampf zwischen Federer und Nadal. "Ich werde im Finale auf jeden Fall alles geben und auf dem Platz lassen", kündigte Federer bereits markig an, "auch wenn ich danach fünf Monate nicht mehr laufen kann."
Federer dreht die Zeit zurück
Knapp anderthalb Jahrzehnte lang war Federer zu jedem Grand-Slam-Turnier in der Rolle des haushohen Favoriten oder chancenreichen Mitbewerbers um den Hauptpreis gefahren - selbst noch in den späten Jahren seiner Karriere, selbst dann noch, als schon Kollegen wie Djokovic oder Murray die engste Führungsriege bildeten. Und ausgerechnet in einem Moment, da er als ähnlich großer Außenseiter wie in seinen Lehrjahren im Wanderzirkus ins Australian-Open-Rennen ging, als aktuelle Nummer 17 der Weltrangliste, landete er den persönlich größten Überraschungscoup seines Lebens.
Mission Impossible? Scheinbar nicht für Federer, der mit Wawrinka schon den dritten Top-Ten-Spieler mit spielerischem Glanz und kämpferischer Leidenschaft auf die Heimreise schickte. Zuvor hatte er bei seiner Rückkehranstrengung bereits den Tschechen Tomas Berdych und den Japaner Kei Nishikori abserviert. "Dass alles so schnell so gut geht, stand nicht in meinem Drehbuch", schüttelte Federer hinterher den Kopf.
Federer war eine der triumphalen Erscheinungen bei einer Grand-Slam-Show, bei der die Ü30-Spieler die Zeit zurückdrehten. Die Kroatin Lucic-Baroni, beide ins Finale vorgepreschten Williams-Schwestern, der vom Maestro geschlagene Landsmann Wawrinka und der mögliche Federer-Finalrivale Nadal - sie alle schrieben bisher ihre eigentümlichen und emotionalen Geschichten.
Und standen doch, blickte man auf die Reaktionen in der Tennisfamilie und auf die Resonanz in der virtuellen Welt des Internets, im Schatten der aktuellen Federer-Saga. "Er war und ist der größte Botschafter unseres Sports", sagte der ehemalige Weltranglisten-Erste Mats Wilander (Schweden), "ich glaube, niemandem gönnt man diese Siege mehr als Roger." Einfach "sensationell" sei Federers Melbourne-Lauf, bemerkte TV-Experte Boris Becker: "Er ist auf und neben dem Platz der Spieler mit dem absoluten Sympathiefaktor. Ich freue mich für ihn."
Halbfinalfluch durchbrochen
Melbourne als Bühne dieses jähen Aufschwungs, heraus aus aller Ungewissheit und den Frustrationen der Vorsaison? Es war, in vielerlei Beziehung, ein Grand-Slam-Hammer und -Kracher. Ein Volltreffer fast aus dem Nichts. Denn über den Australian Open lag schon eine Art Fluch über Federer, keineswegs nur wegen des familiären "Ausrutschers" mit Verletzungsfolge im vergangenen Januar. Fünfmal hintereinander hatte Federer zuletzt jedes Mal verloren, wenn er das Halbfinale erreichte - Murray, Djokovic oder Nadal vermiesten ihm immer wieder den Sprung ins Endspiel.
Und nun dies, der schwer erkämpfte, unvermutete Sieg gegen den langjährigen Freund und Weggefährten Wawrinka, ein 185-Minuten-Thriller, eine Achterbahnfahrt mit 2:0-Satzführung, ein Nervenspiel nach 2:2-Ausgleich. Und ein Happy End im prickelnden Entscheidungsakt, in dem zunächst Wawrinka die größeren Möglichkeiten besaß. Aber der dann Federer, zum 19. Mal in nunmehr 22 Vergleichen, den Vortritt lassen musste. "Ich habe mir einfach gesagt: Lass die Schläge vom Racket fliegen, gib' Gas", sagte Federer später. Typisch "Maestro" halt.
Die Australian Open im Überblick